Auch EU-Zuwanderer haben Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Außerdem in der Presseschau: Einzelfallprüfung bei syrischen Flüchtlingen, Tierschutzvorschriften gelten auch für Tierschützer und KJM zu Pornographie.
Thema des Tages
BSG zu Sozialhilfe für EU-Zuwanderer: Das Bundessozialgericht hat in einem Grundsatzurteil entschieden, dass EU-Zuwanderer einen Anspruch auf Sozialhilfe haben können. Zwar müsse ihnen nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kein Anspruch auf Hartz IV eingeräumt werden, sie könnten aber Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum haben – und zwar über die Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII, die der Höhe nach dem Hartz-IV-Anspruch entsprechen. Voraussetzung des Grundsicherungsanspruchs sei ein verfestigter Aufenthalt, der gegeben sei, wenn sich ein Zuwanderer mehr als sechs Monate in Deutschland aufhalte. Durch die Anerkennung dieses Anspruchs habe das BSG eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vermieden, schreibt die SZ (Wolfgang Janisch). Das BVerfG hatte 2012 entschieden, dass Asylbewerber Anspruch auf ein durch die Menschenwürde garantiertes Existenzminimum haben. Einige Sozialgerichte hatten deshalb in den vergangenen Wochen verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen Leistungsausschluss artikuliert.
Rechtspolitik
Bundeswehreinsatz in Syrien: Anlässlich der heutigen Entscheidung des Bundestages über den Antrag der Bundesregierung für eine militärische Unterstützung Frankreichs im Kampf gegen die Terrororganisation "IS", widmet sich der Rechtsprofessor Jasper Finke auf juwiss.de noch einmal ausführlich den verfassungs- und völkerrechtlichen Problemen, die der Einsatz aufwirft. Der im Gutachten des Wissentschaftlichen Dienstes und vorliegenden Mandatstext erzeugte Eindruck rechtlicher Eindeutigkeit trüge. Ebenfalls auf juwiss.de befasst sich Hannes Rathke mit der Frage, ob die EU ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ist. Artikel 42 Abs. 7 EUV erscheine diesbezüglich als Nukleus einer gemeinsamen Verteidigung, der einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit entspreche. Wie die BadZ (Christian Rath) schreibt, gibt es starke juristische Zweifel am Einsatz der Bundeswehr gegen den "IS", für die das Bundesverfassungsgericht aber nicht zuständig sei. Im Interview mit spiegel.de (Dietmar Hipp) kommt der Völkerrechtler Daniel-Erasmus Khan, dagegen zu dem Schluss, dass eine Klage der Opposition gegen den Einsatz vor dem BVerfG zumindest im Hauptsacheverfahren gute Chancen hat. Rainer Arnold und Agnieszka Brugger (taz) stellen Pro & Contra eines deutschen Syrien-Einsatzes gegenüber. Im HBl spricht sich der ehemalige Verteidigungsminister Guttenberg für den Einsatz aus. Deutschlands bescheidener militärischer Beitrag sei bei allen berechtigten Zweifeln richtig.
EU-Fluggastdaten: Kommission, Ministerrat und EU-Parlament verhandeln derzeit über einen endgültigen Entwurf zur Fluggastvorratsdatenspeicherung. Danach sollen künftig bis zu 60 Einzeldaten – wie Reiseroute, Zahlungsinformationen und Essenswünsche – eines jeden Passagiers bis zu fünf Jahre lang gespeichert werden und an neue zentrale Sammelstellen weitergeleitet werden, wo sie mit polizeilichen Datenbanken abgeglichen werden sollen. Sollte der Entwurf durchgehen, wollen die Grünen dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Anhand von Beispielen aus einzelnen Mitgliedstaaten zeigt zeit.de (Patrick Beuth) auf, wie mehr Überwachung zur Standardreaktion auf Terror in Europa geworden ist.
EU-Datenschutzgrundverordnung: Die EU-Datenschutzgrundverordnung, die noch in diesem Jahr verabschiedet werden soll, geht Datenschützern obleich ihres Rufs als das neue "Grundgesetz" des Datenschutzes nicht weit genug. Grund dafür ist, dass sie auch wegen des Drängens der Bundesregierung, Unternehmen von strengen Anforderungen zu befreien, in einigen Punkten hinter dem in Deutschland geltenden Datenschutzniveau zurückbleibt. So sei etwa vor der Zweckbindung, nach der Daten nur für Zwecke verwendet werden dürfen, für die der Nutzer zuvor seine Zustimmung gegeben hat, gewarnt worden, schreibt HBl (Dana Heide/Anja Stehle).
Telemediengesetz: Wie netzpolitik.org (Markus Beckedahl) schreibt, hat die EU-Kommission den Gesetz-Entwurf zur Reform des Telemediengesetzes, dessen erste Lesung vergangene Nacht stattfand, kritisiert. In dem Schreiben, das im Volltext wiedergegeben wird, weise die EU-Kommission darauf hin, dass der geplante § 8 TMG (WLAN-Störerhaftung) gegen Artikel 12 der E-Commerce-Richtlinie verstößt. Danach seien Access-Provider nämlich ohne weitere Voraussetzungen von der Haftung für Rechtsverstöße Dritter freizustellen. Weitere Kritikpunkte seien die unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf unternehmerische Freiheit und auf Meinungsfreiheit.
Rückkehr zur Einzelfallprüfung: Auf der Innenministerkonferenz haben die Innenminister der Länder beschlossen, dem Vorschlag von Bundesinnenminister de Maizière zu folgen und künftig wieder in jedem Einzelfall zu prüfen, ob syrische Flüchtlinge Asyl erhalten. Die Einzelfallprüfung war vor einem Jahr aufgehoben worden, um die Verfahren für Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg zu beschleunigen. Mit der Rückkehr werde nun dem Ruf nach einer präzisen Registrierung aller Flüchtlinge Folge geleistet, der nach den Terroranschlägen von Paris laut geworden sei, schreibt SZ (Stefan Braun).
Justiz
EuGH zu Tierschutz: Die strengen EU-Tierschutzvorschriften, die primär bei internationalen Tiertransporten zu wirtschaftlichen Zwecken gelten, sind nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auch bei der Vermittlung von Tieren durch einen Tierschutzverein anzuwenden. Nach Auffassung des EuGH liege eine "wirtschaftliche Tätigkeit" auch dann vor, wenn der Verein "keine Gewinnerzielungsabsicht" habe, schreibt die taz (Christian Rath).
BGH zu Anti-Terror-Paragraf: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in dieser Woche die Begründung seines (im Oktober verkündeten) Urteils zum Anti-Terror-Paragrafen 89a StGB veröffentlicht. spiegel.de (Dietmar Hipp) betont, dass der BGH die zurückhaltende Anwendung der Vorschrift angemahnt hat. Bislang diente sie oft als Ermittlungsgrundlage gegen Islamisten, die in Kampfgebieten waren oder dorthin reisen wollten. Künftig müsse die Vorschrift vor allem auf geplante staatsgefährdende Gewalttaten in Deutschland angewandt werden. Soweit sie für Gewalttaten im Ausland noch anwendbar sei, könne es nicht mehr um Bürgerkriegshandlungen gehen.
OVG Münster zu Nachtflug: Das Oberverwaltungsgericht Münster hat die von der Bezirksregierung Münster erteilte Genehmigung für den Flughafen, mit der erstmals planmäßiger Flugverkehr in der Nachtzeit zugelassen worden war, für rechtswidrig und nicht vollziehbar erklärt, weil ihr eine fehlerhafte Abwägung der widerstreitenden Interessen zugrunde liege. Wie lto.de schreibt, bleibt die Genehmigung aber dennoch bestehen, weil die Abwägungsmängel in einem ergänzenden Verfahren behoben werden könnten.
OLG München – NSU-Prozess: Im NSU-Prozess zeichnet sich ab, dass Beate Zschäpe kommenden Mittwoch ihr mittlerweile zweieinhalb Jahre andauerndes Schweigen brechen wird, meldet die SZ.
OLG München – Illegale Downloads: Die SZ (Ekkehard Müller-Jentsch) schildert den Zug eines Elternpaares, deren Kind auf einer Tauschbörse illegal Musik zum Tausch angeboten haben soll, durch die Instanzen. Die Eltern argumentieren, es sei ihnen im Rahmen ihrer "sekundären Darlegungspflicht" nicht zuzumuten, ihre eigenen Kinder zu belasten. Bevor das Oberlandesgericht (OLG) München am 14. Januar 2016 seine Entscheidung verkünden wird, will es noch ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs in einem ähnlich gelagerten Fall abwarten.
ArbG Berlin zu Urlaubsanspruch nach Tod: Nun befasst sich auch der Rechtsanwalt Roland Gastell auf handelsblatt.rechtsboard mit dem Urteil des Arbeitsgerichts Berlin, nach dem sich Urlaubsansprüche nach dem Tod des Arbeitnehmers in einen Abgeltungsanspruch der Erben umwandeln. Mit seiner Entscheidung sei das ArbG einem Urteil des EuGH aus dem Jahr 2014 in der Rechtssache Bollake gefolgt, das Bundesarbeitsgericht habe zuvor noch anders entschieden.
LG München II – Modellauto-Affäre: Wie die FAZ (Albert Schäffer) berichtet, hat vor dem Landgericht München II der Prozess gegen den Landgerichtsarzt Hubert Haderthauer begonnen. Dem Ehemann der früheren bayrischen Staatskanzleiministerin Christine Hadertauer wird Betrug und Steuerhinterziehung vorgeworfen. Er soll beim lukrativen Geschäft mit von Häftlingen gegen ein "Therapiegeld" produzierten Modellautos einen Mitgesellschafter durch fingierte Betriebsausgaben getäuscht und Ausgaben für eine Mitarbeiter gewinnmindernd verbucht haben, die er nie beschäftigte.
LG Tübingen zu gemeinschaftlicher Vergewaltigung: Wegen gemeinschaftlich begangener Vergewaltigung einer Vierundzwanzigjährigen sind vier Männer vom Landgericht Tübingen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu Jugendstrafen zwischen sechs und sieben Jahren, bzw. einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren, verurteilt worden. Für das abgesprochene Vorgehen der Männer gäbe es in Deutschland kaum Präzedenzfälle, schreibt die FAZ (Rüdiger Soldt).
LG Bamberg – Tödlicher Drogenrausch: Vor dem Landgericht Bamberg muss sich ein 24-Jähriger wegen Mordes und versuchten Mordes durch Unterlassen aus niedrigen Beweggründen verantworten. Er ließ auf einer Party zwei Männer aus einer Flasche mit Liquid Ecstasy trinken. Einer der Männer konnte nach Atemnot und Bewusstlosigkeit gerettet werden, der andere verstarb. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeklagte wahrgenommen hat, wie die beiden die Droge zu sich nahmen und bewusstlos wurden und trotzdem nichts unternommen hat, schreibt die SZ (Olaf Przybilla).
Recht in der Welt
Großbritannien – Anti-IS-Koalition: Das britische Parlament hat entgegen früherer Ablehnung nun mit deutlicher Mehrheit für eine Beteiligung an der französich-amerikanischen Koalition gegen die Terrororganisation "IS" gestimmt. 397 Abgeordnete votierten für den Vorschlag der konservativen Regierung, 223 dagegen, meldet spiegel.de.
Ungarn – EU-Flüchtlingsverteilung: Einen Tag nach der Slowakei hat nun auch Ungarn Klage beim Europäischen Gerichtshof gegen die von der EU beschlossene Flüchtlingsverteilung eingereicht. Die EU-Innenminister hatten am 22.September die Umverteilung von 120.000 Asylbewerbern beschlossen, von denen Ungarn und die Slowakei jeweils 2.300 aufnehmen sollten. Die Entscheidung sei in einer Mehrheitsentscheidung gegen den Widerstand der Slowakei, Tschechiens, Ungarns und Rumäniens gefallen, berichtet zeit.de.
USA – VW-Dieselaffäre: Die Flut der US-Sammelklagen gegen den VW-Konzern hält unvermindert an. Seit Bekanntwerden der Vorwürfe vor zweieinhalb Monaten wurden nahezu 500 solcher Zivilklagen bei Gerichten aller US-Bundesstaaten eingereicht. Dabei sind auch weitere Konzernmarken, wie die Audi AG und Porsche, und der Zulieferer Bosch im Fokus. Zudem seien einige der Klagen gegen den früheren VW-Chef Martin Winterkorn gerichtet worden. Die Kläger werfen VW zumeist Betrug, Täuschung oder Wettbewerbsverstöße vor. Bosch wiederum werfen die Anwälte in einer jüngst eingereichten Klage vor, zusammen mit VW eine "Verschwörung" angezettelt zu haben, schreibt die SZ (Thomas Fromm, u.a.).
Sonstiges
DIMR behält A-Status: Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) wird nicht auf den B-Status herabgestuft und behält so sein Rederecht im UN-Menschrechtsrat. Der Akkreditierungsausschuss des Internationalen Dachverbands der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (ICC) hat erneut den A-Status empfohlen und dabei das neue DIMR-Gesetz gewürdigt, mit dem der Status des Instituts entsprechend den UN-Vorgaben, zu denen volle Unabhängigkeit und eine angemessene Finanzierung zählen, kodifiziert. Das Gesetz war am 18. März wenige Stunden vor der Sitzung des Akkreditierungsausschusses verabschiedet worden, berichtet lto.de.
KJM legt Pornographiebegriff aus: Im Hinblick auf einen Prüffall der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), bei dem die Erotik-Talkshow eines privaten Rundfunkveranstalters wegen ihres "erheblichen Obszönitätscharakters" als pornographisch im Sinne von § 184 StGB eingestuft wurde, wirft der Professor für Medienrecht und Medientheorie Marc Liesching auf block.beck.de die Frage auf, ob damit eine erweiternde Auslegung des strafrechtlichen Pornographiebegriffs einhergehe.
Das Letzte zum Schluss
Zwangsmitlieder: Wie man ein Gerichtsurteil befolgt und trotzdem ins Gegenteil verkehrt, demonstriert Facebook in Belgien: Weil ein belgisches Gericht dem Netzwerk verbot, das Suchverhalten von Nutzern aufzuzeichnen, die frei zugängliche Facebook-Profile ansteuern, aber keinen eigenen Account besitzen, will das Unternehmen solche Online-Besucher künftig aussperren. Wer nun in Belgien bislang frei zugängliche Facebook-Seiten von Institutionen, Vereinen, Unternehmen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aufrufen will, kann dies nur, wenn er sich auf Mark Zuckerbergs Plattform eingeschrieben hat. Der Konzern hätte auch anders reagieren und das Programm "datr-Cookie" entfernen können, das die Spur eines jeden Facebook-Besuchers aufzeichnet. Dies war die Intention des Gerichts – dem Konzern den Zugriff auf Daten von Menschen zu verbieten, die einfach vorbeischauen, schreibt die FAZ (Michael Hanfeld).
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/ml
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 4. Dezember 2015: Sozialhilfe für EU-Zuwanderer / Rückkehr zur Einzelfallprüfung / Tierschutz für Tierschützer . In: Legal Tribune Online, 04.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17755/ (abgerufen am: 06.05.2024 )
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