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Buchrezension: Sind Ver­b­re­chen bloß Zufall­s­pro­dukte?

von Martin Rath

14.08.2016

Frau zuckt mit den Schultern

© DDRockstar - Fotolia.com

Schuldstrafrecht, daran glaubten nur Staatsanwälte und Kindergärtnerinnen, behaupten freche Strafverteidiger. Aber was ist die Alternative? Zur Suche nach Schuld und Schicksal im Buch von Michael Scheele. Eine Rezension von Martin Rath.

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Verbrechen als Zufallsprodukte?

Der Handwerker des Mittelalters sei mit ebenso ruhigem Herzen an den Foltertürmen seiner Stadt vorbei gelaufen, schrieb einmal der niederländische Kriminologe und Jurist Herman Thomas Bianchi (1924–2015), wie der Angestellte des 20. Jahrhunderts auf seinem Fahrrad an den Mauern der modernen Justizvollzugsanstalt entlang fahre.

Mit seinem Buch "Schuld oder Schicksal? Hirnforscher, Psychologen und Humangenetiker zweifeln an der Entscheidungsfreiheit des Menschen" macht der Münchener Rechtsanwalt Michael Scheele (1948–) den Versuch, die Bürger des 21. Jahrhunderts anzuregen, über die Grundlagen und Leistungen der Strafjustiz in der modernen Gesellschaft nachzudenken.

In den vergangenen rund 40 Jahren nährten die neurobiologische Wissenschaft vom menschlichen Gehirn und die Erkenntnisse zum Einfluss genetischer und epigenetischer Faktoren sowie schließlich eine naturwissenschaftlich exakt arbeitende psychologische Forschung eine Diskussion, die über Jahrhunderte hinweg allein theologischer und philosophischer Spekulation ausgeliefert war: die Auseinandersetzung darüber, ob der Mensch einen freien Willen habe.

Wer ist schon Herr des eigenen Hirns?

Michael Scheele präsentiert zu der Frage, ob und wie weit der Mensch Herr im eigenen Hirn ist, einen bunten Strauß wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse, die insbesondere den Freundinnen und Freunden der Strafjustiz zu denken geben könnten.

Beispielsweise widmet sich Scheele, als Strafverteidiger vermutlich insoweit stark fasziniert, recht ausführlich dem Problem der Zeugenaussage. Wissenschaftlich gut belegt ist, dass unter anderem Sinnestäuschungen, falsche Erinnerungen oder die Leidenschaft des Menschen, sich selbst in einem günstigen Licht zu sehen sowie die Neigung zum Abbau kognitiver Dissonanz den Zeugen zum extrem unzuverlässigen Beweismittel machen. Im positiven Recht spiegelt sich diese Einsicht leider nur dezent wider.

Nicht nur wie weit, sondern auch, ob der Mensch überhaupt frei sei - diese Diskussion wurde von dem schier unendlich oft zitierten Experiment Benjamin Libets aus dem Jahr 1979 angeregt. Libet hatte gezeigt, dass ein physisches Handlungspotenzial früher entstehe als die dazu gehörige Gehirnaktivität.
Scheele bewertet das Ergebnis kritisch, vertritt aber die Ansicht, dass die Strafjustiz sich durch die seit Libet aufgerührten, beunruhigenden Fragen nach der Willensfreiheit doch in ihren Selbstgewissheiten stärker beunruhigen lassen sollte, als es in ihren Routinen zu erkennen sei.

Was ist denn schon "Schuld"?

Die wichtigste dieser Selbstgewissheiten führt einen ehrwürdigen Namen: das Schuldprinzip. Doch gemessen daran, dass es die Schuld ist, die das strafrechtliche Handeln des deutschen Staates zugleich rechtfertigen wie auch begrenzen soll, wird das juristisch ungebildete Publikum bekanntlich mit außerordentlich leeren Formeln abgespeist.

Scheele führt das pathetische Zitat des Bundesgerichtshofs von 1952 an: "Strafe setzt Schuld voraus, Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können."

Im Jahr 1952 mochte diese pathetische Formulierung sich als Abgrenzung vom vulgärdarwinistischen Wahn rechtfertigen, von dem sich die deutsche Justiz erst sieben Jahre zuvor von alliierten Truppen befreien lassen musste. Heute indiziert eine Tautologie vom Typ "Schuld ist Vorwerfbarkeit" eher, dass man nicht weiß, wie man den sogenannten staatlichen Strafanspruch besser begründen und begrenzen kann.

Macht nur Selbstbetroffenheit sensibel?

Der 1948 geborene Jurist Michael Scheele hat sich hingegen, wie er erzählt, als Kind und Heranwachsender mit einer sehr altbackenen katholischen Lehre von der Erbsünde auseinandersetzen müssen (der Ruhestandspapst Benedikt ist dagegen ein fast postmoderner Hallodri), seine Zwillingsschwester tötete sich in jungen Jahren selbst, geschädigt durch ein schweres seelisches Trauma.

Scheele bekennt sich zu einer Angststörung, die ihn sensibel für ein eigenes Tun gemacht hat, das er nicht als von seinem Willen gesteuert erkennen kann.

Es läge vor dem biografischen Hintergrund nicht fern, dem deutschen Strafrechtsdogmatiker mit seinem tautologischen Pathos des strafbegründenden und -beschränkenden Schuldprinzips mit der klassischen Einrede aus Hans Christian Andersens "Des Kaisers neue Kleider" zu begegnen: "Aber er hat ja nichts an!"

"Mein Hirn ist Schuld – nicht ich!"

2/2: Verteidigung mit Schicksal ist etwas albern

Warum Scheele nicht frontal mit dem Schuldprinzip ins Gericht geht, mag – neben der unbefriedigenden rechtswissenschaftlichen Diskussion zum freien Willen – mit einem Problem zu tun haben, das der Rezensent der Kürze wegen etwas kalauerhaft skizzieren möchte:

Sagt der Angeklagte zum Richter: "Obwohl ich den objektiven Tatbestand nicht bestreite und auch gerne glaube, dass ich nach §§ 20, 21 Strafgesetzbuch voll schuldfähig war, hat die theologische, philosophische sowie neurobiologische Beweisführung ergeben: Weder zum Zeitpunkt der Tat noch jetzt hatte und habe ich einen freien Willen. Sie können mich die Zufälle meines Gehirns nicht haftbar machen."

Antwortet der Richter: "Diese Beweisführung scheint mir wirklich sehr plausibel. Sicher wird es Sie trösten: Wenn ich Sie nun verurteile, was ich beabsichtige, tue ich das auch nicht aus freiem Willen, sondern weil mein Richterhirn neurobiologisch nun einmal darauf trainiert ist, einen Angeklagten bei Vorliegen dieses objektiven Tatbestands zu verurteilen, solange mir kein Gutachter erklärt, dass dieser zum Tatzeitpunkt ganz absonderlich gestört war – wir hätten uns die Beweisaufnahme mit Philosophen und Quanten-Hexen also auch sparen können."

Schuldprinzip: Kakao für Strafrechtsunterworfene

Wie diese etwas kalauernde Anekdote vielleicht belegt: Es gibt keinen geraden Weg von der Einsicht in die universale Unterworfenheit des Menschen unter ein dem Willen entzogenes Schicksal hin zur strafrechtlichen Entschuldigung im Einzelfall. Richter sind keine Götter, ihr Gehirn ist prinzipiell ebenso determiniert wie das der justizunterworfenen Bürger.

Scheele schlägt diesen kurzen Schluss nicht vor, wenngleich seine Belege für die relative Unfreiheit und Zufallsgebundenheit des Menschen womöglich verführen, ihn selbst zu ziehen. Was Scheele allerdings – in einer Form, die sich unterhaltsam und eingängig liest – nahelegt, ist der Gedanke: Man möge die strafrechtliche Schuld nicht mehr als jenen Kakao sehen, durch den sich der Delinquent möglichst reuig selbst zu ziehen habe, eher als das Lametta, mit dem sich eine – statistisch betrachtet – höchst ungerechte Strafjustiz gelegentlich schmückt.

Fast-Exit-Schuldproblem: Restorative Justice

Scheele plädiert denn nicht für ein Ende des staatlichen Strafens – haltlos wäre dies schon wegen der biologisch belegten Lust des Menschen an Rache –, sondern für eine "Restorative Justice", die Täter, Tatgeschädigte und Staat in einer "allseitigen Anstrengung zur Wiedergutmachung oder gar Verbesserung der Lebensumstände" zusammenbinden möchte.

Solch poetischen Gedanken voran gehen handfestere Überlegungen: Lässt sich, von einem harten Kern wirklich gefährlicher Menschen abgesehen, die von den Insassen deutscher Gefängnisse aufgebrachte Lebenszeit nicht gesellschaftlich sinnvoller verwenden? Beispielsweise ist bereits der elektronisch gefesselte Hausarrest nützlicher als die JVA, weil er das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Ersttätern und Gewohnheitsverbrechern verhindert.

Was spräche dagegen, wollte das Land Berlin seinen staatlichen Strafanspruch gegenüber kiffenden Schwarzfahrern dadurch befriedigen, dass es sie auf dem Fahrrad nach Brandenburg fahren lässt, wo sie den polnischen Spargelstechern und Erdbeerpflückerinnen gemeinnützig das geschundene Kreuz massieren müssten?

Straflustige intellektuell in Bewegung setzen

Es wäre ja schon erfreulich, ginge die pure Lust am Strafen auch wieder etwas zurück.

Der Bundesminister für Verbraucherschutz und Justiz möchte steuer- oder unterhaltssäumigen Autofahrern den Führerschein entziehen? Warum kommt eigentlich nicht auch nur einer unserer großartigen Rechtspolitiker wenigstens während der Saure-Gurken-Zeit auf den Gedanken, dass es umgekehrt sinnvoll sein könnte, auf Geschwindigkeitsverstöße im Straßenverkehr mit einer Prüfung der Einkommen- und/oder Umsatzsteuererklärungen des Fahrers zu reagieren – weil sich risikofreudiges Verhalten selten auf ein Handlungsareal beschränkt?

Mit der Idee, dass sich Rechtspolitik statt an straflustiger Demoskopie lieber an zweckrationaler Psychologie orientieren sollte, sind wir freilich ein wenig vom bescheidenen Versuch abgekommen, die Freundinnen und Freunde des Strafrechts auf Herman Thomas Bianchis rechtshistorisches Fahrrad zu setzen. Lesen und zweifeln Sie selbst:

Michael Scheele: "Schuld oder Schicksal? Hirnforscher, Psychologen und Humangenetiker zweifeln an der Entscheidungsfähigkeit des Menschen". München (Verlag Komplett Media) 2016, 268 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8312-0439-7.

Tipp: Weitergehende Überlegungen zur "Krise des staatlichen Strafanspruchs" finden sich in: Klaus Lüderssen: "Abschaffen des Strafens?". Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1995, 428 Seiten, ISBN 978-3-5181-1914-3.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

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Martin Rath, Buchrezension: Sind Verbrechen bloß Zufallsprodukte? . In: Legal Tribune Online, 14.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20286/ (abgerufen am: 25.03.2023 )

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