Der Zeuge G hat im Tiergartenmordprozess den russischen Geheimdienst schwer belastet. Doch G ist Journalist, hält seine Quellen anonym. Kann das Kammergericht das Urteil auf seine Aussage stützen?
Eigentlich wollte der im Ausland wohnende Zeuge G gar nicht zum Prozess in Berlin vor dem Kammergericht (KG) erscheinen – aus Angst um sein Leben. Doch wegen der Bedeutung seiner Aussage entschied er sich letztlich doch für eine Teilnahme, aus „moralischen Gründen“ wie er sagt. In dieser Woche schloss das Kammergericht seine Vernehmung ab. G hat ausführlich ausgesagt – aber Fragen zu seinen Quellen beantwortet er nicht, um Informanten zu schützen. Wieviel kann das Gericht mit seinen Informationen anfangen?
Es gibt wenig Zweifel daran, dass der Angeklagte, ein Russe, im August 2019 im Berliner Tiergarten Zelimkhan Khangoshvili tötete - einen Tschetschenen aus Georgien und Staatsfeind Russlands. Der Prozess hat eine historische Dimension, der Generalbundesanwalt ist davon überzeugt, dass der Mordauftrag aus Russland kam. Der Hauptbelastungszeuge dafür ist der G. Auf dessen Aussage ist die Anklage angewiesen.
G ist Journalist von Bellingcat, einer internationale Rechercheorganisation, die sich selbst als "Geheimdienst für die Menschen" beschreibt. Bellingcats selbstgestecktes Ziel: Wahrheitsfindung in Fällen, in denen Staaten selbst in Verbrechen verwickelt sind und staatliche Aufklärung daher ausbleibt. Das Rechercheteam arbeitet mit allgemein zugänglichen Datenbanken, wertet Satellitenfotos und Social-Media-Accounts aus. Doch die Organisation hat auch Zugang zu geschlossenen Quellen, verfügt über ein Netzwerk von Whistleblowern und Informanten.
Nach Ansicht von Gericht und Bundeskriminalamt riskierte G mit seiner Aussage vor Gericht tatsächlich sein Leben. Sein voller Name wurde aus Sicherheitsgründen nicht genannt, Personenschützer überwachten ihn im Gerichtssaal, vor der Türe war eine schwer bewaffnete Sondereinheit positioniert. G hat hiervon unbeeindruckt in vier Verhandlungstagen in akribischen Aussagen tiefe Einblicke in die Recherchetätigkeit von Bellingcat gewährt.
Die Recherche von Bellingcat zeigt Verbindungen zum FSB
Im Prozess berichtete er detailreich, wie er zusammen mit Journalistenkollegen zunächst herausgefunden haben will, dass der mutmaßliche Mörder eine falsche Identität angenommen hat. Der Angeklagte heißt laut russischem Reisepass "Vadim Sokolov" und soll zur Tatzeit 49 Jahre alt gewesen sein. Doch nach G tauche eine solche Person in Offline-Datenbanken, etwa zu Wohnadressen oder in der Führerscheindatenbank nicht auf, Hinweise auf einen nationalen Pass gäbe es erst für das Jahr 2015. Der Reisepass weise auf den russischen Geheimdienst hin und sei erst kurz vor der Reise überhaupt ausgestellt worden.
Nachdem G zu dem Schluss gekommen war, dass es diesen "Vadim Sokolov" in Wirklichkeit nicht gibt, machte er sich auf die Suche nach der wahren Identität. Bei der Eingrenzung half ihm nach seiner Aussage, dass in Russland falsche Identitäten vom russischen Geheimdienst FSB oft nach einem gewissen Muster vergeben werden: Der Vorname und das Sternzeichen werden oft beibehalten, das Geburtsjahr nur um ein Jahr verändert. Mit diesen und anderen Merkmalen überprüfte G Verdächte mit Hilfe von Gesichtserkennungsprogrammen und gelangte schließlich zu einem Treffer: Vadim Krasikov, ein Russe der 2013 wegen Mordes gesucht wurde. Doch Russland löschte diese Suche wieder.
Durch weitere Recherche will G auch mit Hilfe von Mobilfunkmetadaten herausgefunden haben, dass Vadim Krasikov die Monate vor der Tat in engem Austausch mit Geheimdienstmitarbeitern des FSB stand und zudem mehrere Tage ein Trainingslager des FSB in der Nähe von Moskau besuchte. Nach Erkenntnissen von G wurde das Handy von Vadim Krasikov dann für längeren Zeitraum abgeschaltet. Just an dem Tag, an dem das Handy des vermeintlichen Vadim Sokolov aktiviert wird. Wegen dieser und vieler anderer Erkenntnisse ist G sicher, Vadim Krasikov ist vom russischen Geheimdienst mit dem Mord in Berlin beauftragt worden.
Für das Gericht gilt nicht das gleiche wie für Journalisten
Doch wird das Gericht diesen Schluss ebenfalls ziehen? Der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi hat in der Verhandlung mehrfach klargestellt: Der Maßstab für eine richterliche Überzeugung in einem Strafprozess ist ein anderer als derjenige der journalistischen Wahrheitsfindung. Für die gerichtliche Wahrheitsfindung ist vor allem problematisch, dass G Nachfragen des Gerichts zu seinen Quellen weitestgehend unbeantwortet ließ. Wohl mit guten Gründen. Er berichtete, dass mindestens zwei Kontaktpersonen in russischen Behörden aufgrund von Suchabfragen in Datenbanken verhaftet wurden. Ein entsprechendes Zeugnisverweigerungsrecht stand G als Journalisten nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) auch zu. Denn zur verfassungsrechtlich verbürgten Pressefreiheit gehört auch der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Presse und privaten Informanten.
Die Verteidigung des Angeklagten sieht darin ein Problem. "Da er seine Quellen nicht offenlegt, können auch die ihm von diesen Quellen übermittelten Unterlagen nicht auf ihre Authentizität überprüft werden" sagt der Berliner Rechtsanwalt Robert Unger, einer der Verteidiger des Angeklagten auf Anfrage gegenüber LTO.
In der Tat bleibt der Zeuge G in vielerlei Punkten ein Zeuge vom Hörensagen, also ein Zeuge, der nicht über eigene tatsächliche Wahrnehmungen berichtet, sondern über etwas aussagen soll, was ihm ein Dritter über tatsächliche Ereignisse mitgeteilt hat. Die Zulassung einer solchen Aussage beeinträchtigt strafprozessuale Grundsätze wie das Unmittelbarkeitsprinzip des § 250 StPO und vor allem das Recht von Angeklagten und Verteidigern Fragen an einen Belastungszeugen zu stellen.
Andererseits kennt die StPO kein Verbot mittelbare Beweise zu erheben. Im Gegenteil: Wenn das sachnächste Beweismittel nicht zur Verfügung steht, weil es unerreichbar ist, wäre die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 244 II StPO verletzt, wenn auf die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen und damit das bestmögliche Beweismittel gänzlich verzichtet würde.
Zeuge vom Hörensagen – ein geringerer Beweiswert
Doch den Bekundungen eines solchen Zeugen kommt oft ein geringerer Beweiswert zu als der Aussage eines unmittelbaren Zeugen. Im konkreten Fall lässt sich etwa ohne nähere Angaben zu Informanten nicht überprüfen, ob der Informant selbst ein Eigeninteresse an einer russischen Beteiligung an der Tat hat. Er oder sie könnte theoretisch die dem Zeugen G übermittelten Daten gefälscht haben, sei es um von den wahren Umständen der Tat abzulenken oder um bei einer von G auch teilweise eingeräumten Geldzahlung den Geldgeber nicht zu enttäuschen.
Die Problematik liegt damit in der Beweiswürdigung. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung darf ein Gericht zwar seine Feststellungen auch auf eine Aussage des Zeugen vom Hörensagen stützen. Es muss dabei aber stets deutlich machen, dass es sich der besonderen Problematik bei Angaben anonymer Beweismittler bewusst war und die Aussage besonders kritisch prüfen.
Strafverteidiger Unger ist allerdings überzeugt, dass die Aussage von G nicht für eine russische Beteiligung am Tiergartenmord herangezogen werden kann. Er verweist auch darauf, dass G mehrfach im Prozess nur von Schlussfolgerungen gesprochen habe und kommt gegenüber LTO zu dem Schluss: "Der Beweiswert seiner Angaben ist nach allem nur gering und als Grundlage für sichere Feststellungen eines Strafgerichts keinesfalls ausreichend."
Die Vertreterinnen der Angehörigen des Opfers, die im Prozess als Nebenklägerinnen auftreten, sind andere Meinung. Die Rechtsanwältinnen Johanna Künne, Inga Schulz und Barbara Petersen erklären in einer gemeinsamen Stellungnahme gegenüber LTO: "Der Zeuge G hat an vier Verhandlungstagen anhand zahlreicher Unterlagen dargelegt, welche Indizien auf eine Beteiligung der russischen Behörden bei der Ermordung von Zelimkhan Khangoshvili schließen lassen. In der Gesamtschau lassen die Aussagen von G, gepaart mit den Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden, nur einen Schluss zu: der Mord an Herrn Khangoshvili erfolgte im Auftrag des russischen Staates durch Angehörige russischer Sicherheitsbehörden."
Die Diplomaten werden das Urteil genau lesen
In der Tat erscheinen die Indizien für eine Mordauftrag von russischen Stellen eine in der Gesamtschau eindrucksvoll. Es deuten derartig viele Indizien auf eine russische Beteiligung hin, dass von bloßen Zufällen wohl kaum gesprochen werden kann. Und ganz ohne eigene Erkenntnisse sind auch die deutschen Sicherheitsbehörden nicht. Sie haben unabhängig von Bellingcat ermittelt, dass die wahre Identität des mutmaßlichen Mörders Vadim Krasikov sein soll. Die Recherche von Bellingcat wird somit zum Teil durch deutsche Ermittlungen gedeckt. Doch die näheren Detailinformationen zu den Aktivitäten von Krasikov und seinen mutmaßlichen FSB-Kontakten stammen ganz überwiegend vom Zeugen G.
Das Gericht um den Vorsitzenden Richter Arnoldi trägt eine große Verantwortung. Es darf es sich nicht zu leicht machen und die Frage der russischen Beauftragung als unerheblich offen zu lassen. Denn die mutmaßliche russische Beteiligung ist ja gerade der Grund für die Zuständigkeit des Staatsschutzsenats des Kammergerichts.
Andererseits muss das Gericht selbstverständlich sorgsam prüfen, ob eine russische Beteiligung nach Maßstäben des Strafprozessrechts und der Wahrheitsfindung im Strafprozess tatsächlich als erwiesen angesehen werden kann. Keine vernünftigen Restzweifel lautet hier der Maßstab.
Was die außenpolitischen Konsequenzen des Urteils angeht, wird es auf die genaue Formulierung ankommen. Wenn das KG eine russische Beteiligung im Urteil nur für möglich oder nur für wahrscheinlich einstuft, sind keine erheblichen Konsequenzen zu erwarten. Sollte das Gericht indes klipp und klar festhalten, dass russische Stellen hinter dem Mord in Berlin stecken, müsste Deutschland reagieren. Ob es bei einer gerichtlich festgestellten völkerrechtswidrigen Souveränitätsverletzung ausreichen würde, ein paar Diplomaten des Landes zu verweisen, dürfte politisch kontrovers diskutiert werden. Bereits jetzt fordern viele Oppositionspolitiker einen härteren Kurs gegenüber Russland.
Ein Urteil könnte bereits Ende April fallen.
Felix W. Zimmermann, Zeuge belastet Russland im Tiergartenmordprozess: . In: Legal Tribune Online, 04.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44425 (abgerufen am: 30.10.2024 )
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