Beate Zschäpe hat kein Vertrauen in ihre Verteidiger, der NSU-Prozess wird trotzdem fortgesetzt – in gleicher Besetzung. Außerdem in der Presseschau: EuGH im Wandel, die NPD und die Gerichte, Schmerzensgeld in Deutschland und den USA, Großbritannien und der EGMR, Kostenerstattung für Christian Wulff und ein steuerpflichtiges Vergnügen im Tantra-Studio.
Thema des Tages
OLG München – NSU-Prozess: Der in der vergangenen Woche im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München von der Hauptangeklagten Beate Zschäpe mitgeteilte Vertrauensverlust in ihre Verteidigung hat sich offenbar in einer "recht allgemeinen, unpräzisen" schriftlichen Erklärung gegenüber dem Gericht erschöpft. Wie die SZ (Annette Ramelsberger) schreibt, habe sich Zschäpes Unmut offenbar an der Befragung des Zeugen Tino Brandt durch ihre Vertreter entzündet. Die Bundesanwaltschaft habe diese Erklärung in einer Stellungnahme als "rechtlich unbeachtlich" bezeichnet, die Verteidigung dagegen eine inhaltliche Erklärung unter Hinweis auf ihre Verschwiegenheitsverpflichtung abgelehnt. Dass unter diesen Umständen eine auch nur teilweise Entpflichtung der Rechtsvertreter Zschäpes unwahrscheinlich sei, prognostiziert auch die Welt (Per Hinrichs, Zusammenfassung). Der Vorstoß belege vielmehr das "strapazierte Nervenkostüm" der seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft Befindlichen, der nach dem Gerichtsbeschluss zur Haftfortdauer des mitangeklagten Ralf Wohlleben klar sein dürfte, dass sich das OLG auf "Verurteilungskurs" befinde.
Beide Voraussagen sind offenbar eingetroffen: Wie die FAZ (Helene Bubrowski) kurz berichtet, hat das Gericht den Antrag auf Entpflichtung zurückgewiesen und auch keinen neuen Pflichtverteidiger bestellt. Konkrete Anhaltspunkte für eine endgültige und nachhaltige Erschütterung des Vertrauensverhältnisses seien nicht dargetan worden.
In einem Kommentar erinnert Heribert Prantl (SZ), dass eine vom Vertrauen des Mandanten getragene Verteidigung elementarer Bestandteil des rechtsstaatlichen Prozesses ist. Bei Zschäpe könne die Notwendigkeit eines weiteren Verteidigers, der ihr Vertrauen genießt, angezeigt sein. Die beibehaltenen Verteidiger trügen demgegenüber den Makel der Zwitterhaftigkeit: zu einer Hälfte seien sie Verteidiger, zur anderen aber auch "Verfahrensfortsetzungsbeauftragte des Gerichts." Gerade in diesem Verfahren träfe das Gericht eine besonders große Fürsorgepflicht gegenüber der Angeklagten. Unter dem Motto "Augen zu und durch" käme es dieser nur unzureichend nach und erhöhe so auch die Chancen einer erfolgreichen Revision.
Rechtspolitik
Steuerhinterziehung: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD hat ihren Plan für einen globalen Standard zum automatischen Informationsaustausch in Steuersachen vorgestellt. Durch vollständigen Austausch zahlreicher Länder, unter ihnen Deutschland, zu sämtlichen Kapitalerträgen solle Steuerhinterziehung durch das Parken von Geldern im Ausland erheblich erschwert werden, schreibt die FAZ (Manfred Schäfers).
Unternehmensstrafrecht: Gegen Ende des Jahres soll nach der Vorstellung des nordrhein-westfälischen Justizministers Thomas Kutschaty (SPD) ein Gesetzentwurf zur Einführung eines Unternehmensstrafrechts in den Bundesrat eingebracht werden, schreibt das Handelsblatt (Wolf Albin). Während Lobbyverbände keinen Bedarf erkennen würden und sich der im Beitrag zitierte Leiter der Schwerpunktstaatsanwaltschaft Stuttgart ebenfalls skeptisch zum Nutzen des Instruments zeigte, sei allgemein anerkannt, dass Firmen dem Thema Compliance zu wenig Beachtung schenkten. Eine hiermit zusammenhängende Reform der Bußgeldtatbestände sei der im Entwurf angedachten "Todesstrafe für Unternehmen", d.h. deren Auflösung bei massiven Rechtsverstößen, vorzuziehen.
PKW-Maut: In einem Kommentar erinnert Reinhard Müller (FAZ) an "eine der wenigen klaren Aussagen der Bundeskanzlerin" aus dem Wahlkampf: Mit Angela Merkel (CDU) werde es keine Maut geben. Die aktuelle Diskussion über Ausnahmeregelungen für Grenzregionen beweise deren grundlegenden Fehler. Weil Geld für die Instandhaltung von Straßen vorhanden sei, bedürfe es keines Grundes für "Wegelagerei."
Justiz
EuGH: Mit der wachsenden Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs befasst sich die SZ (Wolfgang Janisch) in einem längeren Beitrag. Über die Behandlung klassischer Verbraucherthemen habe sich das Gericht von einem "technokratisch anmutendem Wirtschaftsgericht" zum Hüter der europäischen Grundrechte aufgeschwungen, wie die kürzlich erfolgten Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung und zu Google belegten. Die durch die EU-Grundrechtecharta von 2009 bewirkte Wandlung werde von nationalen Verfassungsgerichten, etwa dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, kritisch beäugt. Andererseits entwickle sich der europäische Grundrechtsschutz in Europa zu einem "übergreifenden Gemeinschaftsprojekt", bei dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach dem Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention ebenfalls beitragen werde.
BVerfG – Erbschaftsteuer: Vor dem Hintergrund des beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens zu Ausnahmen von der Erbschaftsteuer bei Unternehmensübertragungen veröffentlicht das Handelsblatt einen Gastbeitrag von Michael Sell, Leiter der Steuerabteilung im Bundesministerium der Finanzen. Das Karlsruher Gericht halte das gegenwärtige Ausmaß an Verschonung von Steuerpflichtigen für bedenklich, gleichwohl sei diesbezüglich allein der Gesetzgeber entscheidungsbefugt. Er könne sich hierbei aber auf konkrete Hinweise des Gerichts in dem anstehenden Urteil einrichten.
BVerfG – NPD: Am heutigen Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht zu einer von der NPD erhobenen Organklage gegen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), der eine Verletzung ihrer Neutralitätspflicht in einem Wahlkampf-Interview vorgeworfen wird. Nach Darstellung der taz (Christian Rath) könne sich die Ministerin zwar nicht auf das Urteil zu den Äußerungsbefugnissen des Bundespräsidenten berufen, Entscheidungen der Verfassungsgerichtshöfe der Länder Rheinland-Pfalz und Saarland hätten in vergleichbaren Fällen jedoch das Recht von Politikern bekräftigt, vor vermeintlichen oder tatsächlichen Gefahren zu warnen. Die offensichtliche Klagefreude der NPD sei demgegenüber vor allem taktischen Erwägungen geschuldet.
BGH zu Suhrkamp: Nach einer Meldung von fr-online.de hat der Bundesgerichtshof im Gesellschafterstreit beim Suhrkamp-Verlag zwei Beschlüsse des Landgerichts (LG) Berlin aufgehoben, in denen Beschwerden des Minderheitsgesellschafters Hans Barlach gegen den Insolvenzplan des Verlages abgewiesen wurden. Das LG müsse nunmehr umfassend über Zulässigkeit und Begründetheit dieser Beschwerden befinden.
OLG Koblenz zu Spionage: Wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit hat das Oberlandesgericht Koblenz einen Inder zu einer neunmonatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte Informationen über Landsleute und indischstämmige Deutsche gesammelt und an einen Konsulatsmitarbeiter weitergegeben habe, meldet lto.de. Seine Einlassung zu einem Nötigungsnotstand habe demgegenüber nicht belegt werden können.
AG München zu Behandlungskosten: Nach einer Entscheidung des Amtsgerichts München muss ein Autofahrer, der einen angeleinten Hund an einer Tankstelle anfuhr, für einen Großteil der Behandlungskosten des Tieres aufkommen. Wie die SZ (Ekkehard Müller-Jentsch) im Bayern-Teil berichtet, sei der Einwand des Beklagten, die geforderte Summe übersteige den vor Jahren gezahlten Preis für den Vierbeiner um ein Vielfaches, vom Gericht nicht berücksichtigt worden. Zwar gelte bei Tieren eine Obergrenze, jenseits derer Heilungskosten unverhältnismäßig seien, wegen guter Erfolgsaussichten der Heilbehandlung sei diese im Fall jedoch nicht erreicht worden.
Schmerzensgeld: Eine Übersicht zu besonderen Schmerzensgeld-Urteilen bringt focus.de (Sascha-Pascal Schimmel). Neben bizarr anmutenden Entscheidungen aus den USA werden auch Fälle aus Deutschland vorgestellt, so z.B. ein vom Kammergericht Berlin zuerkanntes Schmerzensgeld von 650.000 Euro wegen eines Behandlungsfehlers. Die Diskrepanz der ausgeurteilten Summen erkläre sich mit der Bestrafungsfunktion, die im anglo-amerikanischen Recht auch im Zivilrecht existiere.
Recht in der Welt
Großbritannien – EGMR: In einem längeren Beitrag erläutert Rechtsprofessor Marten Breuer (verfassungsblog.de) Hintergrund und Inhalt der rechtspolitischen Auseinandersetzung über einen Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. Neben wahlkampfbedingtem "Theaterdonner" könnten die Befürworter einer solchen Idee durchaus beachtliche Argumente ins Feld führen, namentlich die traditionelle Souveränität des Parlaments auch gegenüber Gerichtsentscheidungen.
EGMR – Russland: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nach einer Meldung von lawblog.de (Udo Vetter) die russische Praxis, Angeklagte im Gerichtssaal in einen Käfig zu sperren, beanstandet und zwei Verurteilten Schmerzensgeld zugesprochen. Die Praxis sei nach Ansicht des Gerichts "unvereinbar mit den Maßstäben eines zivilisierten Verhaltens."
Ukraine – Terrorismus: In einem Beitrag zum mutmaßlichen Abschuss der Maschine des Flugs MH 17 in der Ukraine erinnert die taz (Bernd Pickert) daran, dass es nach wie vor keine "juristisch einwandfreie" Definition von Terrorismus gebe. Die Resolution 1566 des UN-Sicherheitsrates gelte allgemein als Referenzrahmen, eine entsprechende Einstufung begünstige Entschädigungsansprüche von Opferangehörigen. Andererseits könne die die bewusste Inkaufnahme ziviler Opfer auch als Kriegsverbrechen zu werten sein, Voraussetzung hierfür sei die Einordnung der gegenwärtigen Situation in der Ukraine als Krieg im völkerrechtlichen Sinne.
Sonstiges
Roboterautos: Mit zivil- und strafrechtlichen Auswirkungen computergesteuerter "Roboterautos" befasst sich Rechtsprofessor Eric Hilgendorf für lto.de. Während die geltende Rechtslage nach wie vor von einem das Fahrzeug beherrschenden Fahrer ausgeht und diesen bei Verkehrsunfällen haften lässt, könnten zukünftig auch die Hersteller bzw. Verkäufer in Anspruch genommen werden. Bezüglich strafrechtlicher Verantwortlichkeit sei jedoch bis auf weiteres von hohen Kontrollanforderungen an den Fahrer auszugehen.
Christian Wulff: Spiegel.de (Veit Medick/Annett Meiritz) beschäftigt sich mit der vom früheren Bundespräsidenten Christian Wulff verhalten geäußerten Androhung einer möglichen Staatshaftungsklage gegen das Land Niedersachsen wegen ihm entstandener Anwaltskosten. Nach seinem Freispruch im Korruptionsverfahren stehe Wulff eine Erstattung der notwendigen Auslagen zu, über deren Höhe das Landgericht Hannover zu befinden habe.
Das Letzte zum Schluss
Steuerpflichtiges Vergnügen: Sind "Ganzkörpermassagen unter Einbeziehung des Intimbereichs" in einem Tantra-Studio ganzheitliche Erfahrungen zur Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens oder wird hierbei ganz profan gezielt die Gelegenheit zu sexuellem Vergnügen eingeräumt? Ganz unesoterisch entschied der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zugunsten letzterer Auffassung mit der für die klagende Betreiberin eines Massagestudios unerfreulichen Konsequenz der Vergnügungssteuerpflichtigkeit. Nach Ansicht des Gerichts sei "Zerstreuung und Entspannung mit erotischem Bezug" bei einer Tantramassage in "objektiver Betrachtungsweise" nicht auszuschließen. Die FAZ (Rüdiger Soldt) berichtet.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 22. Juli 2014: Zschäpe-Verteidiger bleiben – Europäischer Grundrechtsschutz – NPD sucht Recht . In: Legal Tribune Online, 22.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12636/ (abgerufen am: 06.05.2024 )
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