Neue Ungereimtheiten aus der Akte Amri bringen die Berliner Behörden in Bedrängnis. Außerdem in der Presseschau: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz droht zu kippen und Schweden stellt die Ermittlungen gegen Julian Assange ein.
Thema des Tages
Anis Amri: Wie die Montags-SZ (Ronen Steinke) unter Berufung auf die Sonntags-Ausgabe der Berliner Morgenpost (Gudrun Mallwitz/Andreas Abel) berichtet, wurden weitere Ungereimtheiten in der Akte von Anis Amri bekannt. Demnach seien nachträglich auch Namen aus seinem Umfeld im Drogenmilieu gelöscht worden. Vergangene Woche hatte bereits der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) Strafanzeige wegen Strafvereitelung gegen Mitarbeiter des Landeskriminalamtes gestellt, wie die FAS (Antje Schmelcher) berichtet. Unterdessen fordert Rechtsanwalt Andreas Schulz, der Angehörige der Opfer des Anschlags vertritt, 100 Millionen Euro Schadensersatz vom Land Berlin. Dabei beruft er sich laut Focus (focus.de-Meldung) auf ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, nach dem ein Unterlassen der Polizeibehörden einen Amtshaftungsanspruch begründen könne.
Jost Müller-Neuhof (Samstags-Tsp) warnt vor voreiligen Schlüssen. Es könnte Gründe für die Polizei gegeben haben, nicht sofort gegen Amri vorzugehen. Jedenfalls seien die Beamten nicht "für die Toten und Verletzten vom Dezember 2016 unmittelbar verantwortlich".
Rechtspolitik
NetzDG: Der Bundestag hat am Freitag vergangener Woche über das geplante Netzwerkdurchsetzungsgesetz diskutiert, mit dem soziale Netzwerke beim Kampf gegen rechtswidrige Inhalte stärker in die Verantwortung genommen werden sollen. Kritiker sehen in dem Vorhaben eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung und befürchten eine Einschränkung der Meinungsfreiheit durch übereifriges Löschen. Die Kritik kommt inzwischen auch aus den Regierungsfraktionen, so dass es möglich erscheint, dass das Gesetz nicht vor Ende der Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Diskutiert wird etwa noch über einen Richtervorbehalt für die Herausgabe von Bestandsdaten sowie über eine unabhängige Prüfstelle. Über die Diskussion und das Gesetzgebungsverfahren berichten die Samstags-FAZ (Hendrik Wieduwilt), spiegel.de (Melanie Amann/Fabian Reinbold) und lto.de (Constantin van Lijnden).
Reinhard Müller (Samstags-FAZ) merkt an, dass "zahlreiche Opfer von Diffamierungen sich bisher oft nicht wirksam wehren konnten". Die Abwägung verdiene jedoch kein "gesetzgeberisches Hauruck-Verfahren". Hendrik Wieduwilt (Samstags-FAZ) hofft, dass sich die Union vom "Kontrollwahn" der SPD verabschiedet und auf die erste Lesung keine zweite folgt. Christian Rath (Samstags-BadZ) hält die Befürchtungen, dass das Gesetz zu massenhaftem Löschen von Inhalten führen werde, für unbegründet. Schon jetzt seien die Anbieter verpflichtet, rechtswidrige Inhalte unverzüglich zu löschen. Ein Bußgeld sehe der Gesetzentwurf nur für den Fall vor, dass das Beschwerdemanagement gänzlich untauglich sei.
Ausreisepflicht-Gesetz: Der Bundestag hat das "Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" beschlossen. Es beinhaltet unter anderem eine Ausweitung der Abschiebehaft und den Einsatz der elektronischen Fußfessel für ausreisepflichtige Personen, die als gefährlich eingestuft wurden, wie die Samstags-FAZ (Eckart Lohse) schreibt. netzpolitik.org (David Richter) befasst sich eingehend mit dem ebenfalls beschlossenen Auslesen von Datenträgern zum Zweck, die Identität von Asylbewerbern festzustellen.
Reinhard Müller (Samstags-FAZ) sieht in den "nun verabschiedeten sogenannten Verschärfungen nur Selbstverständliches". Wer rechtlich zur Ausreise verpflichtet wurde, der müsse auch ausreisen.
Ausschluss von Parteienfinanzierung: Union und SPD haben einen Gesetzentwurf für eine Änderung des Grundgesetzes vorgelegt, mit dem der Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von der Parteienfinanzierung ermöglicht werden soll, so die Samstags-FAZ (Günter Bannas). Zuvor habe bereits der Bundesrat entsprechende Gesetzentwürfe beschlossen. Auch für den Ausschluss aus der Parteienfinanzierung soll das Bundesverfassungsgericht zuständig sein. Während Union, SPD und Linkspartei sich für die Änderung aussprachen, kritisierten die Grünen den Entwurf als symbolisch und nicht sorgfältig ausgearbeitet.
Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Heribert Prantl (Samstags-SZ) kritisiert die geplante Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern. Das Solidaritätsprinzip zwischen den Bundesländern werde abgeschafft und das Bund-Länder-Verhältnis gerate außer Balance. Dafür sind laut Heike Göbel (Samstags-FAZ) auch die "verantwortungsscheuen" Länder verantwortlich: "Bereitwillig tauschen sie restliche Zuständigkeiten gegen Bundesgeld, nicht ohne die Spur dieser Selbstaufgabe zu verwischen."
Autonomes Fahren: Rechtsprofessor Volker Lüdemann kritisiert in der Samstags-FAZ das vom Bundestag beschlossene Gesetz zum autonomen Fahren. Es regele nicht präzise genug, was die Autofahrer beim Einsatz von automatisierten Systemen tun dürften oder lassen müssten. Auch seien eine Gefährdungshaftung der Hersteller und genauere Regeln zum Datenschutz angezeigt.
Bundesdatenschutzgesetz: Rechtsanwalt Tim Wybitul erläutert in der FAZ Änderungen, die am Bundesdatenschutzgesetz zur Anpassung an die Datenschutz-Grundverordnung vorgenommen wurden. Personenbezogene Daten dürften nur noch an Betriebsräte herausgegeben werden, wenn das neue Gesetz oder eine entsprechende Betriebsvereinbarung das erlaube.
Geheimdienste: In einem Kommentar kritisiert Anna Biselli (netzpolitik.org) den Ausbau der Befugnisse und Möglichkeiten von Geheimdiensten. Dieser erfolge auch durch Änderungen am Archivgesetz, die Geheimdiensten Ausnahmen von der Archivierungspflicht gestatteten, am Datenschutzgesetz, wo die Kontrolle der Geheimdienste durch den Bundesdatenschutzbeauftragten geschwächt werde, oder durch das Datenaustauschverbesserungsgesetz.
Speicherung von Grenzübertritten: Eine von der Europäischen Kommission ins Leben gerufene Expertengruppe schlägt die Speicherung von Daten über Grenzübertritte von EU-Bürgern vor. Das geht aus dem Abschlussbericht hervor, mit dem sich netzpolitik.org (Matthias Monroy) befasst. Demnach sollen neben biografischen Daten auch Zeitpunkt und Richtung des Grenzübertritts protokolliert werden.
Portabilitätsverordnung: Rechtsassessor Philipp Roos stellt auf lto.de die Portabilitätsverordnung vor, mit der Streamingdienste europaweit einheitlich nutzbar gemacht werden sollen. Danach sind Streaminganbieter verpflichtet, ihre Leistungen auch bei einem vorübergehenden Aufenthalt im EU-Ausland unter den gleichen Bedingungen zu erbringen. Um einen Missbrauch zu verhindern, muss bei Vertragsschluss und Vertragsverlängerung der Wohnsitz des Kunden überprüft werden.
Justiz
BSG zu Rentenversicherungspflicht für Anwälte: Rechtsanwälten, die als Angestellte bei Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften für die Mandanten ihres Arbeitgebers tätig sind, können sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen, wenn die Rechtsberatung im Wesentlichen weisungsfrei erfolgt. Das hat das Bundessozialgericht entschieden. Rechtsanwalt Martin W. Huff erläutert auf lto.de das Urteil und weist darauf hin, dass Anwälte, die diese Kriterien erfüllen, sich auch rückwirkend für den Zeitraum vor der Einführung der neuen Regeln zum Syndikusrechtsanwalt befreien lassen können.
BGH zu Uber Black: Der Bundesgerichtshof hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die Unzulässigkeit von "Uber Black" nach dem deutschen Personenbeförderungsrecht mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist. Geklagt hatte ein Berliner Taxiunternehmen, das in dem Einsatz der App durch das niederländische Unternehmen eine unzulässige Geschäftspraktik sah. Rechtsprofessor Urs Kramer stellt auf lto.de den Vorlagebeschluss vor und äußert Zweifel daran, dass die Einschränkung der Berufsfreiheit tatsächlich durch den Schutz des Taxigewerbes gerechtfertigt werden könne.
BGH zur Herausgabe von Urteilen: Gerichte müssen anonymisierte Urteile und Beschlüsse an Dritte herausgeben. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Ein besonderes rechtliches Interesse wie bei der Akteneinsicht sei nicht erforderlich. Die Herausgabe dürfe nur verweigert werden, wenn "unabweisbare höhere Interessen" berührt seien. Im konkreten Fall hatten Anwälte die Abschrift eines Hinweisbeschlusses verlangt, der in einem Verfahren wegen fehlerhafter Anlageberatung einer Bank ergangen war. Das Urteil stellen lto.de (Pia Lorenz) und karief.com (Kai Riefenstahl) vor.
LG München I zu Tod durch Kreissäge: Das Landgericht München I hat eine 32-Jährige wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Es sah es als erwiesen an, dass die Studentin ihren damaligen Freund für ein Sexspiel gefesselt und anschließend mit einer Kreissäge getötet hat. Das Vorliegen von Mordmerkmalen verneinte das Gericht. Da nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Frau schon beim Fesseln einen Tötungsvorsatz hatte, sei sie nicht heimtückisch vorgegangen. Auch habe sie weder grausam noch aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Von der Urteilsverkündung berichten die Samstags-SZ (Susi Wimmer) und die WamS (Gisela Friedrichsen).
BVerfG – "Rote Karte für die AfD": Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am Mittwoch über die Klage der AfD gegen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), die anlässlich einer AfD-Demonstration in einer Presseerklärung erklärt hatte: "Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden." Im Interview mit dem Spiegel (Dietmar Hipp) erklärt der Rechtsanwalt und Verfassungsrechtsexperte Christofer Lenz, dass Wanka der AfD weniger Angriffsfläche geboten hätte, wenn sie als Parteipolitikerin aufgetreten wäre. Aber auch der Bundesregierung müsse es möglich sein, sich angemessen gegen Kritik zu wehren. Insoweit sei es auch vertretbar, dass die Ministerin Angriffe auf die Kanzlerin abwehre.
OLG Saarbrücken – Hasskommentar auf Facebook: Die Samstags-taz (Christoph Schmidt-Lunau) berichtet in eigener Sache über die Gerichtsverhandlung zu einem Rechtsstreit zwischen der "taz" und einem Mann, über dessen Facebook-Account einer Erziehungswissenschaftlerin gedroht wurde. Der Mann bestreitet, für den Post verantwortlich zu sein und verlangt von der "taz" die Löschung der Berichterstattung darüber.
BVerwG zu Suizidmedikamenten: Der Rechtsanwalt und Journalist Oliver Tolmein befasst sich im Feuilleton der Samstags-FAZ mit den nun veröffentlichten Gründen des Bundesverwaltungsgerichtsurteils zur Medikamentenabgabe an Suizidenten von März dieses Jahres. Er kritisiert, dass der Senat eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Begründung einer Schutzpflicht für die Selbstbestimmung heranzieht, die in einer anders gelagerten Situation ergangen sei. Zudem würde den Gerichten und Behörden zu wenig an die Hand gegeben, um in Einzelfällen zu guten Entscheidungen zu finden.
BVerwG – "Indigenes Volk Germaniten": Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Mitteilung klargestellt, dass es ein "Indigenes Volk Germaniten" nicht anerkannt und diesem auch keine Staatlichkeit oder andere Sonderrechte zugesprochen habe. Die Gruppierung hatte zuvor ein an sie adressiertes Schreiben des Gerichts als Beweis für seine Existenz benutzt. lto.de (Pia Lorenz) berichtet.
Strafverteidiger Adam Ahmed: Im Interview mit der FAS (Timo Steppat) äußert sich der Strafverteidiger Adam Ahmed zu seinem Verteidigungsstrategien, der Rolle der Medien in Strafverfahren und zur Praxis der Sicherungsverwahrung. Der Rechtsanwalt war in vielen spektakulären Verfahren tätig, darunter im Prozess gegen den Mörder des Münchner Mode-Anbieters Rudolph Moshammer.
Verfahrensdauer an Gerichten: Der Journalist und Autor Joachim Wagner beschäftigt sich in der Montags-Welt mit der Frage, warum trotz teilweise rückläufiger Verfahrenseingänge Gerichtsverfahren an zahlreichen Gerichten immer länger dauern. Als Gründe führt er ein vom "Beamtengeist" geprägtes Arbeitsethos sowie häufige Richterwechsel an, begünstigt durch mehr Frauen an den Gerichten. Das Gesetz gegen überlange Gerichtsverfahren habe keine Wirkung entfaltet, weil es nicht von Personalausbau begleitet worden sei und von den Bundesgerichten restriktiv ausgelegt werde.
Recht in der Welt
USA – Richterernennungen: US-Präsident Donald Trump könnte die Rechtsprechung in seinem Land nach einem Artikel auf zeit.de (Thorsten Schröder) nachhaltig prägen. Nach der Nominierung von Neil Gorsuch als neuem Richter am Supreme Court hat Trump mehrere Namen für neu zu besetzende Stellen an den Bundesgerichten genannt. In den nächsten Monaten werden weitere folgen. In den kommenden Jahren könnte Trump über 100 Bundesrichter vorschlagen, aus denen auch der nächste Richter am Supreme Court rekrutiert werden könnte.
Schweden/UK – Julian Assange: Die schwedische Justiz hat das Verfahren gegen Julian Assange eingestellt. Ihm wurden Vergewaltigung und sexuelle Belästigung vorgeworfen. Die ecuadorianische Botschaft in London wird der Wikileaks-Gründer wohl trotzdem zunächst nicht verlassen, weil die britische Justiz wegen eines Verstoßes gegen Kautionsauflagen gegen ihn ermittelt. Bei einer Festnahme befürchtet Assange eine Auslieferung an die USA. Die Samstags-FAZ (Jochen Buchsteiner) und die Samstags-taz (Reinhard Wolff) berichten.
Christian Bommarius (Samstags-BerlZ) sieht in der US-Strafverfolgung gegen Assange die "Manifestation einer Justiz, die sich in ihrem Furor aller rechtsstaatlicher Fesseln entledigt hat". zeit.de (Catharina Felke/Eike Kühl) beantwortet die wichtigsten Fragen zum Verfahren und zu Wikileaks.
Sonstiges
IT-Sicherheitsgesetz: community.beck.de (Dennis-Kenji Kipker/Mattea Stelter) nimmt die Cyberattacke durch die Schadsoftware WannaCry zum Anlass, sich mit den Regelungen des IT-Sicherheitsgesetzes auseinanderzusetzen. Dieses verpflichte die Betreiber von kritischen Infrastrukturen zur Verbesserung ihrer Sicherheitsvorkehrungen. Für Änderungen bestehe kein Bedarf, vielmehr müssten die Unternehmen bei der Umsetzung unterstützt werden.
Karrieremesse: Die Samstags-FAZ (Matthias Gafke) berichtet von der Juracon, einer Karrieremesse für Juristen in Frankfurt am Main. Großkanzleien würden dort nicht nur mit hohen Einstiegsgehältern, sondern inzwischen auch mit einer ausgeglichene Work-Life-Balance um junge Top-Juristen werben. Der öffentliche Dienst könne bei den Gehältern nicht mithalten, biete aber einen sicheren Arbeitsplatz.
Kriegsgefangene: lto.de (Martin Rath) nimmt im Feuilleton ein Urteil des Reichsgerichts von 1917 zum Anlass, sich mit dem Umgang mit Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg zu befassen. Das Gericht sprach einen Soldaten frei, der während des Urlaubs einen russischen Kriegsgefangenen auf der Flucht erschossen hatte.
Das Letzte zum Schluss
VG Berlin zu Smartphone-Entzug: Ein Schüler ist mit seiner Klage gegen die Wegnahme seines Smartphones durch einen Lehrer gescheitert. Der Smartphone-Entzug sei kein schwerwiegender Grundrechtseingriff, so das Verwaltungsgericht Berlin. Christian Mayer (Samstags-SZ) freut sich über das Urteil und träumt davon, dass noch mehr Geräte verbannt werden.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/dw
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 20. bis 22. Mai 2017: Behördenversagen im Fall Amri? / NetzDG auf der Kippe / Teilerfolg für Assange . In: Legal Tribune Online, 22.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22995/ (abgerufen am: 06.05.2024 )
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