EuGH lockert Verbot mehrfacher Strafverfolgung. Außerdem in der Presseschau: Mindestlohn auch für Bereitschaftsdienst, keine Auslieferung in die USA und Lux-Leaks-Whistleblower verurteilt.
Thema des Tages
EuGH zu erneuter Strafverfolgung: Wenn ein abgeschlossenes Ermittlungsverfahren in einem EU-Staat ein offensichtliches Defizit aufweist, hindert dessen Abschluss einen anderen Mitgliedsstaat nicht daran, ein eigenes Strafverfahren einzuleiten. Dies entschied der Europäische Gerichtshof und relativiert damit das transnationale Verbot der mehrfachen Strafverfolgung aus Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens zusammen mit Artikel 50 der EU-Grundrechtscharta. Dieses folge demnach nicht nur formalen Voraussetzungen, vielmehr eröffnet das Luxemburger Urteil eine materielle Prüfung der vorhergehenden Einstellungsentscheidung der Strafjustiz. Im vorliegenden Fall ging der EuGH von einem offensichtlichen Defizit aus, weil nicht richtig ermittelt worden sei. Strafrechtsprofessor Marco Mansdörfer beleuchtet das Urteil für lto.de. Die SZ (Wolfgang Janisch) bringt eine Meldung dazu.
Rechtspolitik
Erbschaftsteuer: Wie die FAZ (Kerstin Schwenn) meldet, werde der Bundesrat wohl empfehlen, hinsichtlich der Erbschaftsteuerreform den Vermittlungsausschuss einzuberufen. Der Beitrag resümiert die Kritik der Länderfinanzminister am Entwurf, dieser entspreche in einigen Teilaspekten nicht der verfassungsgemäßen Schonung betrieblichen Vermögens.
Der Publizist Rudolf Walther mahnt in der taz, erben sei nicht gerecht, und zitiert Kant, Locke und Hegel, die der Erbschaft ebenfalls kritisch gegenüber standen.
Lohngerechtigkeit: "Lohngleichheit ist die Folge echter Chancengleichheit und nicht die von Berichtspflichten für Unternehmen", moniert die Arbeitsrechtlerin Anna Köhn auf lto.de. Der Entwurf zum Lohngerechtigkeitsgesetz gehe an der Wirklichkeit vorbei und werde daher keine signifikante Senkung der Lohndifferenz zwischen Mann und Frau erreichen.
In der Zeit antwortet Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) auf eine Kritik am Lohngerechtigkeitsgesetz ("Regulierungswahn") in selbiger Zeitung von Kolja Rudzio. Sie betont, die Berichtspflichten seien leistbar und Lohntransparenz angesichts der Lohndifferenzen für gleichwertige Arbeit nötig. Sie bringt auch weitere Vorschläge, wie etwa eine Familienarbeitszeit vor, um die Gleichberechtigung von Frauen im Beruf zu gewährleisten.
Sexualstrafrecht: Der angestrebte Paradigmenwechsel der Sexualstrafrechtsreform wolle "die Wahrheitsfindung unüberprüfbar aus der Objektivität heraus und in die persönliche Deutungshoheit der Anzeigeerstatterin" legen, moniert Sabine Rückert (Die Zeit) in einer ausführlichen Kritik an der geplanten Reform. Sie kritisiert, Beweisschwierigkeiten könnten zulasten des Angeklagten ausfallen und beanstandet, Gerichten würden "hochgradig risikobehaftete Beweisführungen" aufgebürdet. Sie unterstützt die Strafverfolgungsbehörden im Fall Lohfink.
BND-Reform: "Der Versuch einen Geheimdienst der völligen parlamentarischen Transparenz zuzuführen, kann nur Enttäuschungen produzieren", konstatiert Mariam Lau (Die Zeit). Entweder gebe es einen Untersuchungsausschuss mit immer gleichen Vorwürfen oder der Geheimdienst würde faktisch abgeschafft – dabei, schildert Lau, brauche es einen guten Geheimdienst. zeit.de (Kai Biermann) erläutert ausführlich, warum die Reform dem BND noch mehr Befugnisse zukommen lasse und dessen Tätigkeit der parlamentarischen Kontrolle weiter entziehe.
Der ehemalige Chef des Bundesnachrichtendienstes Hansjörg Geiger stellt in der SZ Vor- und Nachteile der Reform dar. So begrüßt er etwa, dass das Gesetz einen Ständigen Bevollmächtigten einführen wolle. Kritisch sehe er, dass der Vorschlag außer acht lasse, dass Kooperationsstaaten ausgetauschte Daten entgegen der gemeinsamen Vereinbarung verwendeten. Er sieht die Chance verpasst, das BND-Gesetz grundsätzlich verständlicher zu gestalten.
Ceta: EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker meint, das Ceta-Abkommen falle ausschließlich in die Kompetenz der EU und mache so eine Abstimmung der nationalen Parlamente unnötig. FAZ (Hendrik Kafsack), Hbl (Dana Heide/Till Hoppe) und taz (Eric Bonse) schildern seine Argumentation, die einige Kritik hervorbrachte. Sigmar Gabriel (SPD) missbilligt etwa das "dumme Durchdrücken von Ceta".
Alexander Mühlauer (SZ) hebt hervor, wie wichtig Handelsabkommen wie Ceta und TTIP für die internationale Rolle der EU seien. Er unterstützt Jean-Claude Juncker bei seinem Vorstoß, da Abstimmungen der Parlamente dazu führten, dass die Abkommen nicht geschlossen würden.
Justiz
BAG zu Mindestlohn: Arbeitgeber müssen auch Bereitschaftszeiten des Arbeitnehmers mindestens mit dem Mindestlohn vergüten, wenn dieser sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort bereithalten muss, so ein Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts. Bei der Berechnung des Stundenlohns sei auf das Monatsentgelt abzustellen. Der Kläger hatte gefordert, die Stunden nach dem Tarifmodell zu beurteilen (demnach erhielte er für Bereitschaftsstunden 7,90 Euro) und seinen Lohn auf den Mindestlohn aufzustocken, schreiben taz (Christian Rath) und FAZ (Hendrik Wieduwilt).
BVerfG zu Auslieferung an die USA: Solange die USA den Grundsatz der Spezialität nicht achten und im Falle einer Auslieferung nicht wie bisher bei Diskrepanzen zwischen den Strafbestimmungen nur die Tat ahnden, die in beiden Staaten strafbar ist, verstoßen Auslieferungen in die USA gegen den Anspruch auf Rechtsschutz. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht. Zuvor hatte ein amerikanisches Bundesberufungsgericht besagten Grundsatz gekippt. Die SZ (Wolfgang Janisch) schildert den zugrundeliegenden Fall, der nun zurück an das Oberlandesgericht Frankfurt geht.
BVerfG zu Auslieferung an EU-Mitglied: Trotz EU-Haftbefehls dürfen deutsche Staatsbürger nicht an andere EU-Mitgliedsstaaten ausgeliefert werden, wenn sie die vorgeworfene Straftat in Deutschland geplant oder vorbereitet haben. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht in einem nun veröffentlichen Beschluss, meldet die SZ (Wolfgang Janisch) in einer kurzen Nebeninformation.
BGH zu KfZ-Standzeit: Eine lange Standzeit vor der Erstzulassung eines Wagens ist kein Sachmangel, wenn dieser gebraucht gekauft wird und die Standzeit aufgrund der Dauer der Zulassung, der Laufleistung, der Anzahl der Vorbesitzer und der Art der vorherigen Nutzung nicht ins Gewicht fällt. Dies entschied der Bundesgerichtshof, schreibt swr.de (Klaus Hempel).
BGH zu Befangenheit: Der Richter auf Probe Benedikt Meyer weist auf lto.de auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26. April diesen Jahres hin, dem zufolge ein Ablehnungsgesuch gemäß § 47 Absatz 2 Zivilprozessordnung weiterhin zulässig ist, auch wenn die vorbringende Partei zur Sache verhandelt. Meyer zeichnet den Fall und den Zweck des Gesetzes nach.
LG Augsburg zu Kindesvernachlässigung: Das Landgericht Augsburg hat eine Mutter wegen versuchten Totschlags an ihrem Baby zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Sie soll ihr Kind so sehr vernachlässigt haben, dass es wegen Unterernährung ins Krankenhaus gebracht wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haft von sechs Jahren und drei Monaten gefordert, meldet spiegel.de.
OLG München – NSU: Im NSU-Prozess weigerte sich der Zeuge Marcel D. nach wie vor, seine V-Mann-Tätigkeit zu bestätigen, obwohl deswegen bereits ein Verfahren wegen Falschaussage läuft. Nachdem das Gericht zu dem Schluss kam, dass er bei seinem letzten Auftritt als Zeuge aus dem Zeugenstand nicht entlassen wurde, kann er sich nun bis zur nächsten Befragung überlegen, ob er seine Aussage revidiert und so straflos bleibt, schreibt spiegel.de (Wiebke Ramm).
Kommende Woche sollen die Nebenkläger im NSU-Prozess erstmals Fragen an Zschäpe richten dürfen. Die SZ meldet, es sei unklar, ob die Angeklagte sich äußern werde – sie habe angekündigt, nicht zu antworten.
VG Gelsenkirchen zu Abschiebung: Die Zeit (Martin Klingst) zeigt anhand des Falls Sami A. wie kompliziert das Ausländer- und Asylrecht ist und wie das Folterverbot deutsche Behörden bindet. A. hat seine Aufenthaltserlaubnis verloren, weil er – entgegen eigener Angaben – als Leibwächter bin Ladens gearbeitet haben soll; wegen Foltergefahr darf er nicht nach Tunesien abgeschoben werden und wird stattdessen seit zehn Jahren überwacht.
BVerfG zu OMT-Programm: Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem OMT-Urteil gezeigt, dass die verfassungsrechtlichen Prinzipien von Identitäts- und ultra-vires-Kontrolle "doch nicht ganz so scharfe Schwerter" seien, konstatiert der wissenschaftliche Mitarbeiter Björn Schiffbauer auf juwiss.de. Allerdings könnten die in der Entscheidung vorgebrachten "gewichtigen Einwände" aus Karlsruhe zukünftige Beschwerdeführer ermutigen, auf dieser Basis gegen Unionsrechtsakte vorzugehen.
Recht in der Welt
Luxemburg - Lux-Leaks: Ein Luxemburger Gericht hat die Whistleblower in Sachen Lux-Leaks zu Freiheitsstrafen verurteilt – Antoine Deltour zu zwölf Monaten und Raphaël Halet zu neun Monaten, beide auf Bewährung. Den französischen Fernsehreporter Edouard Perrin, der eine Dokumentation über die Vorgänge bei PwC brachte, sprach das Gericht hingegen frei. Die SZ (Bastian Brinkmann) fasst die Enthüllungen und deren Folgen zusammen.
"Wenn es um Geld geht, müssen in Luxemburg offenbar auch die Menschenrechte zur Seite springen", moniert Christian Bommarius (BerlZ). Verrückt sei es, wenn "nicht der Dieb bestraft wird, sondern derjenige, der den Dieb überführt hat" und dies obwohl, die Verurteilten alle Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an Whistleblower erfüllten. blog.zeit.de bringt die Kritik der Anwälte Deltours William Bourdon und Apolline Cagnat, die in die gleiche Richtung geht. Sie befürchten, dass solche Strafen andere vom Whistleblowing abhalten können und führen aus, weshalb sie für Freispruch plädierten.
Großbritannien/EU - Brexit: Der Dozent für öffentliches Recht Paolo Sandro hinterfragt auf verfassungsblog.de in einem englischsprachigen Beitrag die Bedingungen unter denen Großbritannien das Brexit-Referendum durchgeführt hat. Zwar seien die politischen Freiheiten gewährleistet, allerdings sei die Durchsetzung bestimmter Menschenrechte, die eine funktionierende Demokratie ausmachten, fraglich. So hätten etwa nicht alle Bürger gleichermaßen Zugang zu Bildung.
"Die EU bleibt die unvollkommene politische Form Europas." Aber "was bringt es, Probleme unbedingt
alleine lösen zu wollen, die man alleine gar nicht lösen kann?". Der Professor für öffentliches Recht Christoph Möllers beschreibt in der Zeit – unter Verweis auf andere Lesarten des Referendums – seine eigenen Erkenntnisse. Er verneint etwa, dass die EU politisch gescheitert sei oder die Briten das falsche politische Bewusstsein hätten.
"Wer die Bürger alle zwanzig Jahre zu einer konkreten Entscheidung an die Urne bittet, darf sich nicht wundern, wenn sie überfordert sind." Charlotte Theile (SZ) zeigt an dem Beispiel Schweiz auf, dass direkte Demokratie "eine politische Kultur der Information und ein Verantwortungsbewusstsein" brauche.
USA – VW: Die SZ (Claus Hulverscheidt) resümiert, warum VW die juristischen Schwierigkeiten in den USA noch nicht überstanden habe. So werde etwa am heutigen Donnerstag noch ein Bundesrichter über den Vergleich zwischen VW und USA entscheiden. Danach haben auch die Kläger noch die Möglichkeit, eine Änderung zu beantragen.
Sonstiges
"Fliegender Gerichtsstand": Wieso landen zwei Drittel der presserechtlichen Verfahren vor den Oberlandesgerichten Köln, Hamburg und Berlin? Die Zeit (Constantin van Lijnden) setzt sich mit unterschiedlichen Erklärungen auseinander und nimmt dabei den "fliegenden Gerichtsstand" und dessen Vor- und Nachteile in den Fokus. Diese Sonderregelung des Zivilprozessrechts ermöglicht es, dass der Kläger in presserechtlichen Fragen den Ort des Gerichts wählen kann.
VW Abgasskandal: Der Vergleich zwischen USA und VW habe keine Folgen für Deutschland, legt die Die Zeit (Marcus Rohwetter/Arne Storn) dar. Derzeit relevant sei vielmehr die Frage, ob Winterkorn und ein anderer Vorstand sich wegen Manipulation des Kapitalmarkts strafbar gemacht haben. Der Beitrag erläutert den Vorwurf.
Das Letzte zum Schluss
Vierbeiniger Geiselnehmer: Welche Maus ihr wohl über die Leber gelaufen ist? Eine Katze in Wisconsin, USA hat ihre Besitzer so in Bedrängnis gesetzt, dass diese vor Hilflosigkeit die Polizei riefen. Diese führte den vierbeinigen Täter dann ab und beendete so die Gefangennahme, meldet justillon.de (Stefan Maier).
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 30. Juni 2016: Doppelte Strafverfolgung möglich / BAG zu Mindestlohn / Strafe für Lux-Leaks-Whistleblower . In: Legal Tribune Online, 30.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19840/ (abgerufen am: 05.05.2024 )
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