Der polizeiliche Einsatz von Wasserwerfern gegen Demonstranten am Stuttgarter Schlossgarten am "schwarzen Donnerstag" war rechtswidrig. Außerdem in der Presseschau: BGH ändert Rechtsprechung zu Mietanpassungen und Fehler in der Strafjustiz.
Thema des Tages
VG Stuttgart zu S21-Polizeieinsatz: Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat entschieden, dass der Protest gegen Baumrodungen im Stuttgarter Schlossgarten vom 30. September 2010 von der Versammlungsfreiheit gedeckt war; die Polizei hat in rechtswidriger Weise Platzverweise gegenüber den Klägern ausgesprochen. Daraus ergebe sich auch die Rechtswidrigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen – insbesondere des Einsatzes von Wasserwerfern. Das Gericht führte aus, dass einzeln aufgetretene unfriedliche Aktionen von Demonstrationsteilnehmern nicht die Auflösung der Versammlung rechtfertigten. Zudem bestünden erhebliche Zweifel daran, dass der Wasserwerfereinsatz gegenüber den Klägern verhältnismäßig war. Die Parteien können gegen die Entscheidung in Berufung gehen. Dies berichten FAZ (Rüdiger Soldt), taz (Benno Stieber) und zeit.de.
"Schwarzer Donnerstag, und immer noch kein Ende?" Josef Kelnberger (SZ) sieht in dem Urteil eine "Chance zur Versöhnung". Das Land sollte sich bei den Verletzten entschuldigen und ihnen Schadensersatz anbieten. Ruhe werde allerdings um Stuttgart 21 nicht einkehren – Kritiker sehen den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als "Verräter", da er das Projekt nicht aufhalte. Kelnberger betont allerdings, Kretschmann halte sich lediglich an "Recht und Gesetz und einen Volksentscheid".
Rechtspolitik
Vorratsdatenspeicherung: netzpolitik.org (Anna Biselli) veröffentlicht die Entgegnung der Bundesregierung auf die Stellungnahme der EU-Kommission zur geplanten Vorratsdatenspeicherung. Ausführlich stellt der Beitrag dar, inwieweit das Vorbringen der Regierung (unabsichtlich) Zweifel an der Zulässigkeit der geplanten Regelung eher unterstütze.
Neue Asylrechtsreform: Die Bundesregierung plant in einer weiteren Reform des Asylrechts, beschleunigte Verfahren einzuführen. Diese sollen nicht nur für Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten anwendbar sein, sondern auch für Flüchtlinge, die "falsche, widersprüchliche oder 'offensichtlich unwahrscheinliche' Angaben gemacht, Dokumente zurückgehalten oder ihre Papiere 'mutwillig vernichtet oder beseitigt'" haben. Auch unrechtmäßig Eingereiste sollen von dem Schnellverfahren betroffen sein, meldet zeit.de. Pro Asyl sieht einen "Frontalangriff auf das deutsche Asylrecht".
Außerdem sollen laut dem Gesetzentwurf des Innenministeriums Flüchtlinge, die nur subsidiären Schutz erhalten, sollen erst nach zwei Jahren dazu berechtigt sein, ihre Familien nachzuholen. Die Beschränkung des Nachzugs sei auch für die Eltern minderjähriger Flüchtlinge notwendig, damit Familien keine Anreize dazu erhielten, ihre minderjährigen Kinder alleine auf die Flucht zu schicken, so das Innenministerium laut SZ (Jan Bielicki).
Jan Bielicki (SZ) betont das Recht auf Familie für minderjährige Flüchtlinge. Die meisten Familien ließen ihre Kinder alleine aufbrechen, weil sie davon ausgingen, dass sie in Europa ein besseres Leben als zu Hause erwartet.
EU-Terrorabwehr: Am kommenden Freitag sollen die EU-Innen- und Justizminister auf einem Sondertreffen über weitere Maßnahmen zur Terrorabwehr beraten. Der Fokus liege auf schärferen Kontrollen an den EU-Außengrenzen, der Speicherung von Fluggastdaten sowie besseren Vorkehrungen gegen illegalen Waffenhandel und Terrorismusfinanzierung, so die FAZ (Michael Stabenow). spiegel.de fasst die Pläne der EU-Kommission zusammen, welche unter anderem Handel und Registrierung von Waffen strenger kontrollieren will.
Leiharbeit/Werkverträge: Die taz (Pascal Beucker) fasst die geplanten Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zusammen. Weder Gewerkschaften noch Arbeitgeber begrüßten die Pläne – von Seiten der IG-Metall werde der Gesetzentwurf als "nicht ausreichend" empfunden, wohingegen Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer einen "Angriff auf die moderne, arbeitsteilige Wirtschaft" sieht.
Justiz
BGH zu Mietanpassungen: Vermieter dürfen sich bei ihrem Mieterhöhungsverlangen an der tatsächlichen Größe der Wohnung orientieren, auch wenn diese erheblich größer ist, als die vertraglich festgelegte – sie müssen sich allerdings an die Kappungsgrenze halten. Maßgeblich sei der "objektive Wohnwert". Dies entschied der Bundesgerichtshof und gibt damit seine bisherige Rechtsprechung auf, nach der eine Abweichung der tatsächlichen von der vertraglich festgelegten Fläche erst ab 10 Prozent rechtliche Auswirkungen auf den Mietanpassungsanspruch hatte. Die FAZ (Joachim Jahn) berichtet. Auf lto.de behandelt Dominik Schüller, Rechtsanwalt, die Entscheidung. Die SZ (Wolfgang Janisch) vermutet, es werde sich zugunsten der Mieter auswirken, dass die tatsächliche Wohnungsgröße die Miete bestimmt, zahlreiche Mietverträge wiesen eine zu große Wohnungsfläche aus.
Joachim Jahn (FAZ) begrüßt, dass der Bundesgerichtshof Klarheit ("ein wenig jedenfalls") und mehr Gerechtigkeit für Mieter geschaffen hat. Er mahnt allerdings, es sei nach wie vor nötig, dass der Bundestag die Berechnungsregeln für Wohnraummiete vereinheitlicht und unterstreicht zudem, tatsächliche finanzielle Entlastungen für die Mieter seien nur bedingt zu erhoffen.
VG Gelsenkirchen zu Veranstaltungsausschluss: Gemeinden sind dazu berechtigt, Rechtsradikale von öffentlichen Veranstaltungen auszuschließen, wenn der private Eigentümer der Veranstaltungsräume ein entsprechendes Hausverbot verhängt hat. Dies entschied das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, schreibt die taz (Ronny Müller).
BVerfG – Leistungen der Krankenkasse: Bundesverfassungsrichter Ferdinand Kirchhof hat in einem Vortrag moniert, der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) unterliege einem Demokratiedefizit. Seine Feststellungen könnten Rückschlüsse auf eine am Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerde einer Krankenversicherten zulassen, welche unter anderem rügt, der GBA sei nicht ausreichend legitimiert, Leistungen der Krankenkassen zu bestimmen, so die FAZ (ami./Joachim Jahn). Wahrscheinlich sei, dass die Entscheidung "weitgehend abgeschlossen" sei, Juristen gingen hingegen weniger davon aus, dass Kirchhof Einblick in ein geplantes Minderheitsvotum gewährte.
Fehler der Strafjustiz: Der Strafverteidiger Johann Schwenn beleuchtet in einem Gastbeitrag für die Zeit, "warum die Strafjustiz so viele Fehlurteile produziert" und erläutert ausführlich die "Fallen und Lücken" des Strafprozessrechts, "in denen so manch Unschuldiger verschwunden ist".
Frankreich – "Krieg" mit IS? Der Strafrechtler Reinhard Merkel stellt in einem FAZ-Gastbeitrag fest, Hollande attestiere dem IS indirekt, ein Staat zu sein, wenn er ihn als Kriegsgegner ansehe; nach geltendem Völkerrecht könnten nur Staaten Partei eines internationalen, bewaffneten Konflikts sein. Ein "Krieg" könne daher nicht die völkerrechtliche Lösung bieten, um ein militärisches Vorgehen gegen den IS zu legitimieren. Auch das Selbstverteidigungsrecht aus Artikel 51 der UN-Charta könne diese Legitimationsschwierigkeiten nicht lösen. Merkel betont, Frankreich käme nicht umhin, den UN-Sicherheitsrat anzurufen.
EU/Frankreich – Beistandsfall: verfassungsblog.de (Philip Weyand) befasst sich mit der Frage, ob der europäische Beistandsfall nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags eine "Militarisierung der Europäischen Außenpolitik" bedinge.
Dänemark – Asylrechtsverschärfung: Am heutigen Mittwoch will die dänische Regierung dem Parlament einen Gesetzentwurf zur Verschärfung des Asylrechts vorlegen. Die geplanten Regelungen sollen unter anderem die Polizei dazu befugen, Asylbewerber bei ihrer Einreise zur Identitätsfeststellung "eine kürzere Zeit lang" festzuhalten. Auch sollen private Unternehmen dazu eingesetzt werden können, Asylbewerber zu registrieren und Festgenommene zu überwachen, meldet die FAZ.
Sonstiges
Gefangenengewerkschaft: Die "Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation" setzt sich für "soziale Mindeststandards" für arbeitende Gefangene in den Justizvollzugsanstalten ein, so der Sprecher der Gewerkschaft Oliver Rast. lto.de (Tanja Podolski) bietet einen Einblick in die Arbeit der Gewerkschaft und gibt Strafrechtsprofessor Henning Ernst Mueller wieder, der erläutert, welche Umstände einem Erfolg des Vorhabens entgegen stehen könnten.
Terror und Sicherheit: Heribert Prantl (SZ) stellt fest, Polizei und Innenminister können bei der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit nur die "weniger falsche Entscheidung" treffen – eine insbesondere für Politiker hohe Verantwortung. Er mahnt, Rechtsstaaten "dürfen ihre Besonnenheit nicht aufgeben und ihre Rechtsstaatlichkeit nicht dezimieren". Den Anker der Rechtsstaaten sieht Prantl in der "absoluten Gewissheit darüber, was der innerste, abwägungsfeste, unantastbare Kern des freiheitlichen Rechtsstaats ist, ohne den er seine Substanz verliert".
Reinhard Müller (FAZ) betont im Leitartikel, dass es eine Straftat wäre, eine Veranstaltung angesichts eines drohenden Massenmordes nicht abzusagen – es sei Polizeialltag, wenn sich manche Gefahren später nicht bewahrheiteten. Er führt verschiedene Maßnahmen an, die zur Terrorabwehr beitragen könnten, etwa Grenzschutz, gute Geheimdienstarbeit und polizeiliche wie militärische Spezialkräfte. Besonders gelte es, das Weltbild der Wertegemeinschaft EU hochzuhalten, die die Würde des Menschen, Freiheit (aller Religionen) und Gleichheit garantiere.
Verlust der Staatsangehörigkeit: Angesichts der Stimmen, die sich dafür aussprechen islamistischen Terroristen die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen, erläutert die FAZ (ahan.) unter welchen Umständen dies zulässig ist.
Haftung für Streiks: Unter welchen Bedingungen müssen Gewerkschaften für durch Streiks entstandene Schäden haften? Mit dieser "äußerst komplexen" Haftungsfrage befasst sich das Hbl (Jens Koenen).
Kritik an Radbruch: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Benjamin Lahusen erinnert in einem Gastbeitrag in der Zeit an die Formel vom gesetzlichen Unrecht von Gustav Radbruch. Kritisch befasst er sich mit der Aussage Radbruchs, der Positivismus – Gesetz ist Gesetz – habe "den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts". Ein großer Teil der nationalsozialistischen Justiz habe nicht auf geschriebenem Recht basiert.
Das Letzte zum Schluss
Leichtes Spiel für die Polizei: Es ist nicht die beste Idee, Name und Adresse am Tatort zu hinterlassen... Dies hat ein Straßenräuber in Hildesheim feststellen dürfen. Nachdem er einer 81-Jährigen die Handtasche entwendet hatte, wollte er auf seinem Fahrrad flüchten. In der Eile stieß er mit einer Straßenlaterne zusammen, wobei er einen an ihn adressierten Brief verlor. Dieser erleichterte es den Polizeibeamten wohl enorm, den Täter festzunehmen, meldet die SZ.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 19. November 2015: Polizeieinsatz gegen S21-Gegner rechtswidrig / BGH ändert Rechtsprechung zu Mietanpassungen / Fehler in der Straf&s . In: Legal Tribune Online, 19.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17588/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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