Der VW-Aufsichtsrat hat angekündigt, der Hauptversammlung die Entlastung des Vorstands für das Geschäftsjahr 2015 vorzuschlagen. Ein konsequenter Schritt, meint Stefan Heutz, trotz der noch offenen Fragen.
Seit Monaten stehen VW und der Vorstand wegen der Diesel-Affäre in der Kritik. Dennoch hat der VW-Aufsichtsrat angekündigt, der Hauptversammlung die Entlastung des Vorstands für 2015 vorzuschlagen. Auf den ersten Blick scheint es, als ignorierten die obersten Aufseher des Konzerns die wahrscheinlich größte Krise des Automobilriesen der vergangenen Jahre. Ist das in der aktuellen Situation der richtige Weg?
Egal, wie die Entscheidung ausfällt: Das Aktiengesetz (AktG) schreibt in § 120 Abs. 1 S. 1 vor, dass die Hauptversammlung alljährlich in den ersten acht Monaten des Geschäftsjahrs über die Entlastung der Vorstandsmitglieder beschließen muss. Es führt also grundsätzlich kein Weg daran vorbei, sich zu positionieren: Die Aktionäre beschließen entweder, die Vorstandsmitglieder zu entlasten oder ihnen die Entlastung zu verweigern.
Davon absehen können sie nur ausnahmsweise, wenn ernsthafte Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit des Vorstandshandelns bestehen und zur Klärung dieser Zweifel (noch) keine ausreichenden Informationen vorliegen. In diesem Fall kann die Entscheidung vertagt werden. Gänzlich entfallen darf der Beschluss indes nicht.
Was die Entlastung bedeutet – und was nicht
Mit der Entlastung wird die Verwaltung der Gesellschaft gebilligt (§ 120 Abs. 2 S. 1 AktG). Die entlasteten Vorstandsmitglieder erhalten somit Rückhalt für ihre Unternehmensführung aus den Reihen der Gesellschafter. Mit einer Verweigerung würde die Hauptversammlung zum Ausdruck bringen, dass sie die Amtsführung der nicht entlasteten Vorstandsmitglieder der Aktiengesellschaft missbilligt.
Eine darüber hinausgehende Folge haben die Entlastung des Vorstands oder ihre Verweigerung allerdings zunächst nicht. Das ist bei einer GmbH anders. Dort bewirkt die Entlastung regelmäßig einen Verzicht auf etwaige Ansprüche der Gesellschaft gegen ihre Geschäftsführer. Bei Aktiengesellschaften ist ein solcher Anspruchsverzicht hingegen gesetzlich ausdrücklich ausgeschlossen (§ 120 Abs. 2 S. 2 AktG). Der Weg, etwaige Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern geltend zu machen, wird durch eine Entlastung also nicht versperrt.
Würde die Entlastung verweigert, hätte auch dies keine unmittelbaren Folgen für die Mitglieder des Vorstands. Sie blieben unverändert im Amt und würden nicht etwa abberufen. Die Kompetenz dazu hätte die Hauptversammlung ohnehin nicht, sie liegt vielmehr bei der Aktiengesellschaft ausschließlich in der Hand des Aufsichtsrats. Der wäre, auch wenn die Hauptversammlung das Handeln des Vorstands missbilligen, diesen also nicht entlasten würde, nicht gezwungen, die betreffenden Mitglieder des Vorstands abzuberufen. Dazu müsste vielmehr ein wichtiger Grund vorliegen, den die Verweigerung der Entlastung allein gerade nicht darstellt.
2/2: Warum der Aufsichtsrat die Entlastung empfahl
Besteht ernsthaft Anlass zu der Annahme, dass ein Vorstand in Erfüllung seiner Aufgaben gegen Pflichten verstoßen hat, die ihm gegenüber der Gesellschaft obliegen, so ist der Aufsichtsrat nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich verpflichtet, die potentiellen Pflichtverstöße aufzuklären und etwaige Schadensersatzansprüche gegen den Vorstand geltend zu machen.
Ob der Vorstand von VW Pflichten verletzt hat, ist nach den derzeit öffentlich zugänglichen Informationen ungewiss und offenbar Gegenstand weiterer Untersuchungen. Demnach lässt der Aufsichtsrat der Volkswagen AG prüfen, ob Anhaltspunkte für etwaige Pflichtverletzungen des Vorstands bestehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urt. v. 21.04.1997, Az. II ZR 175/95 – ARAG ./. Garmenbeck) ist der Aufsichtsrat dazu verpflichtet, mögliches Fehlverhalten der Vorstandsmitglieder der Aktiengesellschaft aufzuklären.
In dieser Situation, in der die Aufklärung der Angelegenheit offensichtlich noch nicht abgeschlossen ist, hatte das Kontrollgremium grundsätzlich drei Möglichkeiten: Der Aufsichtsrat hätte zum einen vorschlagen können, die Entscheidung über die Entlastung zu verschieben, bis alle relevanten Informationen vorliegen. Zum anderen konnte er empfehlen, für oder eben gegen die Entlastung zu stimmen. Nun hat das Kontrollgremium angekündigt, der Hauptversammlung die Entlastung der Vorstandsmitglieder zu empfehlen.
Das Vorschlagsrecht des Aufsichtsrats ist in dieser Lage ein Instrument, um sich von einem Vorstand zu distanzieren oder sich demonstrativ hinter ihn zu stellen. Mit seiner Empfehlung für eine Entlastung bestätigt der Aufsichtsrat der Volkswagen AG die bisherige Linie der Unternehmenskommunikation, wonach die Vorstandsmitglieder nicht in die sogenannte „Diesel-Affäre“ involviert waren, sie insbesondere keine Kenntnis von den inzwischen eingestandenen Manipulationen hatten. Er stärkt damit sowohl gegenüber den Aktionären als auch gegenüber der Öffentlichkeit seinem Vorstand den Rücken. Eine Verschiebung der Entscheidung oder gar eine Empfehlung zur Verweigerung der Entlastung hätten diesen Standpunkt hingegen konterkariert.
Wie die Hauptversammlung auf den Beschlussvorschlag reagieren kann
Die Hauptversammlung ist nicht an die Beschlussvorschläge der Verwaltung gebunden, sie könnte die Entlastung also auch entgegen ihrer Empfehlung verweigern. Realistisch ist dieses Szenario allerdings nicht. In der überwiegenden Zahl der Fälle folgt die Aktionärsversammlung dem Beschlussvorschlag. Die Aktionäre dürften auch bei bestehenden Restzweifeln – etwa weil die Aufklärung der Angelegenheit noch nicht abgeschlossen ist – für die Entlastung stimmen. Dies liegt in ihrem Ermessen.
In einer Situation, in der das Unternehmen darum kämpft, seinen guten Ruf zurückzugewinnen, ist der Vorschlag des Aufsichtsrats nachvollziehbar. Hätte er eine Verschiebung der Abstimmung oder gar die Verweigerung der Entlastung vorgeschlagen, so würde dies beträchtliche Zweifel am Handeln der Vorstandsmitglieder zum Ausdruck bringen. Damit würde er die Position des Vorstands ganz erheblich schwächen. Über kurz oder lang wäre der Austausch sämtlicher im damaligen Zeitraum aktiven Vorstandsmitglieder unvermeidlich geworden.
Einen solchen Weg würde man im Allgemeinen nur beschreiten, wenn man über stichhaltige Belege für ein Missverhaltens der Vorstandsmitglieder verfügte. Dass der Aufsichtsrat sich für den Schulterschluss mit dem Vorstand entschieden hat, könnte man als Anzeichen dafür werten, dass solche stichhaltigen Beweise nicht vorliegen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Aktionäre dem Standpunkt des Aufsichtsrats anschließen.
Der Autor Dr. Stefan Heutz ist Rechtsanwalt und Partner bei der Essener Wirtschaftskanzlei Kümmerlein Rechtsanwälte & Notareund Experte für Gesellschaftsrecht.
Dr. Stefan Heutz, Nach der Abgasaffäre: Entlastung des VW-Vorstands: Business as usual . In: Legal Tribune Online, 01.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19509/ (abgerufen am: 08.06.2023 )
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