Als Preis für den Aufsatzwettbewerb der Bundeswehr hatte ein Offizier im Sommer 1970 das Buch eines damals in Deutschland berühmten Informatikers erhalten – und ging aus Sorge um die Neutralität der Truppenführung juristisch dagegen vor.
Im August 1970 erhielten 166 Offiziere der Bundeswehr als Lohn für ihre Teilnahme an einem Aufsatzwettbewerb des Generalinspekteurs ein Exemplar des Buches "Programm 2000" ausgehändigt. Einer der ausgezeichneten Bundeswehroffiziere schloss die Lektüre schon am Sonntag, 6. September 1970, ab – und zog zwei Tage später auf den juristischen Kriegspfad.
Während als Prämie in dem seit 1959 vom Generalinspekteur der Bundeswehr ausgeschriebenen Wettbewerb "Winterarbeiten" in den Jahren zuvor gefällige Werke fürs bildungsbürgerliche Regal an den Mann gebracht worden waren – etwa die "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" des Schweizer Historikers Jacob Burckhardt (1818–1897) oder die "Kleine Kunstgeschichte" von Hans Weigert (1896–1967) – war 1970 die Wahl auf ein Buch des Bestseller-Autors Karl Steinbuch (1917–2005) gefallen.
Der Informatiker Steinbuch war seinerzeit einer der bekanntesten Köpfe der deutschen Wissenschaft und darf als begnadeter Vordenker der Digitalisierung im Allgemeinen und der neuronalen Netze im Besonderen gelten.
Außerhalb der Technischen Hochschule Karlsruhe – heute: Karlsruher Institut für Technologie – ist dieser damals als Zukunftsforscher recht populäre Gelehrte sehr gründlich in Vergessenheit geraten. Damit taugt der Vorgang nicht nur zur Fußnote im Recht der staatlichen Neutralitätspflicht in Weltanschauungsfragen, sondern auch dazu, ein Stück Sozialgeschichte der alten Bundesrepublik der 1960er bis 1980er Jahre in Erinnerung zu bringen.
Ein lesender Offizier stört sich an gemutmaßter SPD/FDP-Propaganda
Unverzüglich nach absolvierter Lektüre von Karl Steinbuchs Werk "Programm 2000" beschwerte sich der Offizier, dass das Buch den "Verdacht versteckter Parteipropaganda" wecke, die insbesondere nach § 15 Abs. 4 Soldatengesetz (SG) untersagt sei: "Ein Soldat darf als Vorgesetzter seine Untergebenen nicht für oder gegen eine politische Meinung beeinflussen."
Dabei führte der Offizier an, dass sich der Bundesminister der Verteidigung durch die Verbreitung dieses Buchs in einer Weise parteipolitisch äußere, die ihm – würde er selbst in seiner Funktion als Vorgesetzter von Soldaten so handeln – zweifellos disziplinarrechtliche Probleme bereiten würde. Die Äußerungen des Buchs verstand der Offizier nämlich als unzulässige propagandistische Bemühungen der Bundeswehrführung unter dem SPD-Minister und späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015).
Konkret störte er sich etwa an Steinbuchs Erklärung, dass eine unter den CDU-angehörigen Bundeskanzlern Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt herrschende Planlosigkeit "im wirtschaftlichen Bereich durch Karl Schiller" überwunden worden sei – also durch den für seine Sozialplanungsfantasien bekannten SPD-Wirtschafts- und Finanzminister –, "die Modernisierung des Strafrechts" sei erst "durch eine Gruppe fortschrittlicher Juristen (W. Maihofer) unter Gustav Heinemann und Horst Ehmcke [sic]" in Gang gekommen. Lobenswert seien auch "die Ansätze Georg Lebers, unseren Straßenverkehr privatem Egoismus zu entziehen".
Neben dem Lob auf einzelne Minister der seit 1969 amtierenden SPD/FDP-Bundesregierung sah Informatikprofessor Steinbuch den Umbruch in der Bundesrepublik insgesamt sonnig: "An die neue Bundesregierung heften sich unsere Hoffnungen. Willy Brandt verkündet ein Programm innerer Reformen. Wir sollten ihm helfen, es darf keine Rückkehr in eine Ära konservativer Immobilität geben."
Wehrdienstsenat prüft die Sorgen des Offiziers
Die Beschwerde wurde nach § 21 Wehrdisziplinarordnung dem 1. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts – statt dem Truppendienstgericht – zugeleitet, weil sie sich gegen eine mutmaßliche "Entscheidung" oder "dienstliche Maßnahme" des Bundesverteidigungsministers selbst richtete.
Der Senat entschied durch Beschluss vom 29. Mai 1973 (Az. I WB 23/71), dass der Antrag des Offiziers zwar zulässig sei, denn der Minister fand in der Zulässigkeitsprüfung bei den Richtern keine Gegenliebe für sein Argument, er habe für die Auswahl der Buchprämie eine unabhängige Kommission aus drei Offizieren und drei wissenschaftlichen Mitarbeitern dreier Führungs- und Wissenschaftsabteilungen des Bundesverteidigungsministeriums eingesetzt. Er habe im Grunde nicht selbst entschieden.
Das konnte die Unzulässigkeit des Antrags unter anderem deshalb nicht begründen, weil der Wettbewerb "Winterarbeiten" mit dem Hinweis ausgelobt worden war, dass die Offiziere durch die eingereichten Aufsätze ihre intellektuelle Regsamkeit beweisen und dienstlich günstig beurteilt werden könnten.
Doch hielt das Gericht den Antrag für unbegründet, unter anderem weil das Werk von Informatikprofessor Steinbuch sich zwar wiederholt in ungünstiger Weise zu seinen Themen einlasse wie den "Bildungsnotstand, z.T. ohne inneren Zusammenhang verquickt … mit parteipolitischer Polemik gegen frühere Bundesregierungen und gegen Oppositionspolitiker, die früheren Bundesregierungen angehörten".
Diese potenziell parteipolitisch zu wertende Polemik beschränke sich aber auf das erste Kapitel. Die übrigen sieben Kapitel enthielten – wie der Offizier selbst eingeräumt habe – sachlich brauchbare Darstellungen zur Zukunft von Technik und Gesellschaft.
In der Summe sei das Buch also nicht als Versuch zu lesen, parteipropagandistisch auf untergebene Soldaten einzuwirken.
Hätten sich lesende Soldaten andere Sorgen machen sollen?
Von der juristischen Seite bietet der Fall also bloß Stoff zu einer Fußnote im bis heute anhaltenden Streit um die Grenzen, die sich Dienststellen der vollziehenden Gewalt in parteipolitischen oder weltanschaulichen Dingen auferlegen müssen.
Mit Blick auf die politischen Einstellungen von Steinbuch – der hier in den Augen eines Bundeswehroffiziers unzulässig als Sprachrohr einer SPD/FDP-Parteipolitik in der Bundeswehr gedient hatte – gewinnt der Fall jedoch auch noch einen fast komischen Zug.
Der mit seinem Werdegang gut vertraute, am Karlsruher Institut für Technologie lehrende Historiker Rolf-Ulrich Kunze (1969–) nannte den Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik sarrazinesk berühmten Professor Steinbuch scherzhaft "einen Helmut Schmidt der Informatik". Steinbuch verdiene es nur unter anderem, als Vordenker der sogenannten Digitalisierung gewürdigt zu werden: Mit seinem schon in den 1960er Jahren vorgelegten Konzept der "Lernmatrix" zählt er beispielsweise zu den Gründungsvätern der "Künstlichen Intelligenz".
Als Vertreter der unter dem Namen Futurologie gehandelten Publizistik hatte Steinbuch jedoch darüber hinaus interessante Ideen zu den sozialen Folgen des digitalen Wandels geäußert. 1971 sagte er etwa anlässlich einer neu gestarteten, auf rund 15 Jahre projektierten Neuausgabe von "Meyers Lexikon" – einem Flaggschiff unter den prächtigen Enzyklopädien im Regal bürgerlicher Haushalte – voraus, der Mensch der Zukunft werde "seinen Wissensbedarf per Telephon von Datenbanken zapfen". Damit sei circa ab 1990 zu rechnen, also kaum dass die gerade neu begonnene "Meyers"-Ausgabe mit ihrem letzten Band fertig sein würde.
Bereits Ende der 1960er Jahre erklärte Steinbuch, wohin die Entwicklung der damals noch klobigen, Magnetbänder verarbeitenden Computer in nur wenigen Jahrzehnten führen werde: zu omnipräsenten mobilen Endgeräten für die Sprach-, Text- und Bildkommunikation in der Größe einer Taschenuhr, zu Deutsch: in Gestalt von Smartphones.
Offizier irrte, erkannte aber einen radikalen Kopf
Das kesse Wort des Historikers Kunze vom "Helmut Schmidt der Informatik" war nun nicht – wie der Bundeswehroffizier gemutmaßt hätte – auf parteipolitische Vorlieben Steinbuchs zurückzuführen, sondern auf einen in der deutschen Gesellschaft einst hoch angesehenen Menschentyp: eines Ingenieurs oder Fachwissenschaftlers, der mit der Kraft seiner erlesenen Vernunft jedes Problem so tief erschließen kann, dass Widerrede von hergelaufenem Volk – vom vorlauten Bürger über den beinah stets unqualifizierten Journalisten bis hin zum linksradikalen Nachwuchs-Akademiker – eigentlich gar keinen Sinn mehr ergibt.
Zu Lebzeiten Helmut Schmidts war die Resterinnerung an derart unhinterfragt herrschende, rationale (Sozial-) Ingenieure erhalten geblieben – konzentriert im alten Scherz des Kabarettisten Matthias Beltz (1945–2002), Schmidt habe bei der Sturmflut von 1962 nur an die Gestade der Nordsee treten müssen, um ihr den Rückzug zu befehlen.
Ein Beispiel für Steinbuchs technokratische Perspektive gibt es, dass er die polytechnische und die Schulbildung in der SED-Diktatur für vorbildlich erklärte – in einer Zeit, als CDU und CSU bereits in der Gesamtschule ein sozialistisches Teufelswerk sahen.
Was die überlegene wissenschaftlich-technische Vernunft erkannt hatte, sollte der Staat exekutieren. An diesem Maßstab Steinbuchs scheiterten die zwischen 1969 und 1982 tätigen SPD/FDP-Bundesregierungen jedoch. Der Karlsruher Professor liebäugelte kurz mit CDU und CSU, fand seinen Ort dann aber in der rechtsradikalen Publizistik und den einschlägigen Stiftungen, mit denen die beiden Unionsparteien während der 1970er und 1980er Jahre – in oft etwas verquerer Logik – dafür sorgen wollten, dass rechts von ihnen keine politische Konkurrenz aufkomme.
Für die Kommunikationsinfrastruktur, die heute dem Taschenuhr-Computer dient, hätte Steinbuch vermutlich den Bundespostminister in der Verantwortung gesehen – der dann freilich lieber antiquierte Kupfer- statt moderner Glasfaserkabel legen ließ. Ein digitaler Brockhaus, der nicht von berufenen Wissenschaftlern, sondern von schwarmfischigen Wikipedia-Herrschaften geschrieben wird, wäre diesem Gelehrten zuwider gewesen – Rationalität musste von oben kommen.
Kurz: Der lesende Soldat hatte einen radikalen Kopf entdeckt, ihn aber fälschlich in die nur parteipolitische Schublade gelegt.
Martin Rath, Neutralitätspflicht des Staates: . In: Legal Tribune Online, 06.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42711 (abgerufen am: 12.10.2024 )
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