Eltern, die keinen Kita-Platz bekommen, können Verdienstausfall ersetzt bekommen. Außerdem in der Presseschau: Telefonliste von Jobcenter bleibt geheim und "Reichsbürger" bewegen sich juristisch auf dünnem Eis.
Thema des Tages
BGH zu Schadensersatz bei fehlenden Kita-Plätzen: Eltern, die keinen Kita-Platz für ihr Kind bekommen, haben grundsätzlich einen Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls, der dadurch entsteht, dass sie sich um ihr Kind kümmern müssen. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden. Geklagt hatten drei Frauen aus Leipzig, die bei der Kitaplatz-Vergabe leer ausgingen und dadurch Verdienstausfälle zwischen 2.200 und 7.300 Euro erlitten. Das Oberlandesgericht Dresden hatte die Klagen noch mit der Begründung abgewiesen, dass der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz nicht die Erwerbsinteressen der Eltern schütze. Dem trat der BGH entgegen. Der Rechtsanspruch stehe zwar dem Kind selbst zu, schütze aber ebenfalls die Eltern. Das Oberlandesgericht muss jetzt noch prüfen, ob die Stadt Leipzig ein Verschulden trifft, etwa durch fehlerhafte Planung. Auf fehlende finanzielle Mittel kann sie sich aber nicht berufen. Die SZ (Wolfgang Janisch), die FAZ (Mona Jaeger), die taz (Christian Rath), tagesschau.de (Klaus Hempel) und spiegel.de (Lisa Erdmann) erläutern das Urteil.
In einem Kommentar begrüßt Ulrike Heidenreich (SZ) die Entscheidung: Kitas sollten nicht nur Kinder, sondern auch die "Eltern fördern – indem diese Freiraum bekommen und arbeiten können". Reinhard Müller hält das Urteil ebenfalls für richtig, gibt aber zu bedenken, dass es beim Kita-Ausbau auch um "gesellschaftliche Umwälzung" gehe: "Hoffentlich kommen Kindes- und Familienwohl dabei nicht unter die Räder."
spiegel.de (Matthias Kaufmann) gibt Antworten auf die Fragen, was das Urteil für die Kläger, für andere Eltern und die Kommunen bedeutet.
Rechtspolitik
Leiharbeit: Eine Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, die der SZ (Thomas Öchsner) vorliegt, weist auf Lücken im Gesetz zur Regelung der Leiharbeit hin, das am heutigen Freitag im Bundestag verabschiedet werden soll. Die Pflichten, Leiharbeiter nach neun Monaten gleich zu bezahlen und nach 18 Monaten zu übernehmen, könnten durch "Rotationslösungen" umgangen werden. Rechtsanwalt André Zimmermann fasst im Handelsblatt-Rechtsboard die wesentlichen Inhalte des Gesetzes zusammen.
BND-Gesetz: Am heutigen Freitag will die große Koalition im Bundestag die umstrittene Änderung des BND-Gesetzes und des Gesetzes über das parlamentarische Kontrollgremium beschließen, mit der der BND umfassende Befugnisse zur Überwachung der auslandsbezogenen Kommunikation erhält und die Kontrolle verbessert werden soll. Nach einer Meldung des Hbl hat die FDP-Politikerin und ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine Verfassungsbeschwerde angekündigt. netzpolitik.org (Anna Biselli) unterzieht den Gesetzentwurf einer ausführlichen Kritik und trägt Stellungnahmen zusammen. Die taz (Christian Rath) sprach mit Christian Flisek, SPD-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, der die Reform verteidigt: Die Kontrolle werde massiv ausgebaut. Die SZ (Ronen Steinke) beantwortet die wichtigsten Fragen zu den Gesetzesänderungen.
Länderfinanzausgleich: Der Rechtsprofessor Joachim Wieland analysiert auf verfassungsblog.de den von Bund und Ländern gefunden Kompromiss zur Reform der Finanzverteilung. Während die Eigenständigkeit der Länder durch die Stärkung ihrer Finanzkraft gestärkt werde, erhalte der Bund weitere Handlungsmöglichkeiten in den Bereichen Digitalisierung, Investitionen und Steuerverwaltung. Insgesamt sei die Einigung ein "Gewinn für Deutschland".
Verlustverrechnung: Rechtsprofessor Dennis Klein befasst sich auf lto.de mit Problemen bei der steuerlichen Verlustverrechnung. Um den Handel mit "Verlustmänteln" zu verhindern, habe der Gesetzgeber die Verlustverrechnung bei Anteilseignerwechseln eingeschränkt. Dabei traf er jedoch ungewollt auch expandierende Unternehmen. Um diese Wirkung zu beseitigen, soll die Verlustverrechnung nun ermöglicht werden, wenn der Geschäftsbetrieb unverändert fortgeführt wird. Dies habe jedoch ebenfalls negative Auswirkungen auf das Investitionsklima.
Kinderehen: Im Interview mit der SZ (Ulrike Heidenreich) fordert Petra Follmar-Otto vom Deutschen Institut für Menschenrechte, Kinderehen nicht grundsätzlich für nichtig zu erklären, sondern im Einzelfall zu prüfen, was für das Mädchen am besten ist.
Justiz
OLG Celle – Safia S.: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat am Oberlandesgericht Celle der Prozess gegen Safia S. begonnen. Dem 16-jährigen Mädchen wird vorgeworfen, im Auftrag des sogenannten Islamischen Staats einem Polizisten ein Messer in den Hals gestoßen zu haben. Es berichten die SZ (Wiebke Ramm), die FAZ (Reinhard Bingener), die taz (Sabine am Orde), die Welt (Per Hinrichs) und spiegel.de (Julia Jüttner).
OLG Stuttgart – Entführung in Syrien: In Stammheim hat der Prozess gegen einen Syrer begonnen, dem vorgeworfen wird, als Mitglied einer islamistischen Terrorgruppe in Syrien an der Entführung eines UN-Mitarbeiters beteiligt gewesen zu sein. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart droht jetzt eine Verurteilung unter anderem wegen Kriegsverbrechen gegen humanitäre Operationen und Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Von der Verhandlung berichten die FAZ (Rüdiger Soldt) und die SZ (Josef Kelnberger/Ronen Steinke).
LG Bonn – Mord ohne Leiche: Am Landgericht Bonn hat die Hauptverhandlung zum "Mord ohne Leiche" begonnen. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, seine Frau getötet und die Leiche im Abfall einer Krankenhausküche entsorgt zu haben. 2013 wurde er bereits auf Grundlage von Aussagen einer Zeugin verurteilt, die angab, mit dem Angeklagten eine intime Beziehung eingegangen zu sein und ihm so ein Geständnis entlockt zu haben. Der Bundesgerichtshof hob dieses Urteil wegen Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Zeugin auf. Jetzt muss das Landgericht Bonn erneut verhandeln. Die FAZ (Reiner Burger) schildert den Fall.
BVerfG zu G 10-Kommission: In einem Beitrag auf verfassungsblog.de kritisiert Benjamin Rusteberg die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die G 10-Kommission als nicht parteifähig im Organstreitverfahren anzusehen. Die Kommission sei dem "inneren Bereich" des Staates zuzuordnen und könne daher als "andere Beteiligte" im Sinne von Artikel 93 Absatz 1 Nr. 1 Grundgesetz angesehen werden. Außerdem habe der Erste Senat die Verfassungsmäßigkeit von Regelungen zur verdeckten Informationserhebung von einer wirkungsvollen institutionellen Kontrolle abhängig gemacht. Auch das spreche für die Parteifähigkeit der Kommission.
BVerwG zu Jobcenter-Telefonliste: Es gibt keinen Anspruch aus dem Informationsfreiheitsgesetz auf Übermittlung einer Liste mit allen Telefonnummern eines Jobcenters. Das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Der Auskunft könnten "sowohl die Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Behörde als auch der Schutz der personenbezogenen Daten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entgegenstehen", heißt es in dem Urteil über das die SZ (Thomas Öchsner) berichtet. Aktivisten haben derweil die Kampagne "Frag Das Jobcenter" ins Leben gerufen, in deren Rahmen zwar nicht mehr Telefonlisten, aber interne Weisungen sowie die Zielvereinbarungen angefordert werden sollen. Dazu netzpolitik.org (Arne Semsrott).
VG Hamburg – Whatsapp-Daten: Facebook geht gegen die Verfügung des Hamburgischen Datenschutzbeauftragten Johannes Caspar vor, mit der dem Internetkonzern untersagt worden ist, die Daten von Whatsapp zu speichern. Ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist am Mittwoch beim Verwaltungsgericht Hamburg eingegangen, berichtet die FAZ (Jonas Jansen). Das Gericht wird sich jetzt unter anderem mit der Frage befassen, ob das deutsche Datenschutzrecht überhaupt anwendbar ist.
BVerwG zu Gebühren für IFG-Auskunft: Gebühren für Auskünfte nach dem Informationsfreiheitsgesetz dürfen nicht in die Höhe getrieben werden, indem der Auskunftsantrag in mehrere Einzelanträge aufgeteilt wird, die jeweils mit der Höchstsumme von 500 Euro in Rechnung gestellt werden. Geklagt hatten zwei Journalisten, die 15.000 Euro für 66 "Einzelanträge" zahlen sollten. Dies verstoße gegen das "Verbot einer abschreckenden Wirkung der Gebührenbemessung", so das Bundesverwaltungsgericht laut netzpolitik.org (Arne Semsrodt) und spiegel.de.
EuGH zur Preisbindung für Medikamente: Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Unzulässigkeit der Preisbindung für Medikamente hat eine Diskussion über politische Konsequenzen entfacht. Neben der Vereinigung der Apothekenkammern und -verbände fordert auch die bayerische Landesregierung ein Verbot des Versandhandels, wie die FAZ (Andreas Mihm) meldet.
Peter Thelen (Hbl) sieht in einer Rückkehr zum Versandhandelsverbot hingegen keine Option und Nikolaus Piper (SZ) sieht das Urteil als Chance, dass die Kosten für Patienten sinken.
Die wichtigsten Fragen zum Urteil und dessen Folgen beantwortet die SZ (Wolfgang Janisch u.a.).
BGH zu Kundus: Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Jakob Hohnerlein und Timo Schwander setzen sich auf juwiss.de kritisch mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs auseinander, den Opfern des Kundus-Luftangriffs Schadensersatz zu versagen. Der BGH scheine "seinen originalistischen Eifer eher selektiv einzusetzen" und zeige ein "antiquiertes Völkerrechtsverständnis".
LG Bonn zu "CDU" in Bayern: Das Landgericht Bonn hat auf Antrag der Bundes-CDU eine einstweilige Verfügung gegen das ehemalige CSU-Mitglied Michael Kosmala erlassen, der aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik der CSU einen Verein namens "CDU in Bayern e.V." gründen wollte. Unter Androhung von Ordnungshaft wird ihm untersagt, den Namen "Christlich Demokratische Union Deutschlands" und die Kurzbezeichnung CDU zu verwenden, schreibt die SZ (Robert Roßmann).
Dieter Hömig: Wolfgang Janisch (SZ) hat einen Nachruf auf den ehemaligen Verfassungsrichter Dieter Hömig verfasst, der am Dienstag verstorben ist. Hömig sei für wichtige Entscheidungen mitverantwortlich gewesen, unter anderem zum Luftsicherheitsgesetz.
Recht in der Welt
ICSID-Richter Albert Jan van den Berg: Die FAZ (Marcus Jung) porträtiert Albert Jan van den Berg. Der Niederländer ist Vorsitzender im Verfahren zwischen Vattenfall und der Bundesrepublik Deutschland am internationalen Schiedsgericht ICSID.
Spanien – Stierkampfverbot: Das spanische Verfassungsgericht hat ein Verbot des Stierkampfes in Katalonien für verfassungswidrig erklärt. Zwar sei die Region für die Regulierung öffentlicher Veranstaltungen im Zeichen des Tierschutzes zuständig, jedoch sei der Stierkampf durch ein nationales Gesetz zum Kulturgut erklärt worden und damit der Kompetenz Kataloniens entzogen worden. Der Verfassungskonflikt hat für die langjährige Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit Kataloniens eine hohe symbolische Bedeutung, schreibt die FAZ (Leo Wieland).
Großbritannien – Rehabilitierung Homosexueller: Auch in Großbritannien sollen verurteilte Homosexuelle rehabilitiert werden. Das meldet spiegel.de. In England und Wales waren homosexuelle Handlungen bis 1967, in Nordirland sogar bis 1982 strafbar.
Sonstiges
Juristische Argumente von "Reichsbürgern": Anlässlich des tödlichen Angriffs eines "Reichsbürgers" auf Polizisten, setzt sich die Welt (Sven Felix Kellerhoff) mit juristischen Argumenten der sogenannten "Reichsbürger" auseinander. Diese würden behaupten, das Deutsche Reich habe gar nicht kapituliert, das Bundesverfassungsgericht habe dessen Fortbestehen bestätigt und die Bundesrepublik habe keine Verfassung. Alle Argumente sind laut Kellerhoff durch juristische und historische Tatsachen widerlegt.
Zinssatz im Steuerrecht: Die unterschiedliche Festlegung von Zinssätzen in Steuer- und Bilanzrecht verstößt gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes. Zu diesem Ergebnis kommen Johanna Hey vom Institut für Steuerrecht der Universität Köln und Sascha Steffen vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim in der Studie "Steuergesetzliche Zinstypisierungen und Niedrigzinsumfeld", auf die die FAZ (Georg Giersberg) hinweist.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/dw
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 21. Oktober 2016: Schadensersatz bei fehlendem Kita-Platz / Geheime Telefonliste / Juristische Argumente der "Reichsbürger" . In: Legal Tribune Online, 21.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20934/ (abgerufen am: 17.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag