Der Stuttgarter FDLR-Prozess geht mit Schuldsprüchen zu Ende. Hat das Völkerstrafrecht gesiegt? Außerdem in der Presseschau: kein Schadensersatz für Love-Parade-Feuerwehrmann und in der Abgas-Affäre wird die Staatsanwaltschaft aktiv.
Thema des Tages
OLG Stuttgart zu FDLR-Funktionären: Nach vier Jahren mit insgesamt 320 Verhandlungstagen ist vor dem Oberlandesgericht Stuttgart das erste Verfahren nach dem 2002 in Kraft getretenen Völkerstrafgesetzbuch mit einem Schuldspruch gegen beide Angeklagte beendet worden. Die Strafe des Hauptangeklagten Ignace Murwanashyaka lautete 13 Jahre Haft wegen Rädelsführerschaft und Beihilfe zu vier Kriegsverbrechen, der ebenfalls verurteilte Straton Musoni muss wegen Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung für acht Jahre in Haft. Verfahrensgegenständlich waren Massaker der FDLR in der Demokratischen Republik Kongo, zu denen die Verurteilten von Deutschland aus beigetragen haben sollen.
Der Vorsitzende Richter leitete die Urteilsbegründung mit den Worten "so geht es nicht" ein, schreibt die FAZ (Rüdiger Soldt). Die Schwierigkeiten einer Wahrheitsfindung bei mehreren Tausend Kilometer entfernten Tatorten gibt auch spiegel.de (Beate Lakotta) ausführlich wieder, einen vergleichbaren Tenor hat der Bericht der SZ (Josef Kelnberger). Nach dem Bericht der taz (Dominic Johnson) hat "einer der teuersten Prozesse der deutschen Rechtsgeschichte ein nicht wirklich stimmiges Urteil gefällt".
Die SZ (Ronen Steinke) erläutert die politischen Gründe für die aktuell fünf internationalen Verfahren zur juristischen Aufarbeitung der Verbrechen in Ruanda. Die aktuelle Regierung des Landes nehme dabei durch ihre Macht, Zugang zu Zeugen verschaffen zu können, aktiven Einfluss auf alle diese Verfahren einschließlich des nun beendeten.
Rechtsanwalt Andreas Schüller fasst für lto.de Entscheidung und Verfahren zusammen. Der Mitarbeiter des ECCHR wertet es trotz aller offenbarer Probleme als großen Erfolg, "dass Kriegsverbrechen vor einem deutschen Oberlandesgericht verhandelt wurden und ein Urteil ergangen ist". Dagegen meint Rechtsanwalt Jan Bockemühl, ebenfalls auf lto.de, dass die "Bewährungsprobe" für das Völkerstrafgesetzbuch "nicht gelungen" sei. Für den bis März 2013 als Verteidiger Musonis tätigen Anwalt ist klar, dass bei reinen Auslandstaten mit Opfern und Zeugen im Ausland das deutsche Strafprozessrecht "keine rechtliche Handhabe für die Durchführung eines nur ansatzweise fairen Verfahrens" bietet. Denn bestehe zwischen der Bundesanwaltschaft und der Verteidigung keine Waffengleichheit, wie der Autor mit zahlreichen Beispielen belegt.
Rechtspolitik
Abschiebungen: Eine Rüge der zuständigen Generaldirektion der EU-Kommission gegen die Bundesrepublik wegen ungenügender Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber nimmt die FAZ (Eckart Lohse) zum Anlass, dass Verfahren bei Abschiebungen einschließlich möglichen Rechtsschutzes zu erläutern. Am kommenden Donnerstag befasse sich der Bundestag mit einer geplanten Gesetzesänderung, nach der Betroffenen der Termin einer Abschiebung vorab nicht mehr mitgeteilt werden solle.
Zwangsvermietung: Auch das Handelsblatt (L. Exuzidis/S. Kersting) berichtet nun zur Absicht verschiedener Kommunen, Flüchtlinge in beschlagnahmten leerstehenden Immobilien unterzubringen. Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD) stehe dem Vorhaben kritisch gegenüber und bevorzuge eine stärkere Ausweisung von Bauland.
Investitionsgerichtshof: Einzelheiten zu dem von der EU im Rahmen der TTIP-Verhandlungen vorgeschlagenen Investitionsgerichtshof erläutert das Handelsblatt (Heike Anger). Einen im Artikel zitierten Experten stört vor allem die vorgesehene Veröffentlichungspflicht für Verhandlungsprotokolle und Schriftsätze der Parteien. Hierdurch würden die Beteiligten unzulässig unter Druck gesetzt.
Kollektivklagen: Dass im Bundesjustizministerium derzeit an der Einführung einer Kollektivklagemöglichkeit für Verbraucher gearbeitet wird, begrüßt Joachim Jahn (FAZ) in einem Kommentar. Eine vergleichbare Regelung im Musterverfahrensgesetz für Kapitalanleger habe sich bewährt. "Unerlässlich" sei es allerdings, "alle im amerikanischen Recht üblichen Folterinstrumente hierzulande auszuschließen", anderenfalls gerieten solche Klagen "zum Vehikel von Erpressung". zeit.de (Marius Elfering/Tilman Steffen) legt dar, wie durch die Abgas-Affäre betroffene VW-Kunden durch das neue Vorhaben Ansprüche durchsetzen könnten.
Insolvenzanfechtungen: Durch eine Änderung der Insolvenzordnung sollen durch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs erleichterte Anfechtungen von Zahlungen durch Insolvenzverwalter zukünftig wieder erschwert werden. Der entsprechende, der FAZ (Joachim Jahn) vorliegende Entwurf des Bundesjustizministeriums sehe hierzu unter anderem vor, dass Bitten des Schuldners nach Zahlungserleichterungen nicht mehr gegen den Gläubiger ausgelegt werden sollen.
Vorratsdatenspeicherung: In einem Gastkommentar für das Handelsblatt schreibt Renate Künast (Grüne), Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, zu ihren "Sorgen" bezüglich der Sicherheit gespeicherter Daten bei der geplanten Vorratsdatenspeicherung. Die Bundesregierung verlange von betroffenen Unternehmen "höchste Flexibilität" bei Zugriffsmöglichkeiten von Behörden. Gleichzeitig überlasse sie den Firmen die Entwicklung rechtssicherer Verfahren und technischer Lösungen. Ohnehin fraglich sei, ob das "Abschreiben der verfassungsgerichtlichen Vorgaben von 2010 jetzt noch für ein verfassungskonformes Gesetzes" bürge.
Mordparagraph: Die taz (Christian Rath) befragt Elisabeth Winkelmeier-Becker, Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Recht und Verbraucherschutz sowie Richterin außer Dienst, zu den Beweggründen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der geplanten Reform des Mordparagraphen.
Justiz
EuGH – Facebook: Die US-amerikanische Vertretung bei der EU hat "in ungewöhnlich klarer Sprache" die Richter des Europäischen Gerichtshofs davor gewarnt, sich dem Schlussantrag des Generalanwalts in der Sache "Schrems vs. Facebook" anzuschließen. Die Vereinigten Staaten würden niemanden wahllos überwachen, gibt die FAZ (Hendrick Kafsack) die Erklärung wieder. Sollte das Gericht der Einschätzung des Generalanwalts zur mangelnden Safe-Harbor-Eigenschaft der USA folgen, könne sich fortan "kein Staat, kein Unternehmen und kein Bürger mehr auf Abkommen mit der Europäischen Kommission verlassen".
BVerfG – Transparenz: lto.de (Christian Rath) befragt Ferdinand Kichhof, den Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, zu Forderungen nach mehr Transparenz am Karlsruher Gericht und deren möglichen Umsetzungen.
BSG – Beitragsgerechtigkeit: Nun berichtet auch die FAZ (Dietrich Creutzburg) zu der beim Bundessozialgericht anhängig gemachten Klage einer Familie aus Freiburg, die wegen ihrer drei Kinder Beitragrabatte in der Sozialversicherung erstreiten will. Vor dem für Mittwoch erwarteten Urteil hätte eine der Zeitung vorliegende Analyse des früheren Vorsitzenden des Sozialbeirats beim Bundesarbeitsministeriums errechnet, dass die klageweise erstrebte Lösung vor allem Besserverdienenden zugute käme. Auch die Welt (Dorothea Siems) bringt einen ausführlichen Vorbericht.
OLG Frankfurt – Uber: Nach Bericht der FAZ (bee) geht das Transportunternehmen Uber gegen das vom Landgericht Frankfurt am Main verhängte Verbot der Vermittlung von Fahrten an Privatleute ohne Personenbeförderungsschein in Berufung. Eine Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main könnte im Juni 2016 stattfinden.
OLG Köln zum Schwarzfahren: Auch ein an der Kleidung festgemachter Zettel mit den Worten "Ich fahre schwarz" schützt nicht vor einer Verurteilung wegen Leistungserschleichung. Dies entschied nach Meldung von lawblog.de (Udo Vetter) das Oberlandesgericht Köln. Der betreffende Fahrgast hätte sein Vorhaben nach Ansicht des Gerichts vielmehr bereits beim Einsteigen einem Bahnmitarbeiter "offen und unmissverständlich" offenbaren müssen, statt – wie geschehen – eine Fahrkartenkontrolle abzuwarten.
LG Duisburg zu Love-Parade-Unglück: Vor dem Landgericht Duisburg ist ein Feuerwehrmann mit dem Versuch gescheitert, wegen einer beim Einsatz während des Love-Parade-Unglücks erlittenen posttraumatischen Belastungsstörung vom Land und dem Veranstalter eine Entschädigung zu erstreiten. Die "vermehrt seelischen Belastungen" seien dem Berufsrisiko des Klägers zuzuordnen, zitiert spiegel.de (Jörg Diehl) das Gericht.Weitere Zivilklagen seien anhängig, die 5. Große Strafkammer prüfe derweil immer noch die Eröffnung des Hauptverfahrens. focus.de (F. Lehmkuhl) gibt die Einschätzung eines Anwalts von Geschädigten des Unglücks wieder, nach der Zivilklagen vor einem möglichen Strafprozess keine Chance besäßen.
StA Braunschweig – VW: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat nach mehreren Strafanzeigen, eine von der Volkswagen AG stammend, Ermittlungen gegen den zurückgetretenen VW-Chef Martin Winterkorn aufgenommen. Gegenständlich sei der Vorwurf des Betrugs durch Verkauf von Autos mit manipulierten Abgaswerten, schreibt die FAZ (Henning Peitsmeier/Holger Appel). Der Bericht von zeit.de (Zacharias Zacharakis) legt dar, unter welchen Voraussetzungen von einer Strafbarkeit Winterkorns auszugehen wäre und welche Konsequenzen ihm möglicherweise drohen. Die SZ widmet der Abgas-Affäre ihr Thema des Tages. (Klaus Ott) befasst sich mit möglichen Auswirkungen der Affäre auf Boni-Ansprüche Winterkorns, (Friederike Krieger) schreibt, dass die Managerhaftpflichtversicherung eine Schadensregulierung bei Vorsatz der betroffenen Manager verweigern kann, (Hans Leyendecker) schließlich erinnert daran, dass sich die Braunschweiger Anklagebehörde als niedersächsische Zentralstelle für Wirtschaftsstrafverfahren in der juristischen Aufarbeitung der sogenannten Lustreisen-Affäre vor gut zehn Jahren nicht durch besonderen Ermittlungseifer hervorgetan habe.
Jakob Augstein (spiegel.de) behauptet in seinem Kommentar, dass Winterkorn vor der deutschen Justiz "keine große Angst" haben müsse. Denn sei unser Recht "im Kampf gegen die Kriminalität der Konzerne" zu schwach. Statt gutbezahlten Managern Verantwortung aufzubürden, sichere es eher deren Zugang zu Pensionen und Boni. Bei einem Unternehmensstrafrecht wie in den USA oder Großbritannien dagegen könnte sich ein Gericht "VW als Firma vorknöpfen".
Recht in der Welt
EGMR - Belgien: Eine im Polizeigewahrsam erhaltene Ohrfeige verstößt gegen das Verbot erniedrigender Behandlung gemäß Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Zu dieser Einschätzung gelangte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einem in Belgien angesiedelten Fall. Vor knapp zwei Jahren hatte die 5. Kammer des Gerichts eine Menschenrechtsverletzung noch verneint, weil die Schläge nicht ein erforderliches Mindestmaß an Härte besessen hätten, schreibt Maximilian Steinbeis (verfassungsblog.de). Die Menschenwürde aber kenne keine Bagatellgrenze.
Sonstiges
Ursula von der Leyen: Wegen der Plagiatsvorwürfe zur Doktorarbeit der Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat die Medizinische Hochschule Hannover nun eine förmliche Untersuchung veranlasst. Die FAZ (Heike Schmoll) gibt einen Überblick zur Arbeit und den auf der Seite Vroniplag zu ihr gesammelten Vorwürfen.
VW: Welche Rechte VW-Kunden nach Bekanntwerden der Abgas-Affäre geltend machen können, erläutert focus.de (Michael Winter).
Das Letzte zum Schluss
Bis dass der Tod…: Ehen von Prominenten bieten nicht zuletzt bei öffentlichen Auseinandersetzungen höchsten Unterhaltungswert. Die zwischen 1988 und 1993 währende Verbindung zwischen Burt Reynolds und Loni Anderson machte mit gegenseitigen Vorwürfen von Gewalt, Drogensucht und Untreue keine Ausnahme. Dagegen dürfte der Streit um das leidige Geld in dieser Scheidungs-Schlammschlacht einen Weltrekord darstellen: spiegel.de berichtet, dass es dem durch zwei Privatinsolvenzen gebeutelten früheren Sex-Symbol Reynolds nach vollen 22 Jahren gelungen sei, seinen Zahlungsverpflichtungen aus der Scheidungsvereinbarung nachzukommen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 29. September 2015: Verurteilung nach VStGB - Keine Entschädigung für Love-Parade-Einsatz - Ermittlungen gegen Winterkorn . In: Legal Tribune Online, 29.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17035/ (abgerufen am: 09.05.2024 )
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