Unter denjenigen, die verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben, stellen sie nur ein Viertel. Und nur ein Zwanzigstel aller Inhaftierten ist weiblich. Martin Rath über "Das verbrecherische Weib" vor 100 Jahren.
Neumodische Methoden sowie Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik könnten dazu beitragen, dass die Frau im anbrechenden 20. Jahrhundert einen größeren Beitrag zum Verbrechen leisten wird: In der Koedukation von Mädchen und Jungen, wie sie im 19. Jahrhundert in Norwegen und den USA eingeführt worden war, erkannte der französische Kriminologe Camille Granier 1906 einen Beitrag zur Verrohung des weiblichen Geschlechts. Einen weiteren Beitrag leiste die Wissenschaft: "Die Verbreitung des Vitriols und des Revolvers hat die Zahl der Mordtaten vermindert, welche die Frauen nicht ausführen können."
Für die jüngere Vergangenheit hielt der Kriminologe in seinem erstmals 1906 als "La femme criminelle" publizierten, bereits 1910 unter dem Titel "Das verbrecherische Weib" auch in Deutschland veröffentlichten Werk Zahlen fest, die heutigen Beobachtungen zur Kriminalität von Männern und Frauen mitunter stark ähneln. So waren nur 13% der Verurteilten im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts weiblich. Unter 10.000 Frauen zählte Granier 21 "Verbrecherinnen", unter 10.000 Männern 468 "Verbrecher".
Frauen werden eher freigesprochen
Unter anderem der speziellen französischen Galanterie, die von den seinerzeit ausschließlich männlichen Richtern und Geschworenen geleistet werde, schrieb Camille Granier 1906 die besseren Aussichten von Frauen vor Gericht zu. Während von 1.000 angeklagten Männern nur 67 mit einem Freispruch rechnen konnten, verließen von 1.000 weiblichen Angeklagten immerhin 93 das Gericht als freie Frau.
Ganz überholt ist das nicht. "Ich bin in Strafverfahren gegen Frauen immer wieder in Schwierigkeiten geraten und habe mich deshalb jeweils gefragt, welche Strafe würde ich gegen einen Mann bei derselben Anklage verhängen und auf diese Strafe alsdann abzüglich eines 'Frauenrabatts' erkannt", erklärte der ehemalige Richter Ulrich Vultejus noch im Jahr 2008 gegenüber der "Zeitschrift für Rechtspolitik" und begründete die Vorgehensweise: "Ein Frauenrabatt ist gerechtfertigt, weil es Frauen im Leben schwerer haben und Strafen deshalb bei ihnen härter wirken."
Im Vergleich mit solch feinsinnigen rechtssoziologischen Erwägungen mühte sich der französische Kriminologe Granier zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelrecht ab, die grundlegenden Eigenarten krimineller Karrieren von Frauen zu ermitteln. Die damals noch jungen Versuche, sich Kriminalität soziologisch zu erklären, standen bei den Unterschieden zwischen Mann und Frau vor ernsthaften Rätseln.
Reichlicher Haarwuchs bei der Verbrecherin
Der italienische Psychiater Cesare Lombroso (1835-1909), der wegen seiner kriminalbiologischen Betrachtungsweise heute nicht nur zu den Gründungsvätern der wissenschaftlichen Kriminologie, sondern auch des deutschen Rassenwahns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezählt wird, machte als mögliche Begründung für die Unterschiede von Frauen und Männern auf dem Gebiet des Verbrechens beispielsweise die Rechnung auf: Wo sich männliches Verbrechertum in den vielfältigen Straftaten äußere, die nach den europaweit üblichen Tatbeständen abgeurteilt würden, äußere sich das weibliche Verbrechertum in sexuellen Abweichungen von der gesetzlichen wie moralischen Norm. Männer werden Betrüger, Räuber, Mörder, Frauen kompensieren ihren fehlenden Auftritt in der Kriminalstatistik durch Prostitution.
Dem damals höchst anerkannten Kollegen Lombroso attestierte Camille Granier, dass diesen seine italienische Zartfühligkeit wohl davon abgehalten habe, der weiblichen Straffälligkeit mit den Mitteln der Kriminalbiologie zu Leibe zu rücken. Der Franzose lieferte erstaunliche Erkenntnisse nach: "Bei der verbrecherischen Frau ist die Stimme rauher, der Haarwuchs reichlicher und ausgedehnter, der Hals kräftiger als bei der normalen Frau", erläuterte Granier den interessierten Juristen und Polizeipraktikern.
Die Sache mit dem Haarwuchs ist natürlich besonders schön, würde sie doch erklären, warum sich noch heute feministische Online-Aktivistinnen über die himmelschreiende Ungerechtigkeit empören, dass Rasierzeug für Männer in den Drogerien preiswerter ist als jenes für Frauen.
Aber bleiben wir beim Ernst, mit dem damals kriminalbiologische Befunde verbreitet wurden: Prostituierte zeichneten sich, so Granier, durch ihre unüblichen Körperkräfte aus. Unter Betrügerinnen falle die überdurchschnittliche Zahl an Linkshänderinnen auf.
2/2: Männer sind näher am Affen
"Obgleich das Ohr der Frau sich weiter vom Affenohr entfernt, als das männliche Ohr", referiert Granier einen weiteren bemerkenswerten Befund, seien "die Mißbildungen dieses Organs, wie sie bei Verbrecherinnen gefunden werden, es oft dieses Vorteils verlustig gehen zu lassen." Neben den häufiger unter Verbrecherinnen als unter anderen Frauen anzutreffenden Henkelohren, habe "das Darwinsche Knötchen, die letzte Spur des tierischen Ohres, einigen Wert behalten. Es kommt viel häufiger bei Verbrecherinnen als bei normalen Frauen vor."
Diesen Griff in die Mottenkiste der Kriminalbiologie kann jede Leserin – und aus Solidarität auch jeder Leser – an der eigenen Ohrmuschel empirisch erfassen: Findet sich dort jener Knorpelfortsatz, den Charles Darwin als Überrest des Affenohrs beim Menschen ausgemacht hat, sollte man unbedingt von Zeitreisen in die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg Abstand nehmen: Die damals moderne Kriminologie könnte am Ohrhöcker die geborene Verbrechensgeneigtheit erkennen.
Ungeachtet all dieser heute völlig bizarr anmutenden "wissenschaftlichen" Erkenntnisse, blieb Granier skeptisch, was die – später im NS-Staat weit verbreitete – Schädelmessung betraf. Die frühe Kriminologie versprach sich von den Schädelmaßen Aufschluss über die geistige Leistung und kriminelle Neigung der Kopfinhaber.
Die Aussagekraft solcher Messungen bezweifelte Granier mit Blick auf die Weinflasche. So wenig wie ihre Form die Qualität des Inhalts beeinflusse, reiche die Schädelform hin, zwingend auf das enthaltene Hirn zu schließen. Leider hat sich die Einsicht aus dieser französischen Analogie des Jahres 1906 in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Hier durften Voodoowissenschaftler wie Otmar von Verschuer bis in die 1960er-Jahre akademisch lehren.
Eine spezifisch weibliche Kriminalität
Wozu überhaupt in die kriminologische Mottenkiste des Jahres 1906/1910 greifen? Neben den skurrilen Aspekten zeichnete Camille Granier auch das Panorama einer spezifisch weiblichen Kriminalität, das die sozialen Unterschiede zwischen seiner und der heutigen Welt erkennen lässt. Beispielsweise beschreibt er den Berufsstand der Engelmacherin. Heute werden darunter fälschlich meist Anbieterinnen illegaler Schwangerschaftsabbrüche verstanden. Nach damaligen Begriffen waren Engelmacherinnen insbesondere Frauen, die Kleinkinder im Hortalter aufnahmen, um diese – bedingt vorsätzlich und einvernehmlich mit den Müttern – durch Unterversorgung zu Tode zu bringen. Man schwieg darüber vornehm wie heute zu Überlebensquoten in Altersheimen.
Granier spricht auch die Lage der Kindermädchen an. Im jungen Personal, das in der Epoche vor Staubsauger und Waschmaschine weit verbreitetet war, sah der französische Kriminologe ein beträchtliches Verbrecherinnenpotenzial unter anderem für den sexuellen Missbrauch zulasten von männlichen Schutzbefohlenen, den jungen Herren bürgerlicher und adeliger Haushalte. Sensiblere Gemüter beurteilten die Macht- und Missbrauchsverhältnisse schon damals exakt spiegelbildlich.
Obskure Schriften wie "Das verbrecherische Weib" eignen sich sehr gut, Juristinnen und Juristen daran zu erinnern, dass sie in ihrer Profession für den Nervenkitzel nicht zu Stephen-King-Romanen greifen brauchen. Ein älteres Fachbuch tut es auch. Insbesondere für den Blick in den historischen Spiegel, in die anders gelagerten Machtverhältnisse und ihre moralisch-juristische Bewertung eignet sich die angestaubte Literatur der Jurisprudenz.
Hinweis: Camille Graniers "Das verbrecherische Weib" in der Übersetzung von Otto von Boltenstern, herausgegeben von Iwan Bloch (1910), ist in einer – oft verkürzten Form – antiquarisch verfügbar. Das französische Original von 1906 lässt sich als Digitalisat finden.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Kriminalbiologie, Rassenwahn und Voodoo: Affenohren verraten die Verbrecherin . In: Legal Tribune Online, 11.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17160/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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