In den Bundestag ist der Antrag, den Straftatbestand der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB abzuschaffen, nun eingebracht. Das wird höchste Zeit, denn die Norm steht nicht im Einklang mit EU-Recht, meint Jörg Gerkrath.
Am 24. November 2017 verurteilte das Gießener Amtsgericht die Ärztin Dr. Kristina Hänel zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro wegen Verstoßes gegen § 219a Strafgesetzbuch (StGB). Im Falle einer Berufung wäre es sinnvoll, die EU-Rechtskonformität dieser Bestimmung überprüfen zu lassen und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen.
Der höchst umstrittene § 219a verbietet bekanntlich, mit wenigen Ausnahmen, Werbung für den ärztlichen Schwangerschaftsabbruch zu betreiben. Darunter versteht diese Bestimmung insbesondere öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (...) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise (...) eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs anzubieten, anzukündigen, anzupreisen oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntzugeben.
Das Verbot von "Werbung" ist im Grunde mit einem umfassenden Informationsverbot gleichgesetzt. Der Tatbestand dieses "Werbeverbots" wurde in der Strafrechtsreform im Mai 1933 auf dem Hintergrund der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik eingeführt. Sein Fortbestehen ist allein schon deswegen zu verurteilen.
Darüber hinaus verstößt die Bestimmung aber auch gegen die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EUAV) und gegen deren Charta der Grundrechte (EU-GrCh) – und damit gegen vorrangiges EU-Recht – sowie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
Schwangerschaftsabbruch als Dienstleistung
Wann die Dienstleistungsfreiheit – eine der Grundfreiheiten des EU-Rechts – betroffen ist, hat der EuGH längst klargestellt: Es bedarf dazu eines grenzüberschreitenden Sachverhalts, nicht aber schon eines konkreten Kunden. Denn der freie Dienstleistungsverkehr würde "illusorisch, wenn nationale Regelungen das Anbieten von Dienstleistungen" nach Belieben behindern könnten (Urt. v. 10.05.1995, Az. C-384/93).
Zwar gibt es die Ausnahme der "rein internen Sachverhalte", also solcher, deren sämtliche Merkmale "nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen". Das greift allerdings nicht im Fall des § 219a. Bereits wenn Interesse eines EU-Bürgers besteht, sich nieder zu lassen, beispielsweise als Arzt in Deutschland, liegt kein rein interner Sachverhalt mehr vor (EuGH, Urt. v. 15.11.2016, Az. C 268/15). Dasselbe gilt natürlich für in Deutschland niedergelassene Ärzte mit Patient(inn)en aus anderen EU-Mitgliedstaaten.
Die Regelung über die Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 EUAV verbietet sämtliche "Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union". Wie der EuGH wiederholt entschieden hat, kann sich auch ein Leistungserbringer gegenüber dem Staat, in dem er ansässig ist, auf dieses Recht berufen, sofern die Leistungen an Leistungsempfänger erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind (Urt. v. 11.07.2002 Az. C-60/00).
Also können sich Ärzte gegenüber der Bundesregierung auf ihre Dienstleistungsfreiheit berufen, wenn sie in Deutschland über Schwangerschaftsabbrüche im Ausland informieren. Denn der EuGH hat bereits entschieden, dass "der ärztliche Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Staates vorgenommen wird, in dem er stattfindet, eine Dienstleistung im Sinne von Art. 56 EUAV darstellt" (Urt. v. 04.10.1991, Az. C-159/90).
2/2: Legitimes Ziel und angemessenes Verhältnis ...
Somit wird unverkennbar: § 219a StGB stellt eine Beschränkung der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit dar und behindert damit eine Grundfreiheit des EU-Rechts. Derartige Beschränkungen sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGHs prinzipiell verboten, es sei denn, sie sind durch Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt, geeignet diese zu erreichen und gehen nicht über die Maßnahmen hinaus, die zur Erreichung des Ziels notwendig sind.
Im Fall der Gießener Ärztin könnte die Bundesregierung verschiedene Rechtfertigungen durch Gründe des Allgemeininteresses vorbringen – doch auch dann sind die Grundrechte der EU-GRCh zu beachten, insbesondere die Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit nach Art. 11 der GRCh iVm Art. 10 EMRK.
Eine Beschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit ist nach Art. 10 Abs. 2 EMRK wiederum nur möglich, sofern Ziele des Allgemeininteresses diese rechtfertigen, sie gesetzlich vorgesehen sind, einem oder mehreren nach Art. 10 EMRK legitimen Zielen entsprechen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Letzteres erfordert, dass die Beschränkungen durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt sind und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Ziel stehen.
Dabei sei, so hat es der EuGH bereits entschieden, der Entscheidungsspielraum, über den die zuständigen Stellen bei der Abwägung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und den oben genannten Zielen verfügen, "je nach dem Ziel, das eine Beschränkung dieses Rechts rechtfertigt, und je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht, unterschiedlich".
... oder Schutz der öffentlichen Ordnung?
Auch die Möglichkeit der Bundesregierung, sich nach Art. 62 EUAV iVm Art. 52 EUAV auf die Ausnahme der öffentlichen Ordnung zu berufen, würde im Ergebnis scheitern. Zwar können nach dieser Regelung beschränkende Rechts- und Verwaltungsvorschriften "aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt" sein, selbst wenn sie "eine Sonderregelung für Ausländer vorsehen" - was ja hier nicht einmal der Fall ist.
Eine Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung ist allerdings nur möglich, "wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt", wobei die rechtfertigenden, konkreten Umstände nach dem EuGH "von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein" können (Urt. v. 14.10.2004, Az. C-36/02). Den innerstaatlichen Behörden ist also ein Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den EG Vertrag gesetzten Grenzen zuzubilligen. Auch die über dieses Ausnahmerecht geschaffenen Regelungen sind allerdings eng auszulegen und können gerichtlich nachgeprüft werden – durch den EuGH.
Umfassende Kontrolle des Informationsverbotes
Da die Dienstleistungsfreiheit durch §219a beschränkt wird, müssen auch die Grundrechte der EU-GrCh beachtet werden, insbesondere die Meinungs- und Informationsfreiheit. Trägt die Ausübung der Meinungsfreiheit nichts zu einer Debatte von allgemeinem Interesse bei und erfolgt sie darüber hinaus in einem Kontext, in dem die Staaten einen gewissen Entscheidungsspielraum haben, beschränkt sich die Kontrolle auf die Prüfung, ob der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht. Dies gilt "namentlich für den Gebrauch der Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr, besonders in einem Bereich, der so komplex und wandelbar ist wie die Werbung" (Urt. v. 25.03.2004, Az. C-71/02).
Im Fall des § 219a StGB handelt es sich aber nicht nur um ein Verbot von Werbung, sondern um ein weit umfassenderes Informationsverbot. Somit würde der EuGH im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 EUAV auch eine umfassendere Kontrolle ausüben.
Und dabei die Frage stellen und beantworten, ob ein umfassendes Informationsverbot zum ärztlichen Schwangerschaftsabbruch geeignet ist, die Ziele des Allgemeininteresses auch zu erreichen.
Verbot in Irland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in der Sache "Open Door and Dublin Well Woman gegen Irland" (Urt. v. 29.10.1992, deutscher Text in EuGRZ 1992, 484 ff.) bereits entschieden, dass das irische Informationsverbot zur Möglichkeit, Schwangerschaftsabbrüche im Ausland vorzunehmen, den Proportionalitätstest verfehlt und somit gegen Art. 10 EMRK verstößt.
Dieser Ansicht würde sich der EuGH sicherlich anschließen, was den deutschen § 219a StGB und das darin enthaltene weitreichende Informationsverbot angeht. Die Folge wäre, dass die Norm im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr nicht mehr angewandt werden darf. Daher wäre es rechtspolitisch wohl wünschenswert, die Norm vorher abzuschaffen.
Der Autor Prof. Dr. Jörg Gerkrath ist Professor für Europarecht an der Universität Luxemburg.
Prof. Dr. Jörg Gerkrath , Werbung für den ärztlichen Schwangerschaftsabbruch: § 219a StGB und diese Sache mit Europa . In: Legal Tribune Online, 08.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25917/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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