Der Bundestag muss nicht mehr in dieser Legislaturperiode über die "Ehe für alle" abstimmen. Außerdem in der Presseschau: Ethik-Kommission legt Bericht über Autonomes Fahren vor und EGMR verurteilt Russland wegen homophobem Gesetz.
Thema des Tages
BVerfG zu Abstimmung über Homo-Ehe: Das Bundesverfassungsgericht hat den Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion abgelehnt, den Rechtsausschuss im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, noch in dieser Legislaturperiode über die "Ehe für alle" abzustimmen. Zuvor waren verschiedene Gesetzentwürfe mehrmals vertagt worden. Das Bundesverfassungsgericht begründete die Ablehnung damit, dass der Antrag in der Hauptsache offensichtlich unbegründet sei. Zwar beinhalte das Gesetzesinitiativrecht auch das Recht, dass innerhalb einer angemessenen Frist über den Entwurf abgestimmt werde. Genaue Vorgaben würden sich dem Grundgesetz jedoch nicht entnehmen lassen. Das Recht werde nur dann entleert, wenn ohne sachlichen Grund nicht über den Entwurf abgestimmt werde. Daran fehle es hier, da bis zuletzt diskutiert worden sei. Über den Beschluss berichten die FAZ (Alexander Haneke), die taz (Christian Rath) und der Tsp (Jost Müller-Neuhof).
Reinhard Müller (FAZ) meint zwar, dass die Abstimmung "irgendwie verschleppt" worden sei, sieht jedoch keine Entleerung des Initiativrechts. Zudem werde jedenfalls in der nächsten Legislaturperiode die Ehe für alle ohnehin kommen. Kritisch wird der Beschluss von Christian Rath (taz) gesehen. Das Parlament genieße ein hohes Ansehen, weil es das höchste Entscheidungsorgan im Staat sei. Diesen Nimbus hätten die Richter mit ihrer Entscheidung nicht gerade gestärkt.
lto.de (Pia Lorenz) analysiert die Entscheidung und lässt Verfassungsrechtler zu Wort kommen.
Rechtspolitik
Autonomes Fahren: Die vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte Ethik-Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Verfassungsrichters Udo Di Fabio hat ihren Abschlussbericht zum Autonomen Fahren abgegeben. Darin wird die Ermöglichung von selbstfahrenden Autos grundsätzlich begrüßt. Bei Unfällen dürfe der Computer nicht nach persönlichen Merkmalen entscheiden. Vertretbar sei jedoch eine Programmierung, die zu einer möglichst kleinen Zahl von Personenschäden führt. Zudem werden strenge Datenschutzvorschriften und eine gesetzliche Haftung von Herstellern gefordert. Die wichtigsten Aussagen werden von der SZ (Markus Balser), der taz (Dario Dietsche) und netzpolitik.org (Constanze Kurz) zusammengefasst.
Wolfgang Janisch (SZ) meint, die Kommission habe gut daran getan, sich nicht auf "tragic choices" einzulassen, weil diese nicht eindeutig normierbar seien. Mit den Prinzipien Verantwortung und Behutsamkeit biete der Bericht dem Gesetzgeber eine Orientierung. Svenja Bergt (taz) sieht das Problem des Autonomen Fahrens weniger im dystopischen Einzelfall als vielmehr in der möglichen Überwachung im Alltag. Daher brauche es ein "Gesetz, das den Nutzern solcher Fahrzeuge die Hoheit über ihre Daten gibt".
zeit.de (Catharina Felke) hat mit dem Philosophen Matthias Lutz-Bachmann, der der Ethik-Kommission angehört, über ethische Dilemma-Situationen gesprochen.
Cum-Ex-Untersuchungsausschuss: Der Untersuchungsausschuss zu den sogenannten Cum-Ex-Geschäften hat seinen Abschlussbericht vorgelegt. Einigkeit besteht danach darüber, dass die Geschäfte illegal waren. Die Opposition wirft den Regierungsfraktionen jedoch vor, die Verantwortung der damaligen Finanzminister kleinzureden, wie die SZ (Klaus Ott), die FAZ (Manfred Schäfers) und das Hbl (Frank M. Drost) berichten.
Sozialkassen: Der Rechtsprofessor Gregor Thüsing kritisiert in der FAZ ein zweites Gesetz zur Sicherung der Sozialkassen. Schon das erste Gesetz, mit dem der Inhalt von rechtswidrigen Tarifverträgen rückwirkend in Gesetzesform gegossen worden sei, sei verfassungswidrig gewesen. Das zweite Gesetz sehe für die übrigen Sozialkassen vor, dass ein Gericht den Beklagten zur vorläufigen Zahlung verpflichtet, es sei denn, das Gericht halte die Allgemeinverbindlicherklärung für offensichtlich unwirksam oder der Beklagte mache glaubhaft, dass die vorläufige Leistungspflicht ihm einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Damit werde eine elementare Grundregel des Prozessrechts umgedreht.
DNA-Analyse: In einem ausführlichen Beitrag befasst sich deutschlandfunk.de (Gudula Gudula Geuther/Ludger Kazmierczak) mit der geplanten erweiterten DNA-Analyse, mit der Rückschlüsse auf äußere Merkmale des mutmaßlichen Täters gezogen werden sollen. Der Beitrag beleuchtet nicht nur die Entwicklung in den Niederlanden, sondern auch verfassungsrechtliche Fragen sowie die technischen Probleme.
Europäische Insolvenzverordnung: Der Rechtsanwalt Peter Hoegen stellt in der FAZ die neue Europäische Insolvenzverordnung vor, die am 26. Juni in Kraft tritt. Die neue Verordnung ziehe erstmals präventive Sanierungsverfahren ein und schärfe die Kriterien für den Interessenmittelpunkt, der für das anwendbare Recht entscheidend sei. Zudem werde ein Konzerninsolvenzrecht "light" eingeführt, das auf Kooperation und Koordinierung der Einzelverfahren setze.
Sicherheit und Freiheit: Anlässlich der Diskussionen im Anschluss an Terroranschläge befasst sich die wissenschaftliche Mitarbeiterin Judith Sikora auf juwiss.de mit dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit. Ein "Grundrecht auf Sicherheit" als solches kenne das Grundgesetz nicht; das bloße Sicherheitsgefühl sei kein Rechtsgut. Zudem zeige das Beispiel Großbritanniens, dass mehr polizeiliche Befugnisse nicht automatisch zu mehr Sicherheit führten.
Justiz
EuGH – Fristen bei Dublin-Überstellungen: Asylsuchende können sich auf den Ablauf von Fristen berufen, die die Zuständigkeit für einen Asylantrag nach der Dublin-III-Verordnung auf einen anderen Staat übergehen lassen. Zu diesem Ergebnis kommt die Generalanwältin Eleanor Sharpston in ihrem Schlussantrag. In dem zugrunde liegenden Fall ging es um einen Eritreer, der zunächst nach Italien und später nach Deutschland gekommen war. Die dreimonatige Frist ist laut Sharpston in diesem konkreten Fall jedoch nicht abgelaufen, da über den Fristbeginn nicht das formlose Asylgesuch sondern der förmliche Asylantrag entscheide. Die SZ (Wolfgang Janisch) und zeit.de berichten.
BAG – Leistungsverweigerung bei unbilligen Weisungen: Der Rechtsanwalt Rüdiger Hopfe erläutert auf dem Handelsblatt-Rechtsboard den Beschluss des 10. Senats des Bundesarbeitsgerichts, nach dem einem Arbeitnehmer bei einer unbilligen Weisung ein Leistungsverweigerungsrecht zustehe. Würde sich diese Ansicht im Bundesarbeitsgericht durchsetzen, seien die praktischen Konsequenzen jedoch relativ gering, da der Arbeitnehmer bei einer Leistungsverweigerung dem Risiko ausgesetzt sei, dass diese unberechtigt ist.
OLG München – NSU-Prozess: Die Bundesanwaltschaft, die im NSU-Prozess die Anklage vertritt, unterstützt den Antrag von Nebenklagevertretern, den von Beate Zschäpes Wahlverteidigern beauftragten Gutachter Joachim Bauer als befangen abzulehnen. Das schreiben spiegel.de (Julia Jüttner) und blog.zeit.de (Tom Sundermann). Es bestünden "Zweifel an der inneren Haltung des Gutachters". Bauer hatte Beate Zschäpe die Voraussetzungen für eine verminderte Schuldfähigkeit attestiert. Er war in die Kritik geraten, nachdem er der Angeklagten Pralinen in das Gefängnis bringen wollte und in einer E-Mail an die "Welt" von einer "Hexenverbrennung" geschrieben hatte.
LG Essen – Middelhoff: Über die geplante Einstellung des Verfahrens gegen den ehemaligen Arcandor-Vorstandschef Thomas Middelhoff schreibt jetzt auch die FAZ (Marcus Jung). Die SZ (Klaus Ott) berichtet von einer alten E-Mail, die erst vor Kurzem aufgetaucht ist und zeigen soll, dass die umstrittenen Boni gründlich geprüft worden seien.
StA Göttingen – Akte über Linke: Nachdem bekannt geworden ist, dass der Göttinger Staatsschutz jahrelang Daten von mutmaßlichen Mitgliedern der linken Szene Göttingens gesammelt hat, haben die Anwälte von Betroffenen jetzt auch Strafanzeige gegen Beamte der Polizei erstattet. Sie werfen ihnen vor, die Akte vernichtet zu haben, damit sie in späteren Verfahren nicht mehr als Beweismittel verwendet werden kann. Den Fall schildert die taz (Reimar Paul).
VG Berlin – Informationen über "Gefahrengebiet": Vor dem Verwaltungsgericht Berlin wurde im April über die Herausgabe von Informationen über das sogenannte Gefahrengebiet rund um die Rigaer Straße in Berlin verhandelt. Die Polizei verweigerte die Mitteilung der genauen geografischen Ausdehnung, mit der Begründung, dass Straftäter es sonst umgehen könnten. netzpolitik.org (Constanze Kurz) sprach mit dem Kläger Rainer Rehak.
Recht in der Welt
Polen – Justizreform: Das polnische Verfassungsgericht hat laut SZ (Florian Hassel) und FAZ (Konrad Schuller) den Weg für eine geplante Justizrefom geebnet. Es erklärte die bisherige Zusammensetzung des Nationalen Gerichtsrates, der maßgeblichen Einfluss bei der Auswahl von Richtern hat, für verfassungswidrig. Jetzt will die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zwei Gesetze verabschieden, auf die gestützt das Parlament und der Justizminister mehr Einfluss auf die Justiz haben werden.
Florian Hassel (SZ) sieht in den Gesetzen eine Denkschule zum Ausdruck kommen, "welche die klassische westliche Gewaltenteilung in Regierung, Parlament und Justiz nicht akzeptiert". Europa habe die Demontage des Rechtsstaates zwar nicht gebilligt, habe aber resigniert.
EGMR zu Anti-Homosexuellen-Gesetz in Russland: Ein russisches Gesetz gegen "Propaganda für Homosexualität" ist diskriminierend und verletzt die Meinungsfreiheit. Zu diesem Ergebnis ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gekommen. Russland habe nicht nachweisen können, dass das Gesetz erforderlich sei, um das Leben der traditionellen Familien zu schützen oder Jugendliche davor zu bewahren, verleitet zu werden. Die SZ (Julian Hans), swr.de (Gigi Deppe) und spiegel.de (Annette Langer) berichten.
Reinhard Veser (FAZ) hält die vom EGMR beanstandeten Strafvorschriften für symptomatisch: "In Putins Russland wird von Staats wegen eine Atmosphäre der Intoleranz gegen alle geschaffen, die nicht in das von oben vorgegebene Raster passen."
Sonstiges
Gefangenensammelstelle in Hamburg: Die Polizei hat die für die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg eingerichtete Gefangenensammelstelle präsentiert. Dort können bis zu 500 Personen festgehalten werden. Da das Amtsgericht selbst in der "roten Zone" liegt, sollen die zuständigen Richter direkt in der Sammelstelle über die Gewahrsamnahmen entscheiden, so die taz (Katharina Schipkowski).
Das Letzte zum Schluss
Später Gang zum Anwalt: Über einen verspäteten Gang zum Anwalt berichtet kanzlei-hoenig.de (Carsten Hoenig). Der Ratsuchende war im Strafbefehlsverfahren zu insgesamt 440 Tagessätzen verurteilt worden. Statt sich bei der ersten Post von der Polizei an einen Anwalt zu wenden, meldete er sich erst, nachdem die Vollstreckungsstelle der Staatsanwaltschaft ihn zum Haftantritt geladen hatte, weil er die Geldstrafe nicht zahlte.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/dw
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 21. Juni 2017: Keine Abstimmung über Homo-Ehe / Kommission zu Autonomen Fahren / EGMR zu Anti-Schwulen-Gesetz . In: Legal Tribune Online, 21.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23237/ (abgerufen am: 28.04.2024 )
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