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Todesstrafe in England: Als Rechts­po­li­tiker noch vom Ent­schärfen träumten

von Martin Rath

14.06.2020

Galgen

Aliaksandr Marko - stock.adobe.com

Gut 120 Jahre benötigte der britische Gesetzgeber von einer ersten empirischen Erhebung zur Todesstrafe bis zu ihrer vorläufigen Abschaffung.

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Im Jahr 1930 notierte Kurt Tucholsky (1890–1935) das böse Wort, die deutsche Revolution habe wegen schlechter Witterung in der Musik stattgefunden.

Das war etwas ungerecht, wie unter anderem der Blick in die "Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslands" des Jahres 1850 beweist: Sie fand auch in der Wissenschaft statt.

Im Jahr zuvor war hierzulande die politische Revolution zwar daran gescheitert, dass nur einige kleinere deutsche Teilstaaten bereit gewesen waren, die Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849 anzunehmen. Auf dem Gebiet der Wissenschaft wurde jedoch bis auf Weiteres unverdrossen daran gearbeitet, Ziele der liberalen Revolution mit der Macht des besseren Arguments vorwärtszubringen.

Hatte etwa § 139 der Paulskirchenverfassung die Todesstrafe außerhalb des Kriegs- und Seerechts zusammen mit Pranger, Brandmarkung und körperlicher Züchtigung abschaffen wollen, galt es jetzt – wenn schon die Verfassung fehlte und viele Parlamentarier der Nationalversammlung von den Regierungen ihrer Staaten des Mandats beraubt worden waren – sich publizistisch am progressiven Ausland zu orientieren.

Briten begannen, Unsinn der Todesstrafe zu diskutieren

In der "Kritischen Zeitschrift" setzten sich der Heidelberger Strafrechtsprofessor Carl Joseph Anton Mittermaier (1787–1867) und der frisch promovierte Heinrich Marquardsen (1826–1897), alsbald Professor in Erlangen, – beide auch bedeutende Figuren der (national-) liberalen Bewegung – ausführlich mit der britischen Diskussion zur Todesstrafe auseinander.

Dort war sie in den späten 1840er Jahren aus einer Mischung moralischer wie fachlicher Gründe politisch ins Gerede gekommen.

Am 14. November 1849 veröffentlichte etwa die "Times" einen Leserbrief des bereits weltberühmten Schriftstellers Charles Dickens (1812–1870), in dem er seine Empörung über die Umstände der öffentlichen Hinrichtung der Eheleute Frederick und Marie Manning tags zuvor äußerte. Der Londoner Pöbel, auch Prostituierte darunter, habe die Nacht hindurch beim Galgen an der Horsemonger Lane gefeiert. Auf Mrs. Manning, eine gebürtige Schweizerin, sei "Oh! Susanna", nach Dickens' Ansicht ein "Negerlied" – eigentlich ein rassistischer amerikanischer Mistrel-Song – umgedichtet worden. Für die beiden in den Morgenstunden öffentlich Gehenkten habe in dieser Jahrmarktsstimmung kaum jemand das angemessene christliche Mitgefühl aufbringen können.

Lange bevor Dickens seine Stimme gegen die Verletzung der moralischen Standards eines viktorianischen Ehrenmanns erhob – dem Missstand wurde 1868 abgeholfen, indem Hinrichtungen seither hinter den Gefängnismauern erfolgten – hatte sich eine Kommission des House of Lords seit 1847 daran gemacht, eine "grosse Zahl erfahrungsreicher Männer" zum Sinn der Todesstrafe zu befragen, deren Erkenntnisse Mittermaier referierte.

Nahezu alles, was in den darauffolgenden anderthalb Jahrhunderten an Argumenten zur Sache vorgetragen wurde, fand sich hier bereits.

Dammbruchängste versus Humanität und Fortschritt

So zitiert Mittermaier die Stellungnahme eines britischen Juristen namens Adams, "seit 35 Jahren als Advokat, später als Richter in Strafsachen thätig", der dem im Eifer des Gefechts agierenden Straftäter absprach, überhaupt das gesetzliche Strafmaß bei seiner Tat zu berücksichtigen:

"Die abschreckende Kraft der Strafen käme überhaupt bei einem grossen Theil der Verbrecher nicht in Betrachtung, weil diese die Strafen als einen mit ihrer Beschäftigung verbundenen Wechselfall ansehen, ebenso wie der Soldat die Aussicht, in der Schlacht erschossen zu werden, oder der Arzt die Ansteckung während einer ansteckenden Krankheit ansieht." – Eine nüchtern-sachliche Einsicht, die zu beherzigen heutige Einlassungen zur Wirksamkeit von Strafandrohungen deutlich weniger ermüdend unbedarft bzw. spielerisch reaktionär gestalten würden.

Ebenfalls bereits in der kriminologischen Neuzeit angekommen erklärte Alexander Maconochie (1787–1860), der sich als Kommandeur einer australischen Strafkolonie gegen den zähen Widerstand seines Personals um eine Humanisierung des Justizvollzugs bemüht hatte, "dass nach seiner Erfahrung die Menschen, welche mit Verübung eines Verbrechens sich beschäftigen, mehr auf die Wechselfälle der Entdeckung, als an die Strafdrohungen denken. Die Einführung einer kräftigen, für die Entdeckung des Verbrechens besorgten Polizei würde mehr den Verbrechen vorbeugen, als der Schrecken der Strafe."

Charles Law (1792–1850), als Unterhausabgeordneter für die Universität Cambridge offenbar mit etwas mehr Gefühl dafür ausgestattet, wie der Wind politisch weht, führte hingegen mit dem Dammbruch- ein Argument an, das bis heute zum eisernen Bestand konservativer Rhetorik gehört: Nach Aufhebung der Todesstrafe für Fälschung und Vergewaltigung sei eine Steigerung dieser Verbrechen zu befürchten "und die Aufhebung auch bei dem Morde [halte er] für höchst gefährlich, wenn der Räuber oder gefährliche Dieb wüsste, dass ihn keine höhere Strafe treffen könnte, wenn er auch einem Menschen tödtet".

Vom Leiter des Gefängnisses von Lancaster (1833–1862), einem James Hansbrow, wurde das etwas unwuchtige Gegenargument angeführt, er habe beobachtet, wie das Aussprechen der Todesstrafe im Gerichtssaal "immer grosse Erschütterung" hervorgebracht habe. Einer seiner Kollegen erklärte in eigenartiger Psychologie des Affekts, "dass ihm viele ganz rohe, leidenschaftliche Menschen vorgekommen seien, die nur durch die Furcht vor Todesstrafe vom schweren Verbrechen abgehalten wurden".

Über diese dichte Beschreibung der britischen Diskussion der Jahre nach 1847 hinaus berichtete auch Heinrich Marquardsen, der frischgebackene Doktor beider Rechte, von einer Forschungsreise nach Großbritannien ausführlich – beides motivierte C.J.A. Mittermaier zur verhalten optimistischen Prognose:

"Wir wollen nach den bisherigen Mittheilungen nicht behaupten, dass eine völlige Aufhebung der Todesstrafe durch das Gesetz in England in nächster Zeit erfolgen wird; gewiss aber ist, dass, wenn der Antrag auf Aufhebung wieder in das Parlament gebracht wird, die Minorität der Freunde der Aufhebung gross sein und immer wachsen wird, bis sie die Mehrheit wird."

Nach Mittermaiers Auffassung – er machte sich selbst für eine allgemeine deutsche Schwurgerichtbarkeit stark – sollte hierzu beitragen, dass die britischen Geschworenen, nicht zuletzt nach der skandalösen öffentlichen Hinrichtung der Eheleute Manning, immer seltener bereit sein würden, Angeklagte für schuldig zu erklären, wenn dann – abgesehen von der Möglichkeit der Begnadigung – zwingend eine Todesstrafe folgte, deren Sinn immer weniger einzusehen sei.

1965–1970: Kampf darum, dass es beim Ende der Todesstrafe bleibt

Trotz der schönsten liberalen Hoffnungen des Jahres 1850 sollte es noch über ein Jahrhundert dauern, bis in Großbritannien (ohne Nordirland) die Todesstrafe mit dem "The Murder (Abolition of Death Penalty) Act 1965" für fünf Jahre ausgesetzt wurde.

Zu verdanken hatte das Königreich diesen Fortschritt in hohem Maße der hartnäckigen Kampagnenarbeit des Labour-Abgeordneten Sydney Silverman (1895–1968), der als Sohn armer jüdischer Emigranten aus Rumänien und mehrfach wegen Kriegsdienstverweigerung im Ersten Weltkrieg zu Gefängnisstrafen verurteilter Mann ein hinreichend widerständiger Kopf war – in einem ersten Anlauf hatte er 1949 im House of Commons eine Mehrheit zur Abschaffung der Todesstrafe zusammenbekommen, scheiterte aber am House of Lords.

1965 kam eine Mehrheit für die bis zum 31. Juli 1970 befristete Aussetzung der Todesstrafe zustande, abgesehen von Hochverrat, schwerer Piraterie, Brandstiftung auf königlichen Werften, Spionage und militärischen Delikten.

Gegen die dauerhafte Abschaffung – mit den genannten Ausnahmen, die erst 1998 beseitigt wurden – bestand bis 1969 eine schwer zu überwindende Opposition. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel zitierte in spöttischer Absicht aus "The Spectator": "Hängen ist unser Nationalsport. Dafür verzichten wir auf den Stierkampf."

Tatsächlich erzielte 1969 in Silvermans Wahlkreis der Onkel eines Opfers zweier Mehrfachmörder als unabhängiger Kandidat mit dem programmatischen Ziel, der britischen Justiz das Hängen zu erhalten, einen Achtungserfolg. Das House of Lords mochte, gut 120 Jahre nach seiner Enquête zur Todesstrafe, die weitgehende Abschaffung doch wenigstens noch einige Jahre hinauszögern – stimmte dann aber 1969 für die Vorlage des Unterhauses, nachdem Edward Heath (1916–2003), der Führer der konservativen Partei, trotz des 1970 anstehenden Wahlkampfs mit der Labourfraktion stimmte – übrigens nicht zu seinem politischen Schaden.

Was die Briten solange aufgehalten hatte, nach dem Aufbruch in den späten 1840er Jahren, der doch so optimistisch gewesen war, dass auch liberale deutsche Strafrechtsprofessoren ihre Hoffnungen aufs britische Vorbild setzten, ist nicht bis ins letzte geklärt. Womöglich hatte – eine gute Frage, in der sich die "Postcolonial Studies"-Gefolgschaft nützlich machen könnten, statt weiße alte Männer zu dämonisieren – die als faire Justiz verbrämte Gewalterfahrung aus dem expandierten britischen Imperiums ins sogenannte Mutterland zurückgewirkt.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.

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Todesstrafe in England: . In: Legal Tribune Online, 14.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41885 (abgerufen am: 19.05.2025 )

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