Historische Prozesse: Als Schwören noch geholfen hätte

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Am 26. Dezember 1825 kam es in Russland zu Unruhen, weil eine wild romantische, liberale und ultranationalistische Gruppe dem neuen Zaren den Eid verweigerte. Ein hässlicher politischer Schauprozess schloss sich an.
Am 13. Juli 1826, gut ein halbes Jahr nach dem romantisch verblendeten, nationalistisch und zugleich liberal inspirierten Versuch, in der politischen Ordnung des russischen Reiches irgendetwas zum Besseren zu bewegen, und nach einem politischen Prozess, der auch nach damaligen juristischen Maßstäben obszön war, kam es auf dem Hof der Festung von St. Petersburg zu zwei hässlichen Ritualen der russischen Rechtspflege.
Über 100 ehemalige Offiziere, regelmäßig Herrschaften von Adel, wurden vor den Kameraden ihrer früheren Einheiten zum Niederknien genötigt, über ihren Köpfen wurde ihr Degen zerbrochen, man riss die Rangabzeichen von der Uniform. Nach dem öffentlichen Entkleiden hatten sie Häftlingskleidung anzulegen. Es folgte die Verbannung nach Sibirien, also ein mörderischer Fußmarsch in Ketten. Alle Rechte des Adels und der Bürgerschaft wurden ihnen aberkannt. Die Häftlinge verloren ihre Frauen, soweit diese sich nicht entschlossen, ebenfalls unter Verlust aller Rechte (einschließlich jenem, in den europäischen Teil Russlands zurückzukehren), dem entehrten Gatten nach Sibirien zu folgen.
Vierteilung im gemeinsamen europäischen Strafrecht
Fünf der Verschwörer vom 26. Dezember 1825 blieb dieses Ritual ebenso erspart wie der Fußmarsch nach Sibirien. Im Juni 1826 hatte ein 72-köpfiger Sondergerichtshof über diese fünf Angeklagten das Todesurteil ausgesprochen. Es lautete auf Strecken und Vierteilen, der herkömmlichen und in Europa weit verbreiteten Sanktion für Hochverrat, also für Angriffe auf die Person des Herrschers. Immerhin war der Zar, der diese Urteile contra legem vorgegeben hatte, dann doch so gnädig, den Vollzug auf Erhängen abzumildern.
Einer hartnäckigen Legende zufolge soll einer der Delinquenten, Michael Murajew-Apostol, ausgerufen haben: "Was für ein erbärmliches Land. Man kann hier nicht einmal ordentlich gehenkt werden." Anlass zu dieser Justizkritik: Bei drei der Verurteilten hatte sich beim ersten Tötungsversuch der Strick als zu schwach erwiesen, sodass die Hinrichtung einige Zeit später wiederholt werden musste.
Hunderte einfache Soldaten, die am 26. Dezember den Befehlen ihrer verurteilten Aufrührer gefolgt waren, wurden ohne viel juristisches Federlesens zu bis zu 12.000 Peitschenhieben, zur Verbannung nach Sibirien oder zum mörderischen Kriegseinsatz an der kaukasischen Front des expandierenden Zarenreichs verurteilt. Damit war die Revolte an ihrem blutigen Ende angelangt.
Romantischer Liberalismus mit mörderischen Schrullen
Unter der Herrschaft von Zar Alexander I. (1777-1825, im Amt seit 1801) waren infolge der napoleonischen Kriege gar nicht wenige russische Offiziere im westlichen Ausland herumgekommen. Auch die Lektüre der verfassungspolitischen Schriften von Montesquieu und das Studium der soeben in Kraft getretenen, äußerst modernen US-amerikanischen Verfassung weckten in den Köpfen der überwiegend blutjungen russischen Offiziere aus zumeist adeligen Familien die Idee, dass derlei auch Väterchen Russland gut zu Gesicht stünde.
Bloß wusste man nicht, wie das zu bewerkstelligen sei.
Anders als etwa das revolutionäre Frankreich von 1789 kannte der Zarenstaat keine wirklich vermittelnden Instanzen, keine Generalstände, die sich eigenmächtig zur Nationalversammlung hätten erklären können. Die relative Gewalten- oder jedenfalls Funktionsteilung von Legislative, Exekutive und Judikative, die in den europäischen Staaten zumindest rudimentär ausgeprägt war, fehlte. Beispielsweise mischte sich selbst ein so unangenehmer König wie Friedrich II. von Preußen nur selten allzu direkt in die laufenden Geschäfte seiner Justiz ein. Davon konnte man in Russland nur träumen.
Politisch unbedarft von sanften Verfassungen träumen
Genau darauf verlegte sich das geheimbündlerische Netzwerk der jungen Aufrührer: auf das Träumen.
Gleich mehrere, mal eher liberal, mal eher national und idealistisch-vorsozialistisch akzentuierte Verfassungsentwürfe machten die Runde. An eine machtpolitische Realität anknüpfen konnte, so das historische Urteil, keiner. Einer der russischen Möchtegern-Verfassungsväter fand neben seinen staatsrechtlichen Studien Zeit, eine neue Uniform der künftigen Armee zu entwerfen – endlich etwas bequemer im Schritt, das war sein Ziel.
Doch für die "Dekabristen", zu Deutsch "Dezembristen", benannt nach ihrem kurzen öffentlichen Auftritt im Dezember 1825, hatte die liberale Idee vom Verfassungsstaat eine sehr aufreizende Wirkung. Der Geheimbundgenosse Alexander Bestuschew (1797-1837) "bediente sich, wenn er neue Verschwörer für den Geheimbund zu gewinnen versuchte, beständig und ziemlich skrupellos des zum Mythos gewordenen Verfassungsbegriffs", beschrieb der Osteuropahistoriker Adam B. Ulam (1922-2000) die Methode: "Allein schon das Wort ‚Verfassung‘ stellte für viele von ihnen [die jungen Intellektuellen] eine Art Zauberformel dar, einen Fetisch, der für sich allein schon in der Lage sein würde, Rußland … sanft in ein Zeitalter der Freiheit und des Wohlstands gleiten zu lassen."
Wie man es anstellen sollte, dass sie in die Welt träte, diese erträumte Verfassung, wusste man aber immer noch nicht.
2/2: Wenn der Zar stirbt, könnte es etwas werden
Über einen echten Attentatsversuch mochten die meisten der Dekabristen nicht nachdenken, zu einem reifen Staatsstreich oder Putsch fehlte auch der Antrieb, hatten diverse Palastrevolten innerhalb der Zarenfamilie bisher doch stets nur einen jeweils neuen Alleinherrscher hervorgebracht.
Dass auch der Liberalismus zu einer terroristischen Angelegenheit werden konnte, bewies in jenen Jahren beispielsweise der deutsche Student Karl Ludwig Sand (1795-1820), der 1819 den harmlosen Seifenoper-Bühnenschriftsteller August von Kotzebue ermordet hatte, wegen dessen Nebenerwerb als russischer Konsul. Das liberale Deutschland erklärte den mörderischen Studenten nach seiner Hinrichtung zum Märtyrer und erging sich in einer derart vor Kitsch triefenden Verehrung, dass religiöse Mordgesellen sich neidisch die Bärte raufen müssten, wüssten sie um die deutsche Verfassungsgeschichte. Terrorismus im Namen von Liberalismus und Nation war also durchaus in Mode.
Der Plan der Dekabristen, wie Russland zu einer Verfassung kommen könne, mutet indes nicht weniger schrullig an als die Motive des Kotzebue-Mörders: Sobald ein neuer Zar vor dem Amtsantritt stünde, würde man ihm den Eid verweigern, bis der Thronfolger sich bereitfände, dem Zarenreich eine Verfassung zu geben.
Man hoffte, bis dahin noch viel Zeit zu haben, Zar Alexander war zum Zeitpunkt der ersten konspirativen Treffen ein Mann in den Dreißigern. Doch starb der Fürst im Jahr 1825 gerade einmal 47-jährig eines natürlichen Todes.
So ging die Organisation der Eidverweigerung am 26. Dezember 1825, gedacht als Ausgangspunkt einer modernen russischen Verfassungsentwicklung nach liberalem europäischen und US-amerikanischen Vorbild, gründlich zugrunde. Der neue Zar, Nikolaus I., Bruder Alexanders I., konnte sich sogar persönlich mit seinen Truppen den aufständischen Offizieren und den rund 3.000 Soldaten entgegenstellen, ohne dass auf ihn geschossen worden wäre – wiewohl er in vorderster Front ritt.
Hierzulande wird manchmal die Lenin-Phrase zitiert, dass der Deutsche, wenn er zu Revolutionszwecken einen Bahnhof stürmen wolle, zunächst eine Bahnsteigkarte kaufte. Der bekannte russische Staatsterrorist der Jahre 1917–1924 saß beim revolutionären Witzereißen offenbar Steine werfend im Glashaus.
Liberalismus als ausländisches Agententum
Es folgte dem 26. Dezember 1825 ein Blutgericht an den eher harmlosen Aufrührern und jenen Soldaten, die nicht recht wussten, welch naiven Laienverschwörern sie sich angeschlossen hatten.
Die Untersuchungsbeamten erforschten, welche westlichen Bücher und Gedanken den Aufruhr verursacht haben könnten. Immerhin begründeten sie damit ein bis heute fortlebendes Prinzip der russischen Rechtspflege im Bereich des politischen Strafrechts. Der Zar rief einen 72-köpfigen Sondergerichtshof ein, der allerdings nicht über Schuld und Unschuld der Angeklagten zu entscheiden hatte, sondern allein über das Maß der Schuld und die Höhe der Strafe.
Als geistiges Erbe der Zarinnen des 18. Jahrhunderts, begeisterter Leserinnen von Denkern der Aufklärung, Briefpartnerinnen Voltaires und Diderots, sah das russische Strafrecht seinerzeit keine direkte Todesstrafe vor – das indirekte Töten durch Körperstrafen und unzumutbare Haftbedingungen waren damals wie heute der an sich bevorzugte Weg. Zar Nikolaus gab, contra legem, aber die Todesstrafe für die Hauptangeklagten vor.
Ein gerechter Richter
Berufen wurden die 72 Sonderrichter aus dem Kreis der teils aufgeklärten und liberalen Oberschicht. Durch die Mitwirkung an diesem Schauprozess unter Ausschluss der Gerichtsöffentlichkeit konnten, ja mussten sie ihre Loyalität für den neuen Herren Russlands unter Beweis stellen. Einer der Richter, der 72-jährige Admiral und Spitzenbeamte Nikolai S. Mordwinow (1754-1845), verweigerte sich dem unwürdigen Gerichtsritual, er unterzeichnete die Todesurteile wider das Gesetz nicht.
Ein gerechter Richter unter 72, für einen extrem gewalttätigen Staat war das keine schlechte Zahl.
Anmerkung: Der 26. Dezember 1825 unseres gregorianischen Kalenders war der 14. Dezember der bis 1917 in Russland gebräuchlichen julianischen Rechnung. Man mag daher über Daten streiten.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.