Mit dem "Gesetz zur Aufhebung überholter steuerrechtlicher Vorschriften" wurde 1953 die sogenannte Reichsfluchtsteuer beseitigt. Schon in der Weimarer Republik geschaffen, diente sie seit 1933 dazu, Flüchtlinge und Emigrationswillige von Staats wegen auszurauben. Ein anstößiges Kapitel in der Geschichte der Kapitalflucht verbunden mit einer Bitte an die Politik von Martin Rath.
Im Juli 1918, kurz bevor Kaiser Wilhelm II. selbst die Flucht in die Niederlande antrat, erließ seine Majestät noch ein Gesetz gegen Steuerflucht – die Finanzlast der Kriegswirtschaft machte sie attraktiv. Die Weimarer Nationalversammlung verschärfte das Gesetz am 24. Juni 1919 (RGBl I, S. 583): Bei Verdacht, dass "Vermögenswerte des Steuerpflichtigen dem inländischen Steuerzugriff entzogen werden sollen", konnte das Finanzamt nun "Sicherheitsleistung" in Höhe von 50 Prozent des Vermögens verlangen.
Nachdem diese kriegswirtschaftlich bedingten Steuergesetze ausgelaufen waren, erließ Reichspräsident Hindenburg per Notverordnung vom 8. Dezember 1931 erneut eine "Reichsfluchtsteuer". Diese Steuer, die in den Jahren des NS-Regimes mit dazu diente, Flüchtlinge aus Deutschland wirtschaftlich auszubeuten, war also keine Erfindung der Diktatur.
In ihrem Werk zu "Bürokratie und Verbrechen" hält Christiane Kuller, Professorin für Zeitgeschichte in Berlin, fest, dass die Reichsfluchtsteuer in der Bevölkerung sowie unter Finanzexperten Zuspruch erfuhr – anders als die zeitgleich in Kraft gesetzten Belastungen von Lohnempfängern und der Beamtenschaft.
Vermögensabgabe von 25 Prozent, im Zweifel Zuchthaus
Die zunächst bis zum 31. Dezember 1932 befristete Reichsfluchtsteuer, später bis Ende 1934 verlängert und dann in einem bizarren Gesetzgebungsprozess unbefristet gestellt, belastete das Vermögen von Steuerpflichtigen, die Deutschland verließen, mit einer einmaligen Zahlung von 25 Prozent. Herangezogen wurden zunächst Vermögen ab einer Größe von 200.000 Reichsmark beziehungsweise von Steuerpflichtigen, die über ein jährliches Einkommen in dieser Höhe verfügten.
Die Abgabe dramatisch als "Reichsfluchtsteuer" zu bezeichnen, statt neutral als "Auswanderungssteuer", war nach Kuller System, denn die Steuer hatte auch symbolische Funktion: "Sie sollte zum einen abschreckend auf vermögende Personen wirken, die ihr Geld ins Ausland bringen und damit dem deutschen Fiskus dauerhaft entziehen […]." Zum anderen sollte sie – angesichts der Reparationspflichten aus dem Versailler Vertrag – zeigen, dass das hochverschuldete Deutsche Reich alle Mittel zur Haushaltskonsolidierung ergriff.
Die Strafandrohungen waren nicht zimperlich: Es drohten Gefängnisstrafen nicht unter drei Monaten, in schweren Fällen Zuchthaus bis zu zehn Jahren, Vermögensbeschlagnahme, Geldstrafen in unbegrenzter Höhe.
Weiterentwicklung zu einem antisemitischen Instrument
Eingeführt wurden des Weiteren 1931 "Steuersteckbriefe", die zur Inhaftierung von Reichfluchtsteuerflüchtigen führen sollten, sobald man ihrer habhaft wurde. Ebenfalls erwogen wurde die Einführung von Sondergerichten, die neben der Reichsfluchtsteuerflucht Straßenkrawalle und Terrorakte bearbeiten sollten.
In der NS-Zeit entwickelte die Finanzverwaltung die Reichsfluchtsteuer nach und nach zu einem Instrument eines antisemitischen Steuerrechts aus. Weil das rassistische Regime nun auch Bezieher kleinerer Einkommen und Inhaber kleinerer Vermögen in die Emigration trieb, wurden die Tarife angepasst: 1934 wurde die Freigrenze für Vermögen von 200.000 auf 50.000 Reichsmark gesenkt. Zu zahlen war die Steuer auch, wenn der Emigrant zurückkehren sollte.
Bald wurden Schenkungen herausgerechnet, mit denen insbesondere jüdische Eltern ihre zuvor ausgewanderten Kinder bedacht hatten. Neben immensen Sicherheitsleistungen, die beim Verdacht auf Auswanderungswilligkeit gefordert wurden, war dies für ältere Emigrationswillige in den späten 1930er-Jahren ein Grund mehr, nicht rechtzeitig vor dem mörderischen Staat fliehen zu können.
2/2: Deportation ins Vernichtungslager steuerpflichtig
Zu den bereits 1931 etablierten Ausnahmetatbeständen von der Reichsfluchtsteuer zählte die Abwanderung von „Personen, deren ausländischer Wohnsitz im deutschen oder volkswirtschaftlichen Interesse“ lag.
Diese Vorgabe bereitete der Finanzverwaltung juristische Auslegungsprobleme: Das Parteiprogramm der NSDAP sollte bekanntlich von Justiz und Verwaltung als Dokument von Verfassungsrang herangezogen werden – in den ersten Auflagen der Gesetzessammlung "Schönfelder" war es nicht umsonst unter Nr. 1 abgedruckt. Weil es die NS-Führung als im "deutschen Interesse" gelegen sah, wenn Deutsche jüdischer Herkunft aus dem Land flohen, hätte dies – selbst nach den überschaubaren Regeln juristischer Logik – zur Anwendung des Ausnahmetatbestands führen müssen.
Um die jüdischen Flüchtlinge gleichwohl systematisch zur Reichsfluchtsteuer heranzuziehen, entwickelte der für diese Steuer zuständige Referent im Reichsfinanzministerium, Dr. iur. Kurt Zülow (1889-1942), die notwendige Auslegungsrabulistik: Selbst wenn ein "Inlandsinteresse" an der Auswanderung der Juden bestehen sollte, könnten diese doch im Ausland eine "gegen Deutschland" gerichtete Tätigkeit entfalten. Das "Inlandsinteresse" allein genüge also nicht, um von der Steuer zu befreien.
Zu den monströsen juristischen Distinktionen des NS-Staats zählt zweifellos auch eine des Reichsfluchtsteuerrechts: So veranlagten die Finanzämter jene Menschen, die seit 1941 aus dem Reichsgebiet zunächst in die Ghettos Osteuropas, dann in die Vernichtungslager verschleppt wurden, zur Reichsfluchtsteuer. Ausgenommen blieben jene, die in das sogenannte "Alters-" oder "Vorzeige-Ghetto" Theresienstadt deportiert wurden – dieses Konzentrationslager im "Protektorat Böhmen und Mähren" galt als im Reichsgebiet gelegen.
Ideenwettbewerbe im Reichsfinanzministerium
In ihrem ersten Band der Reihe "Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus" zeichnet Christiane Kuller die ganze Vielzahl von steuerrechtlichen Perfidien nach. Unter Beteiligung eines Dr. iur. Walter Kühne (1892-1968), der in den 1950ern ausgerechnet Präsident des Bundesausgleichsamtes werden sollte, wurden im Reichsfinanzministerium nachgerade Ideenwettbewerbe zur antisemitischen Anwendung oder Änderung des Steuerrechts betrieben: Jüdische Steuerzahler konnten die Steuer an ihre Kultusgemeinde nicht mehr – wie die Kirchensteuer – einkommensteuermindernd geltend machen. Nachdem nach den Olympischen Spielen von 1936 kein internationaler Protest mehr zu befürchten war, wurden ihnen die Kinderfreibeträge gestrichen. Jüdische Künstler und Gelehrte erhielten keine Umsatzsteuerbefreiung mehr.
Teil des Ideenwettbewerbs: Jüdischen Umsatzsteuerpflichtigen wurde die vereinfachte Buchführung verweigert – für Kleinunternehmer eine evidente Schikane. Nach der Reichspogromnacht wurden die Finanzämter schließlich direkt mit der systematischen Ausplünderung betraut – die sogenannte "Sühneleistung", eine entschädigungslose Enteignung in Höhe von einer Milliarde Reichsmark trieben sie ein.
Es verbietet sich selbstverständlich, für heutige Steuerfluchtdiskussionen Analogien zu ziehen. Dennoch eine kleine Bitte: Die martialische Sprache möchte sich "die Politik" bei der Sanierung ihrer Haushalte doch bitte sparen. Dass man von Geld und Vermögen auch in freiheitsfreundlicher Emphase sprechen muss, daran sollten nicht erst die Reichfluchtsteuerpflichtigen der 1930er- und 1940er-Jahre erinnern müssen.
Martin Rath, Die Reichsfluchtsteuer: Eine Bitte an die Politik . In: Legal Tribune Online, 21.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9180/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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