Zwischen krudem Online-Antiamerikanismus und Artikeln à la "US-Wissenschaftler haben festgestellt, dass Margarine Fett enthält", geht oft verloren, dass uns das Land jenseits des Atlantiks auch Werke seiner humanistischen Tradition zu bieten hat. Dazu zählt Morris B. Hoffmans Versuch einer Antwort auf die Frage, was uns strafen lässt. Eine Besprechung von Martin Rath.
Wenige Experimente sind so häufig zitiert worden wie jenes, das der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet (1916-2007) im Jahr 1979 durchführte. Er konnte darin zeigen, wie sich im motorischen Kortex des menschlichen Hirns das Potenzial für Handeln, zum Beispiel ein Fingerschnippen, bereits aufbaut, bevor das entsprechende Bewusstsein, der Wille zum Schnippen, gebildet wird.
Die historisch schon sehr betagte philosophische Behauptung, Willensfreiheit sei eine Illusion, menschliches Denken und Handeln seien determiniert, hat seither einen naturwissenschaftlichen Befund auf ihrer Seite. Die berühmte Frage Georg Büchners (1813-1837): "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?", scheint ihre Antwort im entsprechenden Hirnareal zu finden. Ob aus dem Befund aber auch ein juristisches Argument, zum Beispiel für eine weiter beschränkbare strafrechtliche Zurechenbarkeit, zu konstruieren ist, lässt sich mit einer Gegenfrage in Zweifel ziehen. Man könnte sie so formulieren: "Ich weiß nicht, was jemand zum Täter macht, aber ist das nicht irrelevant, solange es das Gleiche ist, das uns auch ermitteln, beschuldigen, anklagen, urteilen und strafen lässt?"
US-Richter ist sich für Determinismen nicht zu fein
In der rechtswissenschaftlichen Literatur aus deutschen Landen, repräsentiert etwa durch ein großes "Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil", sind stringente Erklärungen des Strafens kaum zu entdecken. Typisch ist es, wenn es beispielsweise heißt, dass die "Rechtfertigung der Strafe … allein darin" liege, dass sie "zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung als einer Grundbedingung für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft notwendig" sei. Daran anschließende Teil-Begründungen von einer behaupteten "staatspolitischen", "sozialpsychologischen" oder "individualethischen Rechtfertigung" weisen wieder auf die Eingangsrechtfertigung zurück. Man arbeitet hier mit kleinen Begründungszirkeln und der üblichen Knochenlese unter professoralen Ahnen und Urahnen im endlichen Regress eines Fußnotenapparats.
Erfrischend anders geht Morris B. Hoffman, ein Richter und Rechtsgelehrter aus Denver (Colorado/USA), in seinem gut lesbaren, jüngst publizierten Buch "The Punisher’s Brain. The Evolution of Judge and Jury" zu Werke. Hierzulande fragt man bestenfalls, was Menschen zu Tätern macht. Hoffman wechselt die Perspektive, indem er der Gegenfrage nachgeht: Welche biologischen, soziobiologischen und kulturellen Mechanismen bestimmen Menschen dazu, andere Menschen zu bestrafen?
Plausibles Konzept oder böser Biologismus?
Die Wurzeln des Wunsches zu strafen, sieht Hoffman in dem Bedürfnis, betrügerisches, übervorteilendes, fremdes Vertrauen missbrauchendes Verhalten zu sanktionieren. Damit ist der Sanktionswunsch irgendwo in der Nähe von Libets kleinem grauzelligen Zufallsgenerator angesiedelt. Einen Anhaltspunkt für die Verankerung des Wunsches in der biologischen Hardware gibt das sogenannte Ultimatumspiel. In diesem sozialpsychologischen Experiment erhält Spieler A beispielsweise 10 Euro mit der Vorgabe, einem Spieler B einen Teilbetrag abzugeben. Nimmt B an, erfolgt die Verteilung entsprechend. Lehnt B ab, bekommt keiner der Spieler den Betrag.
Vernünftig wäre es für Spieler B, jeden Betrag zwischen 0,01 und 10 Euro anzunehmen, doch "bestraft" Spieler B den Spieler A – mit gewissen Tendenzen je nach kulturellem Hintergrund – ab einem gewissen Grad an Egoismus bzw. fehlendem Altruismus. Man möchte das als Beleg für eine gewisse, im sozialbiologischen Durchschnitt der gegenwärtigen Menschheit grundsätzlich verwurzelte Neigung zur Sanktion annehmen, die zu kooperativem Verhalten anspornt. Ähnlich angeboren, wie basale Strukturen der Grammatik oder des kognitiven Vermögens, beispielsweise der überall tendenziell fehlenden Begabung, exponentielles Wachstum richtig wahrzunehmen, sei es in Gestalt eines Buschfeuers oder des Zinseszins-Effekts.
2/2: Forschungsbedarf und kulturelle Provokationen
Über solche basalen Strukturen hinaus, die zu den Inhalten und Anlässen sogenannter Strafansprüche noch nicht viel besagen können, stellt Hoffman unter anderem auch einen interessanten Forschungsansatz vor, mit dem die sozialethische Bewertung von Rechtsgütern und Verletzungsmethoden empirisch erfolgt: Aus einem Sample von 100 Fall-Skizzen werden Probanden gebeten, Rangordnungen der Vorwerfbarkeit zu erstellen. Beispielsweise sollen ein brutaler Muttermord, ein grauenhafter Kindsmord sowie ein weiteres Morddelikt bewertet werden. Jedenfalls in der US-gestützten Forschung kommt es zu überraschend gleichförmigen Rechtsgut-/Tatunwert-Bewertungen, aus denen sich starke intersubjektive Werthaltungen ableiten lassen.
Um eine gleichsam anthropologische Herleitung von Rechtsgutwerten zu erlauben, müsste hier der geographische Horizont natürlich drastisch erweitert, müssten kulturelle Grenzen überschritten werden. Schon aus Gründen der Politikberatung wäre eine Ausweitung entsprechender sozialpsychologischer Forschungen auf die Sanktionsbedürfnisse auch hierzulande wünschenswert.
Eine anthropologische Konstante lässt sich jedenfalls zeigen: Hinter nichtintentionalem Schädigen, zu Deutsch: dem Unfall, mag man allenthalben wenig strafwürdig Böses entdecken.
Neue, undogmatische Straf-Perspektiven
Morris B. Hoffmans theoretische Begründung von Strafe aus dem Sanktionsbedürfnis des gemeinen Menschen, zunächst in den basalen Strukturen, dann aber auch in den großen Zügen des konkreten Rechtsgüterkonzepts, bleibt im vorliegenden Band zivilisiert – vielleicht weil er dem Volk nicht aufs Maul (Luther), sondern möglichst subtil ins Hirn schaut. In diesem Zusammenhang finden sich bedenkenswerte Ansichten eines Richters in der demokratischen "rule of law" auf die demokratische "rule of law" – beispielsweise schreibt Hoffman dem Resozialisierungsgedanken Mitverantwortung für die ausufernden Inhaftierungen in den USA zu.
Alteuropäer halten das meist für durchgeknalltes Rachedenken.
Allerdings: Dem Volk aufs Hirn zu schauen, erlaubt auch, neben dem Sanktionsbedürfnis der sozialpsychologischen und -biologischen Spur der Gnade zu folgen, die bei der historisch staatsfixierten "top down"-Perspektive gerne unterbelichtet bleibt.
Natürlich muss das alles auch nicht im rhetorischen Blutbad des Volksempfindens landen. Als Richter in Colorado steht Hoffman, wie online nachzulesen ist, unter einer durchaus zivilisierten öffentlichen und demokratischen Supervision seiner judikativen Arbeit.
Ob sich die deutsche Öffentlichkeit im Verhältnis zu ihrer Justiz etwas von der US-amerikanischen abschauen sollte, muss hier offen bleiben. Von Hoffmans "The Punisher’s Brain" sollte man sich aber dringend analytisch eine Scheibe abschneiden. Denn, dass Richter, Staats- und Rechtsanwälte nebst Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen im deutschen Strafprozess vor dem Eintritt in die Verhandlung alle einmal mit dem Finger schnippen, um sich daran zu erinnern, wie bedingt frei in ihrem Willen sie als Normalsterbliche doch allesamt sind, ist ja leider nicht zu erwarten.
Literatur: Morris B. Hoffman: "The Punisher’s Brain. The Evolution of Judge and Jury", Cambridge University Press, 2014, 360 Seiten, ISBN 9781107038066. Gedruckt in ganz unangelsächsisch guter Qualität zum Preis von ca. 27 Euro zu erwerben, als eBook für ca. 15 Euro.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Recht und Wissenschaft: Annäherungen an das strafende Gehirn . In: Legal Tribune Online, 06.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12459/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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