Auch Richter und Staatsanwälte dürfen kritisiert werden – die Große Kammer des EGMR schützt das Recht der Anwälte auf Justizkritik. Außerdem in der Presseschau: Prozessbeginn im Fall Tuğçe, 200 Verhandlungstage im NSU-Prozess, NSA spionierte wohl seit Jahren über den BND westeuropäische Konzerne und Politiker aus, juristische Aspekte des Live-Streamings und Beklagte kriegt Rüffel von Gericht für mangelnde Empathie.
Thema des Tages
EGMR zu anwaltlicher Justizkritik: Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schützt mit einer Entscheidung vom gestrigen Donnerstag das Recht von Anwälten auf Justizkritik und korrigiert damit ein Urteil der 5. Kammer des EGMR aus dem Jahre 2013. Der Kläger, der französische Anwalt Olivier Morice, hatte im Interview mit der Zeitung Le Monde unter anderem das Verhalten einer französischen Untersuchungsrichterin als "völlig unvereinbar mit den Prinzipien der Unparteilichkeit und Fairness" bezeichnet und war daraufhin zu einer Geldstrafe wegen Beihilfe zur Diffamierung öffentlicher Amtsträger verurteilt worden. Seine Beschwerde gegen das Urteil wies die 5. Kammer damals mit der Begründung ab, eine Verletzung der Meinungsfreiheit gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention liege nicht vor – Morice sei vielmehr als Rechtsanwalt verpflichtet zum "guten Funktionieren der Justiz" beizutragen. Die Große Kammer erklärte nun in ihrer Entscheidung, sie sehe darin zwar weiterhin einen legitimen Grund zur Einschränkung der Meinungsfreiheit, jedoch könnten unter bestimmten Bedingungen auch Richter und Staatsanwälte mit Kritik konfrontiert werden. verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis) erläutert den zugrundeliegenden Fall.
Rechtspolitik
Karenzzeiten für Politiker: Am gestrigen Donnerstag brachte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf im Bundestag ein, mit dem die Karenzzeiten der Politiker geregelt werden soll. In Frage-Antwort-Form informiert die SZ (Robert Rossmann) über die geplante Regelung. So solle die Karenzzeit grundsätzlich ein Jahr betragen und verhindern, dass "das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität der Bundesregierung beeinträchtigt wird".
Laut Robert Rossmann (SZ) sei das Gesetz bereits überfällig – bekannte "Seitenwechsel" wie die von Rösler oder Pofalla seien nicht auf ein "Geschmäckle" hin überprüft worden. Rossmann hält zudem fest, dass die Kritik, das Gesetz komme einem "Berufsverbot" für ehemalige Minister gleich, nicht berechtigt sei – wenn, sei die Regelung eher "zu mild" ausgefallen.
Justiz
EuGH zu Tierschutz bei Transporten außerhalb der EU: Der Europäische Gerichtshof entschied am gestrigen Donnerstag, dass bei Transporten von Tieren auch außerhalb der EU die europäischen Tierschutzregeln eingehalten werden müssen. Ausnahme seien nur zulässig, soweit die europäischen Vorgaben aus tatsächlichen Gründen nicht erfüllt werden könnten. Die Entscheidung erfolgte auf Vorlage des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs, meldet die Welt.
BVerwG zu Entschädigung für Enteignung NS-treuer Verleger: Das Bundesverwaltungsgericht entschied am gestrigen Donnerstag, dass Verleger, deren Zeitungen das NS-Regime befürworteten, keinen Anspruch auf staatliche Entschädigung wegen Enteignung nach dem Zweiten Weltkrieg haben. Sie müssten "für den Unrechtscharakter von Artikeln die Verantwortung übernehmen". welt.de (Sven Eichstädt) gibt die Argumentation des Gerichts wieder und erläutert den zugrundeliegenden Fall.
OLG München - NSU-Prozess: Die FAZ (Karin Truscheit) zieht anlässlich des 200. Verhandlungstags am gestrigen Donnerstag eine Zwischenbilanz zum NSU-Prozess. Der Beitrag befasst sich mit dem derzeitigen Verhandlungsgegenstand, den Schwierigkeiten und Konflikten innerhalb des Verfahrens, den Positionen von Verteidigung und Bundesanwaltschaft und prognostiziert die Beendigung der Verhandlungen im Jahr 2016. spiegel.de (Björn Hengst) informiert über den gestrigen Verhandlungstag und Aussagen der Zeugin Katrin D., die Einblicke in die Ideologie von Uwe Mundlos geben.
LG Lüneburg – Auschwitz-Prozess: Der Angeklagte im Auschwitz-Prozess vor dem Landgericht Lüneburg Oskar Gröning sagte am gestrigen Verhandlungstag auf Nachfrage der Nebenklage hin aus, ihm sei damals bewusst gewesen, dass das Konzentrationslager wohl den Tod für die betroffenen Juden bedeute. Des Weiteren gab er an, drei Mal an der Rampe geholfen zu haben – allerdings habe er dort nur das Gepäck der ankommenden Juden überwacht und nicht selber selektiert. Auch sagten erstmals Überlebende im Prozess aus. Bis Ende Juli seien 27 weitere Verhandlungstage angesetzt – Gröning habe bei einer Verurteilung mindestens drei Jahre Haft zu erwarten, so SZ (Johann Osel) und FAZ (Alexander Haneke). Die Berliner Zeitung (Christian Bommarius) erklärt, warum "Reue und das Bedürfnis nach Vergebung" des Angeklagten unglaubwürdig seien.
LG Essen – Middelhoff: Thomas Middelhoff werde wohl bald aus der Untersuchungshaft entlassen, denn die Kaution könne nun hinterlegt werden, so Joachim Jahn (FAZ). Die Entscheidung des Landgerichts Essen, den Haftbefehl Middelhoffs außer Vollzug zu setzen, sei "nicht zu kritisieren" – wenig bedeutsam sei allerdings, dass er seine beiden Pässe abgeben und sich regelmäßig auf dem Polizeirevier melden müsse. Einen "Beigeschmack" bekomme die Entscheidung allerdings durch die Öffentlichkeitsarbeit der Strafverteidiger zu Haftbedingungen und Zustand ihres Mandanten, da der Beschluss dadurch "beflügelt" worden sei, so Jahn. Er erklärt die Tragik des Schicksals Middelhoffs.
LG Darmstadt - Fall Tuğçe: Am heutigen Freitag wird vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Darmstadt der Prozess gegen Sanel M. wegen des Todes von Tuğçe Albayarak beginnen. M. ist wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt – er räumte vor dem Haftrichter den Schlag zum Kopf des Opfers ein, beteuert allerdings, er habe Tuğçe lediglich eine Ohrfeige geben wollen. spiegel.de (Julia Jüttner) legt den Fall dar und gibt einen knappen Einblick in M.'s Biografie. Die FAZ (Katharina Iskandar/Timo Frasch) erklärt unter dem Titel "kein normaler Fall", die Besonderheit im Fall Tuğçe – diese ergebe "weniger die Tat selbst", als die große öffentliche Resonanz. Das Gericht sei sich der "Schwere seiner Aufgabe bewusst".
LG München I – Deutsche Bank-Prozess: Am kommenden Dienstag wird der Prozess gegen den Co-Chef der Deutschen Bank Jürgen Fitschen sowie weitere hochrangige Ex-Mitarbeiter des Geldinstituts vor dem Landgericht München I beginnen. Die SZ (Klaus Ott) beschreibt kurz den Hintergrund zu den Vorwürfen des versuchten Prozessbetrugs.
Porträt zu Richter Peter Noll: Peter Noll wird im kommenden Deutsche Bank-Prozess vor dem Landgericht München I zuständiger Richter sein – die SZ (Klaus Ott) widmet ihm ein Porträt, bei dem seine Arbeitsweise besonders lobend erwähnt wird – mit Ausnahme der Entscheidung im Fall Ecclestone. So sei es kein "Widerspruch", dass sich sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschaft in besagtem Verfahren Peter Noll als Richter wünschen, sondern vielmehr dessen Akribie und "Wissbegierde" zuzuschreiben. "Seine Verfahren führt der Chef der fünften Strafkammer mit leichter Hand, viel Ironie und noch mehr Fürsorge."
Recht in der Welt
EuGH zu Führerscheinentzug: Der Europäische Gerichtshof entschied am gestrigen Donnerstag, dass EU-Länder beim Führerscheinentzug auch bei Ausländern strengere Standards anwenden dürfen. Im vorliegenden Fall war eine Österreicherin mit THC im Blut in Deutschland kontrolliert und als gelegentliche Cannabis-Konsumentin identifiziert worden. Daraufhin verboten ihr die deutschen Behörden das Führen eines Fahrzeugs in Deutschland – in Österreich hätte sie wohl noch fahren dürfen. Der EuGH bestätigte nun diese Entscheidung mit der Begründung "im Dienste der Sicherheit im Straßenverkehr" dürften die Staaten auch strengere Regelungen anwenden – die Maßnahmen müssten allerdings insbesondere verhältnismäßig sein, erklärt die SZ (Wolfgang Janisch).
USA – Sammlung von Telefondaten: Im US-Senat hat der Republikaner Mitch McConnell einen Gesetzentwurf vorgelegt, demzufolge die Befugnis der NSA, anlasslos Telefondaten zu sammeln, bis 2020 verlängert werden soll. Die derzeitige Überwachungserlaubnis laufe am 1. Juni aus. Kritiker fordern, nationale Sicherheit und die Privatsphäre der Bürger müssten gleichermaßen geschützt werden. spiegel.de (meu) berichtet zudem über ein weiteres datenschutzrechtlich umstrittenes Gesetz.
USA – Sex mit dementer Ehefrau: Der Mann, der wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs seiner dementen Ehefrau im US-Bundesstaat Iowa angeklagt war, wurde vergangenen Mittwoch freigesprochen. Die Frage, ob eine demente Frau dazu in der Lage ist in Geschlechtsverkehr einzuwilligen, beantwortete die Jury allerdings nicht, der Freispruch erging mangels eindeutiger Beweise für etwaigen Geschlechtsverkehr des Ehepaars. Die Welt (Michael Remke) informiert über den Fall und setzt sich mit der Frage auseinander, die die Geschworenen hier offen ließen.
Sonstiges
BND/NSA – Massenspionage: Der US-Auslandsgeheimdienst NSA soll mit Hilfe des BND jahrelang gezielt westeuropäische Konzerne und Politiker überwacht haben – der BND speiste Selektoren der NSA, wie IP-Adressen und Handynummern, zur Überwachung verschiedener Weltregionen in die eigenen Systeme ein. 40.000 dieser Selektoren sollen nach der neuesten Überprüfung gegen "westeuropäische und deutsche Interessen" verstoßen – bereits 2008 und 2013 sei Mitarbeitern des BND aufgefallen, dass einige der verwendeten Selektoren nicht – wie es zwischen Bundesrepublik und den USA vereinbart war – der Abwehr von Terrorismus dienten. Eine entsprechende Meldung an das Bundeskanzleramt sei erst vergangenen März erfolgt. Dies meldet spiegel.de (Maik Baumgärtner/Hubert Gude/Marcel Rosenbach/Jörg Schindler). zeit.de meldet weiter, das Bundeskanzleramt habe "im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht" "technische und organisatorische Defizite" beim BND festgestellt und die Behörde angewiesen, diese unverzüglich zu beheben. Regierungssprecher Seibert habe zudem erklärt, es gebe keine Hinweise auf "eine massenhafte Ausspähung deutscher und europäischer Staatsbürger".
Christian Rath (taz) erklärt, warum diese mutmaßliche "Massenspionage unter Freunden" "besonders dreist" wäre. Er hält allerdings fest, es sei noch unklar wie erfolgreich diese Überwachung gewesen sei. Die unterlassene Meldung des BND an die Bundesregierung wäre allerdings "innenpolitisch der größte Skandal". "Ein Geheimdienst, der der eigenen Regierung verheimlicht, dass die eigene Wirtschaft, das eigene Land von einem befreundeten Dienst systematisch ausgeforscht wird, ist – um es höflich zu formulieren – nicht sehr nützlich".
Live-Broadcast und Rechte Dritter: Der Rechtsanwalt Udo Vetter informiert auf arag.de über die relevanten Rechte Dritter bei der Liveübertragung von Bild- und Tonmaterial. Vetter warnt davor, allzu sorglos entsprechendes Material zu teilen, denn fehlende Einverständniserklärungen können zu Urheberrechts- und Persönlichkeitsverletzungen und gegebenenfalls sogar zu Schadensersatzansprüchen und Strafverfahren führen.
Das Letzte zum Schluss
Gericht moniert mangelnde Empathie: Eine Frau rutscht im Supermarkt in einer Pfütze aus und zieht sich dabei erhebliche Verletzungen zu. Das Amtsgericht Schönberg spricht ihr Schadensersatz zu, die beklagte Gesellschaft habe ihre Pflichten verletzt, da sie gerade an einem regnerischen Tag "zumutbare Kontrollmaßnahmen" unterlassen habe. Soweit klar. Besonders an dem Fall ist allerdings, dass sich das Gericht dazu berufen fühlte, der Beklagten zudem "mangelnde Empathie" anzulasten – eine Mitarbeiterin des Supermarkts warf einer hilfsbereiten Kundin vor, sie hätte doch nicht den teuren Tiefkühl-Fisch zum Mildern der Schmerzen der Klägerin verwenden müssen. justillon.de (Stephan Weinberger) erläutert den Fall.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 24. April 2015: EGMR erlaubt Justizkritik – Prozessbeginn im Fall Tuğçe – BND-Eklat . In: Legal Tribune Online, 24.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15342/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
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