Otto von Bismarck gilt als Vorreiter der Sozialgesetzgebung. Weniger bekannt ist, dass die Impulse dazu von seinem Vize kamen. André Niedostadek und Olesya Herfurth erinnern an den Juristen aus dem Harz, der vor 120 Jahren starb.
Montag, 20. Juni 1881. Für Otto zu Stolberg-Wernigerode, den Vizekanzler des Deutschen Reichs, ist es der letzte Arbeitstag. Nach gut drei Jahren im Amt wirft der 43jährige Verwaltungsjurist das Handtuch. Das Verhältnis zwischen dem Reichskanzler Otto von Bismarck und seinem vom ihm lange protegierten Stellvertreter gilt schon seit einiger Zeit als angespannt. Über die Motive des Rücktritts lässt sich trefflich spekulieren: Sind es wirklich allein die inhaltlichen Differenzen und Bismarcks mangelnder Rückhalt, die Stolberg in seinen Lebenserinnerungen beklagt? Immerhin gehen auch andere Gerüchte um: Der 22 Jahre jüngere Stolberg, so heißt es, säge am Stuhl des Kanzlers. Oder hat der "Eiserne Kanzler" dieses Gerücht womöglich selbst lanciert?
Otto zu Stolberg-Wernigerode scheidet jedenfalls aus einem Amt aus, das ihm vermutlich von Anfang an nicht wirklich gelegen kam. Vor allem die politischen Gestaltungsmöglichkeiten hatten sich als recht dürftig erwiesen, beispielsweise bei der Sozialgesetzgebung. Sie wird heute zwar maßgeblich mit Bismarck verknüpft. Der hatte von alledem aber lange Zeit überhaupt nichts wissen wollen und so manche Initiativen geblockt – auch solche seines Vizes.
Steile Karriere eines Verwaltungsjuristen
Otto zu Stolberg-Wernigerode ist Spross eines weitverzweigten Adelshauses, dessen Stammbaum sich bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Vom Harz aus erstreckt sich der Familienbesitz bis nach Hessen, wo Otto am 30. Oktober 1837 als jüngstes von drei Kindern zur Welt kommt. Er ist noch keine vier Jahre alt, als die Familie einen doppelten Schicksalsschlag verkraften muss: Binnen vier Wochen sterben erst der ältere Bruder Albrecht und dann der Vater.
Nach dem Schulbesuch studiert Otto Rechts- und Verwaltungswissenschaften, zunächst in Göttingen, später in Heidelberg, an einer der ältesten deutschen Universitäten. Anschließend tritt er der preußischen Armee bei. Im August 1863 heiratet er die gleichaltrige Anna Elisabeth Reuß zu Köstritz. Sie ist seine Cousine und wird ihm sieben Kinder schenken.
Als Verwaltungsjurist macht Otto zu Stolberg-Wernigerode schon früh Karriere. Nach der Besetzung des ehemaligen Königreichs Hannover durch Preußen wird er 1867 zum ersten Oberpräsidenten der neuen Provinz Hannover berufen. Dafür vorgeschlagen hat ihn kein geringerer als Otto von Bismarck. Dieses Amt – und damit verbunden die Vertretung der preußischen Krone – gilt für einen Verwaltungsjuristen selbst bereits als Krönung. Dabei ist Stolberg gerade einmal Anfang dreißig und längst noch nicht am Ende seines politischen Aufstiegs. Der gemäßigt konservative Politiker wird im gleichen Jahr auch Mitglied des Norddeutschen Reichstags, zieht später in den deutschen Reichstag ein und steht bis 1877 sieben Jahre lang als Präsident dem Preußischen Herrenhaus vor, der ersten Kammer des preußischen Landtags.
Differenzen mit dem "Eisernen Kanzler"
Dann ein weiterer Wechsel: Stolberg wird neuer Boschafter des Deutschen Reichs in Wien. Der Posten ist brisant und erfordert diplomatisches Gespür. Immerhin gilt es nach der kriegerischen Expansion Preußens und der Reichsgründung außenpolitisch für Ruhe zu sorgen. Stolberg beweist offenbar entsprechendes Talent, hat einen guten Draht zu Kaiser Wilhelm I. und empfiehlt sich so für höhere Weihen: Im Sommer 1878 wird Graf Otto zu Stolberg-Wernigerode wiederum auf Bismarcks Vorschlag dessen Vertreter – und das gleich in doppelter Funktion als Vizekanzler des Deutschen Reichs und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums. Bismarck ist ja Reichskanzler und Ministerpräsident.
Otto das Kind, wie Stolberg von der Presse bisweilen etwas spöttelnd genannt wird, ist nach Bismarck nun im Grunde der zweite Mann im Staat. Seinen Aufstieg soll er allerdings eher widerwillig akzeptiert haben. Das überrascht nicht. Was bringt letztlich eine Stellung, die inhaltlich kaum Möglichkeiten zur Umsetzung eigener Ideen eröffnet? Und wie will man hinter einem Staatsmann vom Format eines Otto von Bismarck eigenes Profil gewinnen?
Hinzu kommen politische Differenzen. Stolberg kann sich zwar mit Bismarcks außenpolitischen Ambitionen grundsätzlich arrangieren. Die innenpolitischen Entwicklungen, vor allem das repressive Vorgehen gegen Sozialdemokraten durch Bismarck, der gegen die "vaterlandslosen Gesellen" mit dem "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" zu Felde zieht, hält er aber schon vor seiner Ernennung für zu kurz gegriffen. Man möge doch prüfen, so schreibt Stolberg noch am Tag vor der Amtsübernahme als stellvertretender Ministerpräsident, ob unter solchen Umständen überhaupt noch Wert auf seinen Eintritt gelegt werde. Zustimmen wird er den Gesetzen letztlich doch.
2/2: Die soziale Frage
Anders als Bismarck hält Stolberg mit Blick auf die aufkommende Industrieblüte zudem sozialpolitische Reformen für geboten. Das Thema ist ihm durchaus vertraut. Während seiner Zeit als Oberpräsident hatte sein langjähriger Mitarbeiter Julius Robert Bosse (der später zeitweise der Kommission zum Bürgerlichen Gesetzbuch vorstehen wird) bereits eine Stellungnahme zur sozialpolitischen Reformaufgabe der Regierung verfasst. Darin finden sich manche Anregungen, angefangen von der Reform der Gesindeordnung über das Strafgesetzbuch bis hin zur Einrichtung von Arbeiterhilfskassen.
Politisch verpuffen diese ersten Ansätze zwar weitgehend. Stolberg ist aber immerhin so konsequent, als Unternehmer diese Ideen in der eigenen Grafschaft umzusetzen. Dort entstehen bereits 1873 zunächst eine Kranken- und eine Pensionskasse, etwas später auch eine erste Unfallversicherung. Die Rente, so wird es später mal heißen, sei das Verdienst eines Politikers aus Wernigerode.
Nun bringt Bismarcks Vize diese Themen erneut aufs Tablet. Es geht darum, wie er schreibt, das Vertrauen der Arbeiterschaft zu Regierung, zu den Arbeitgebern und zu den besitzenden Klassen zu erfüllen. Ihn treiben also nicht zuletzt (macht-)politische Überlegungen an. Der Kanzler lässt seine Vorschläge allerdings abblitzen. Nachdem Stolberg aus Bismarcks Sicht auch noch dessen krankheitsbedingte Abwesenheit nutzt, um seine eigene politische Agenda voranzutreiben, wird er vom Kanzler kaltgestellt. Stolberg bittet nun mehrfach um Entlassung aus seinen Staatsämtern, seine Stellung sei ihm „unerträglich“ geworden. Nach anfänglichem Zögern entsprechen Kanzler und Kaiser seinem Gesuch schließlich im Juni 1881.
Stolbergs Ideen wirken nach
Stolberg ist schon seit zwei Jahren nicht mehr im Amt, als Bismarck selbst kurioserweise eine Wende vollzieht und 1883/84 zunächst die Reichsgesetze über die Kranken- und Unfallversicherung auf den Weg bringt, denen 1889 dann die zur Alters- und Invalidenversorgung folgen. Zwar beruhen auch diese Gesetze weniger auf sozialen Überlegungen als vielmehr auf politischem Kalkül. Dennoch sind es europaweit erste Vorstöße zu einer Sozialgesetzgebung und damit Meilensteine, die letztlich auf Stolbergs Initiativen und Vorarbeiten aufbauen. Überraschend kommt auch das nicht, war doch Stolbergs ehemaliger Mitarbeiter Julius Robert Bosse, inzwischen Leiter der sozialpolitischen Abteilung des Reichsamts des Inneren, wieder maßgeblich an alledem beteiligt. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Stolberg dazu knapp und wohl nicht ganz ohne Genugtuung: "Die Gesetzgebung des Reichs folgte meinem Vorschlage".
Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Vizekanzlers engagiert Stolberg sich weiterhin politisch und übernimmt ehrenamtliche Aufgaben. Zugleich kümmert er sich um die wirtschaftliche Entwicklung der Grafschaft. 1890 verleiht ihm Kaiser Wilhelm II. den Fürstentitel. Am 19. November 1896 stirbt der Politiker, Unternehmer und Diplomat mit 59 Jahren auf dem Familiensitz, Schloss Wernigerode.
Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M. lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz mit Standorten in Halberstadt und Wernigerode. Sie können ihm auf Twitter folgen.
Olesya Herfurth ist öffentlich bestellte Übersetzerin und Lehrbeauftragte an der Hochschule Harz, Wernigerode. Sie führt zudem Besichtigungen auf Schloss Wernigerode durch.
André Niedostadek, Otto Graf und Fürst zu Stolberg-Wernigerode: Pionier des Sozialrechts . In: Legal Tribune Online, 19.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21202/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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