Das BVerfG maßt sich die Auslegung von EU-Recht an. Außerdem in der Presseschau: FDP will gegen Vorratsdatenspeicherung klagen, Fischer kritisiert Bürgerwehr und ein Kater mit (Rechts-)Persönlichkeit?
Thema des Tages
BVerfG zu EU-Haftbefehl: Das Bundesverfassungsgericht hat den Vollzug eines EU-Haftbefehls mit der Begründung untersagt, die Auslieferung verstoße gegen Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip. Die Richter hatten in dem nun veröffentlichten Beschluss hervorgehoben, die deutsche Verfassung habe in zentralen Fragen Vorrang vor EU-Recht. Letztlich machten sie jedoch keinen Fall von Verfassungsidentitäts-Kontrolle geltend, sondern beriefen sich auf EU-Recht. Im vorliegenden Fall war ein US-Amerikaner von einem italienischen Gericht in Abwesenheit zu einer 30-jährigen Haftstrafe verurteilt und in Deutschland festgenommen worden, woraufhin das Oberlandesgericht Düsseldorf seine Auslieferung verfügte. Gegen diese Entscheidung legte er Verfassungsbeschwerde ein. Das BVerfG argumentierte, es sei unklar, ob Italien dem Betroffenen eine neue Beweisaufnahme in seiner Anwesenheit und somit ein grundrechtlich legitimes Verfahren gewähre – dies müsse das OLG nun abschließend prüfen. Karlsruhe legte den Fall nicht dem Europäischen Gerichtshof vor, sondern das EU-Recht selbst aus, da die EU-Rechtslage hier offenkundig sei; der EuGH hatte allerdings in einem ähnlich gelagerten Fall (Melloni) eine Auslieferung nicht beanstandet. SZ (Wolfgang Janisch) und FAZ (Reinhard Müller – gekürzte Onlinefassung) heben die Ausführungen des Gerichts zur Verfassungsidentität hervor. Die taz (Christian Rath) betont, dass das BVerfG letztlich die Entscheidung nicht aufgrund der Verfassungsidentität, sondern nach EU-Recht traf. verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis) meint es sei nachvollziehbar, wenn sich das OLG Düsseldorf nun zur vollständigen Klärung an den Europäischen Gerichtshof wende.
Wolfgang Janisch (SZ) sieht eine Abkehr der Verfassungsrichter von der "Solange"-Rechtsprechung. Er meint, das Gericht hätte zu Recht "das Ende seines Wegschauens" in Fragen des EU-Rechts verkündet. "Das Prinzip des Vertrauens, das hinter den vereinfachten Auslieferungen bei EU-Haftbefehlen steckt, darf nicht dazu verführen, einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit andernorts zu ignorieren." "Nationale Alleingänge unter Missachtung der gemeinsamen vereinbarten Regeln bedeuten auf Dauer den Tod der Gemeinschaft", mahnt Reinhard Müller (FAZ). Hier seien allerdings "ureuropäische Normen" gefährdet.
Rechtspolitik
Asylrechtsreformen: Die Bundesregierung plant am heutigen Mittwoch, ein verschärftes Ausweisungsrecht im Kabinett auf den Weg zu bringen. Bezüglich des Asylpakets II gäbe es nach wie vor Unstimmigkeiten in der Koalition; Klärung werde am kommenden Donnerstag bei einem Gespräch der Koalitionsspitzen mit den Bundesländern erwartet. Die SZ (Stefan Braun) fasst die geplanten Regelungen beider Gesetzentwürfe sowie die Verhandlungen um das Asylpaket II zusammen. Auch das Hbl (Heike Anger/Daniel Delhaes u.a.) berichtet.
TTIP: Ab kommenden Montag sollen Bundestagsabgeordnete konsolidierte Verhandlungsdokumente zu TTIP, die nicht nur die europäische, sondern auch die US-amerikanische Position sichtbar machen, einsehen können. Die SZ (Michael Bauchmüller) fasst die Auflagen zusammen, unter denen die Einsicht erlaubt ist. Ziel sei es, die nationalen Parlamente einzubeziehen und so mehr Akzeptanz für das Abkommen zu schaffen. Auch Hbl (Dana Heide) und taz (Tanja Tricarico) informieren.
Dana Heide (Hbl) hält es für einen "wichtigen und längst überfälligen Schritt", dass die gewählten Volksvertreter Einsicht in die Dokumente erhalten. Dies sei dringend nötig gewesen, um den Fortschritt der Verhandlungen nicht zu gefährden. Heide kritisiert allerdings, dass die Abgeordneten den Leseraum nur für vier Stunden täglich nutzen dürften. Für "mehr Schein" als für einen "echten Erfolg" hält Tanja Tricarico (taz) die neue Transparenz, da die Abgeordneten nur wenig Zeit bekämen um "Hunderte Seiten voll von Fachtermini in englischer Sprache" zu lesen. Zudem bliebe die Bevölkerung nach wie vor ausgeschlossen.
In einem Gastbeitrag für die FAZ erläutert Jörg Risse, Rechtsanwalt, weshalb das zuungunsten des Unternehmens Philip Morris ausgegangene Schiedsgerichtsverfahren Zweifel von TTIP-Gegnern am im Freihandelsabkommen geplanten Investorenschutz zerstreue.
Obergrenzen: "Mini-Schengen oder die Einführung von Obergrenzen" – spiegel.de (Dietmar Hipp) erläutert, welche Maßnahmen deutsches und europäisches Recht im Hinblick auf die Lösung der Flüchtlingskrise zulassen.
Reform der Pflegeberufe: Mit dem Gesetz zur Reform von Pflegeberufen planen Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) und Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ein einheitliches Berufsbild des Pflegers zu schaffen. Der Leiter der Rechtsabteilung eines Sozialdezernats Franz Dillmann und die dort arbeitende Juristin Rahel Kruse schildern auf lto.de die geplanten Neuregelungen, insbesondere den Ablauf der Pflegeausbildung, das Ausbildungsziel und Kritikpunkte an der Reform.
Justiz
FDP plant Klage gegen Vorratsdatenspeicherung: Zwanzig FDP-Politiker – unter anderem Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – sowie die FDP als Partei planen am heutigen Mittwoch beim Bundesverfassungsgericht gegen die Vorratsdatenspeicherung Verfassungsbeschwerde einzureichen. Rechtsprofessor Heinrich Amadeus Wolff hat die Klage verfasst und argumentiert, das Gesetz verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie gegen das Bestimmtheitsgebot in 17 Punkten. Zudem gewährleiste es keinen umfassenden Schutz der Vertrauensberufe, resümiert die SZ (Heribert Prantl).
In einem separaten Beitrag, erinnert die SZ (Heribert Prantl – eingeschobener Beitrag) kurz an die frühere Regelung der Vorratsdatenspeicherung und fasst die Eckdaten der derzeitigen zusammen.
Im Interview mit der SZ (Wolfgang Janisch) erklärt der Psychotherapeut Jürgen Hardt, weshalb er seine Arbeit durch die Vorratsdatenspeicherung gefährdet sieht.
Bayern droht mit Klage wegen Flüchtlingspolitik: Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) droht in einem (vom bayerischen Kabinett beschlossenen) Schreiben an Bundeskanzlerin Merkel mit Verfassungsklage Bayerns, wenn die Bundesregierung ihre Flüchtlingspolitik nicht ändere. Das bayerische Kabinett fordere unter anderem eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr und, dass Flüchtlinge bereits an der deutschen Grenze registriert werden. Die SPD sieht den Brief als eine "Ankündigung des Koalitionsbruchs", schreiben die SZ (Daniela Kuhr/Nico Fried) und spiegel.de (Björn Hengst). Die FAZ (Jasper von Altenbockum) spekuliert über die Reaktion der Kanzlerin und skizziert eine unstete Flüchtlingspolitik der SPD.
Bei dem Brief handele es sich nicht um ein "Possenspiel", sondern um "eine Art Verzweiflungstat" als "Ausdruck von Ohnmacht", meint Daniela Kuhr (SZ). Die Chancen einer Klage seien gering.
Klagen gegen Zuckerkartell: Nach Informationen des Hbl (Volker Votsmeier/ Christoph Kapalschinski) haben 31 Unternehmen Klage gegen das Zuckerkartell der Produzenten Südzucker, Pfeifer & Langen und Nordzucker eingereicht. Die meisten Klagen sind am Landgericht Mannheim anhängig, die anderen vor den Landgerichten Köln und Hannover. Die Kläger – unter anderem Katjes, Nestlé und Müller Milch – fordern einen Schadensersatz in Höhe von insgesamt 315 Millionen Euro, weil ihre drei Zulieferer über Jahre Absprachen über Absatzgebiete und Preise getroffen hatten.
LG München I – Deutsche Bank: Das Landgericht München I will bis zum 23. Februar die Beweisaufnahme im Deutsche Bank-Prozess abschließen. Laut Vorsitzendem Richter Peter Noll, könne das Gericht nach der Osterpause das Urteil verkünden. Die SZ (Stephan Radomsky) resümiert Verfahren und Tatvorwurf. Laut einer Meldung der Welt habe Noll Zweifel an der Anklage geäußert.
LG München I – Hebamme: Eine Hebamme muss sich vor dem Landgericht München I wegen mehrerer Mordversuche an Schwangeren verantworten. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt sie, schwangeren Frauen während des Kaiserschnitts den Blutverdünner Heparin über die Infusion verabreicht zu haben, was einen lebensbedrohlichen Blutverlust bedingte. Die Angeklagte habe den Tod ihrer mutmaßlichen Opfer billigend in Kauf genommen. Die FAZ (Karin Truscheit) begleitete den ersten Verhandlungstag und stellt die Argumentation der Anklage dar. Auch spiegel.de bringt eine Meldung zum Prozess.
LG München I – Hartung gegen Gurlitts Erben: Vor dem Landgericht München I hat der Zivilprozess von Gurlitts ehemaligem Anwalt Hannes Hartung gegen "unbekannte Erben nach Cornelius Gurlitt" begonnen. Er macht zunächst eine Anwaltsrechnung in Höhe von 6.000 Euro geltend. Die Beklagtenseite gibt an, Hartungs Forderung sei sittenwidrig wegen Wuchers. Einen ausführlichen Einblick in das Verfahren gibt lto.de (Tanja Podolski) und skizziert den Fall Gurlitt.
Recht in der Welt
Türkei – Sürücü-Prozess: Vor einem Istanbuler Gericht hat der Prozess gegen die zwei älteren Brüder von Hatun Sürücü wegen vorsätzlicher Tötung ihrer Schwester begonnen; die Anklage fordert lebenslange Haft. Sie sollen die Tatwaffe besorgt und ihren jüngeren Bruder damit beauftragt haben, Hatun zu erschießen – dieser hatte seine Schwester 2005 durch drei Kopfschüsse getötet. Er verneinte allerdings einen gemeinsamen Tatplan. Das Landgericht Berlin hatte die beiden Brüder 2006 freigesprochen, der Bundesgerichtshof hob dieses Urteil allerdings auf. Am 28. April werde das Verfahren fortgesetzt, so unter anderem SZ (Mike Szymanski), FAZ (Michael Martens) und focus.de (Veronika Hartmann).
Die taz (Plutonia Plarre) fasst den Fall und das Verfahren vor dem Berliner Landgericht bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs zusammen.
Dänemark – Asylrechtsverschärfung: Das dänische Parlament hat beschlossen, das Asylrecht weiter zu verschärfen. So sollen Polizisten künftig befugt sein, Flüchtlingen Wertgegenstände im Wert von umgerechnet 1.340 Euro abzunehmen, damit diese sich finanziell an ihrer Unterbringung beteiligen. Zudem sei künftig der Familiennachzug erschwert, die Dauer von Aufenthaltsgenehmigungen verkürzt. Kritiker beanstandeten, Dänemark verstoße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. SZ (Silke Bigalke), taz (Reinhard Wolff) und spiegel.de (Christop Titz) behandeln die Reform.
Südafrika – Pistorius: Die zuständige Staatsanwaltschaft hat am vergangenen Freitag in einer Stellungnahme für das Verfassungsgericht moniert, es sei nicht im Interesse der Justiz dem Gesuch von Oscar Pistorius zu entsprechen und ein Verfahren zuzulassen. Laut Anklage gebe es keinen Grund, dass das Verfassungsgericht die Verurteilung wegen Mordes aufhebe, meldet die FAZ (Claudia Bröll) und skizziert den Fall Pistorius.
Iran – Hinrichtung jugendlicher Straftäter: Laut einem Bericht von Amnesty International sollen im Iran mehrere jugendliche Straftäter wegen Taten, die sie vor ihrem 18. Lebensjahr begangen hatten, hingerichtet werden. Die iranischen Justizreformen reichten nicht aus, wenn nach wie vor 9-Jährige zum Tode verurteilt werden können, so der Bericht der Organisation, welchen zeit.de schildert.
Sonstiges
Hausverbot für Flüchtlinge: Anlässlich eines neuerlichen Verbots für Flüchtlinge, ein Schwimmbad zu nutzen, entlarvt Jost Müller-Neuhof (Tsp) diese Art populistischer Politik. Er moniert, selbst Populisten müssten sich an geltendes Recht halten – etwa an das Gleichbehandlungsgesetz. Dies unterließen sie allerdings unter anderem deswegen, "weil sie die ewige Gleichstellung ablehnen".
Fischer zu kriminellen Vereinigungen und Bürgerwehr: In seiner Kolumne auf zeit.de erläutert Thomas Fischer zunächst die Strafbarkeit bandenmäßiger Begehung sowie der Bildung krimineller wie terroristischer Vereinigungen und spannt schließlich den Bogen zu den Bürgerwehren: "Könnte es sein, dass sich jenseits unserer besorgt über die Nicht-Ortsansässigen schweifenden Blicke ein Sumpf von Organisationskriminalität entwickelt hat und – unter freundlicher Begleitung der deutschen Polizei – fortentwickelt?"
Diskurs um Flüchtlingspolitik: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Felix Würkert setzt sich auf juwiss.de kritisch mit dem Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio und den Antworten von Christoph Möllers, Jürgen Bast und Jürgen Kaube auseinander. Er betont, wichtiger als die Fragen nach dem Nicht-Können und Nicht-Dürfen der Lösung der Flüchtlingskrise sei jedoch die Frage, inwieweit die Politik den Flüchtlingen helfen wolle – hier brauche es eine politischen Diskurs.
Wettbewerbsverstöße: Um den digitalen Binnenmarkt zu harmonisieren hat die EU-Kommission verschiedene Maßnahmen geplant, so der Rechtsanwalt Daniel Dohrn in einem FAZ-Gastbeitrag – unter anderem prüfe sie vermehrt etwaige Kartellrechtsverstöße. Der Autor hofft auf rechtlich verbindliche Vorgaben aus Brüssel, da diese der Rechtssicherheit und einheitlichen Bewertungsmaßstäben im europaweiten Wettbewerbsrecht dienen würden.
Das Letzte zum Schluss
Ein Kater mit (Rechts-)Persönlichkeit? In Neuseeland hat eine Katzenbesitzerin eine an ihren Kater adressierte Wahlbenachrichtigung erhalten. Die Behörde hatte den Brief an "Chairman Meow" adressiert – unter diesem Namen habe der Tierarzt immer die Post an den Kater gesendet. Nachdem Frau Lyes umgezogen war, hatte die Wahlkommission ihre Wahlbenachrichtigungen an die neue Adresse gesendet, meldet die Welt.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 27. Januar 2016: BVerfG legt sich mit EuGH an / Verfassungsbeschwerde gegen Vorratsdatenspeicherung / Klageflut gegen Zucker< . In: Legal Tribune Online, 27.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18256/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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