Die Inflation galoppierte, in der Bevölkerung gärte es: 1923 war für die Weimarer Republik das schwerste Jahr seit ihrer Gründung. Die höchsten deutschen Richter mussten in dieser Zeit über rheinische Spione, Friedensverträge und Unruhen urteilen und schwankten zwischen Politik, Recht und Patriotismus. Martin Rath hat die Entscheidungen des RG aus dem Sommer 1923 nachgeschlagen.
Es ist die Zeit von Elizabeth Bowes-Lyon (1900-2002), die am 26. April 1923 den zweitgeborenen englischen Königssohn heiratete. Als Liebhaberin von Hunden, vor allem aber von Pferden hat man die alte Dame in Erinnerung, der böse Zungen auch eine gewisse Leidenschaft für den Gin nachsagten. Als jüngere Frau tritt sie im Oscar-prämierten Film "The King’s Speech" von 2010 auf, in dem sie hilft, besagten Königssohn vom Stottern zu heilen. Das Deutsche Reich hatte zur damaligen Zeit jedoch mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Im Januar 1923 besetzten belgische und französische Truppen das Ruhrgebiet, vorgeblich um ein "Pfand" für die Reparationszahlungen zu nehmen, die Deutschland nach dem Versailler Vertrag von 1919 zu leisten hatte. Bevölkerung und Beamtenschaft der besetzten Gebiete reagierten mit passivem Widerstand, doch nicht durchgängig. Im gleichfalls besetzten Rheinland übte sich etwa der gerichtsbekannte Journalist Josef Friedrich Matthes (1886-1943) als "Ministerpräsident" einer "Rheinischen Republik". Rückhalt erhielt er dafür nicht.
Dolmetschen für die Besatzer ist Spionage
Im Gegenteil, im 58. Band der Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Strafsachen findet sich die Spur des juristischen Umgangs mit solch hochverräterischen Abenteuern: Am 3. Mai 1923 verwarf das Reichsgericht zu Leipzig die Beschwerde eines Lokomotivheizers der Reichsbahn gegen seine Inhaftierung (Beschl. v. 3.5.1923, Az. 11 J 91/23): Der noch nicht lange bei der Bahn beschäftigte Mann habe sich, so der greifbare Vorwurf, am 11. April 1923 von der französischen Besatzungsmacht als Dolmetscher anwerben lassen. Ohne dass ihm ein Verrat von Dienstgeheimnissen vorzuwerfen war – schwer denkbar für einen Heizer – genügte das für den Verdacht für die Franzosen als "Spion" gearbeitet zu haben, dienten die Dolmetscherdienste doch der Anwerbung anderer Reichsbahnbeamter im Sinne der Besatzungsmacht.
Drei Wochen nach Anwerbung als "Spion" schon in Untersuchungshaft – zudem als Täter, nicht etwa als Tatbeteiligter? Gestützt wurde die Inhaftierung und die Zuständigkeit des Reichsgerichts auf eine Notverordnung des Reichspräsidenten, Friedrich Ebert von der SPD, deren § 1 formulierte: "Mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslangem Zuchthaus wird bestraft, wer während der in Friedenszeiten erfolgten Besetzung deutschen Gebiets durch eine fremde Macht dieser in wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Angelegenheiten als Spion dient oder Spione dieser Macht aufnimmt, verbirgt oder ihnen Beistand leistet." Die kurze Notverordnung (v. 3.3.1923, RGBl. I, 159), die derart drakonisch in den Rechtsfolgen und gummiartig im Tatbestand war, schloss mit einem barschen § 4: "Für die Aburteilung (!) ist das Reichsgericht zuständig."
Geldstrafe bis zu fünfhundert Millionen Mark
Was aus dem Lokomotivheizer wurde, lässt sich nicht nachvollziehen. Matthes, der als Hochverräter nur mäßig begabte Möchtegern-Ministerpräsidenten des Rheinlands, ging zunächst nach Frankreich ins Exil, wurde entgegen einer völkerrechtlich vereinbarten Amnestie an der Rückkehr nach Deutschland gehindert und starb 1943 im Konzentrationslager Dachau. Immerhin wissen wir von Frau Bowes-Lyon, dass sie einem englischen Prinzen half, bei Rundfunkreden nicht zu stottern.
Das Jahr 1923 sollte aufregend bleiben. So mühte sich am 9. November ein vormaliger informeller Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes, sich an die Macht zu putschen, die Inflation galoppierte: "Neben Freiheitsstrafe ist auf Geldstrafe bis zu fünfhundert Millionen Mark zu erkennen", heißt es in § 2 der erwähnten Notverordnung. Zum juristischen Erstsemesterwissen zählt die Aufwertungsentscheidung des Reichsgerichts in Folge der Inflation (Urt. v. 28.11.1923, RGZ 107, 78): Mit der inflationär entwerteten Mark konnte man seine Schulden damit nicht mehr voll begleichen – Reichsgerichtsräte auf der Suche nach Vertrauen in die Staatsgewalt.
Das Reichstumultschadensgesetz
Gerade heraus äußert sich diese Suche in einem Urteil zum sogenannten Reichstumultschadensgesetzes (Urt. 8.6.1923, Az. III 746/22): Bei Unruhen in Oberhausen, die unter anderem die mangelhafte Ernährungslage verursacht hatte, war am 6. Juli 1919 der Ehemann und Vater der Kläger durch eine Gewehrkugel zu Tode gekommen. Geschossen hatten Angehörige des Reichswehrjägerbatallions Nr. 7, beklagt war folglich das Deutsche Reich.
In der Frage, ob Witwe und Waisen ein Versorgungsanspruch zustand, war die Rechtslage bald so verwirrend wie die politische Lage mit ihren zahllosen regionalen und reichsweiten Aufständen und Putschversuchen zwischen 1918 und 1923. Das sog. Reichstumultschadensgesetz vom 12. Mai 1920 (RGBl. S. 941) sah Entschädigungsansprüche bei Schäden an Eigentum, Leib oder Leben bereits vor, wenn diese "im Zusammenhange mit inneren Unruhen durch offene Gewalt oder durch ihre Abwehr unmittelbar verursacht" wurden. Das Tumultschadensgesetz wurde bereits am 15. Juli 1922 durch ein "Personenschädengesetz" abgelöst, das den Personenkreis enger fasste, auf "Reichsangehörige, die durch den letzten Krieg innerhalb oder außerhalb des Reichsgebiets Schädigungen an Leib oder Leben erlitten haben".
2/2: Unruhen sind Weltkrieg im Sinne des Versorgungsrechts
Einem Mann, der bei Hungerunruhen im Sommer 1919 erschossen wird, ist nur bei sehr historischer Betrachtungsweise ein Schaden "durch den letzten Krieg" zugefügt worden, in dem die Waffen bekanntlich seit dem 11. November 1918 stillstanden. Aus der unklaren juristischen Verweistechnik zwischen Reichstumultschadensgesetz und Personenschädensgesetz glaubte der Vertreter des Reichsfiskus herauslesen zu dürfen, dass diese Unruhen keine Versorgungsansprüche begründeten.
Das Reichsgericht löst die Verweistechnik anders und rechtfertigt dies mit der – womöglich rein politischen – Rhetorik im Gesetzgebungsverfahren: Die Reichsregierung habe seinerzeit das "Versprechen" gegeben, "die Tumultpersonenschäden in möglichst gleicher Weise wie die durch den Krieg verursachten Militär- und Zivilpersonenschäden zu regeln". Altfälle waren demnach noch versorgungsberechtigt.
Renten und Patriotismus für das Volk
Bemerkenswert ist die Rhetorik des Reichsgerichts, das hier aus Illustrationsgründen noch den polnischen Separatisten im Osten ihren Verrat am Reich ankreidet und ohne juristische Notwendigkeit ein deutsches "Wir" gegen die feindlichen "Anderen" ausformuliert. Daneben sind die gesetzlichen Innovationen jener Jahre höchst interessant. Gleich auf das genannte Personenschädensgesetz vom 15. Juli 1922 folgt im Reichsgesetzblatt ein "Gesetz über den Ersatz der durch die Verletzung des Reichsgebiets verursachten Personenschäden" (RGBl. I , 620 bzw. 624).
In den vergangenen Jahren hat der Historiker und Journalist Götz Aly für einige Furore gesorgt, indem er manche Wurzel des deutschen Sozialstaats der Bundesrepublik im NS-Staat ausmachte. Neben der direkten Bereicherung an "jüdischem Vermögen" sei die Bevölkerung auch durch die Rentenpolitik bei Laune gehalten worden.
Gesetzgebung und Rechtsprechung der frühen 1920er-Jahre versuchten, das Volk angesichts der Rheinlandbesetzung durch britische, belgische, französische und US-amerikanische Truppen ab 1919 zumindest durch Versorgungsansprüche nach Personenschäden bei Laune zu halten. Noch die höchstrichterlichen Urteile berufen sich dabei salbungsvoll auf patriotische Gefühle.
Friedensvertrag zwischen den USA und Deutschland
Fast vergessen, dass zwischen Deutschland und den USA ein eigener Friedensvertrag abgeschlossen wurde. Den Versailler Vertrag hatte der US-Senat bekanntlich nicht ratifiziert, weil mit ihm zugleich der Völkerbund gegründet wurde, dem das Land nicht beitreten sollte.
Mehrere Entscheidungen des Reichsgerichts aus dem Jahr 1923 behandelten diese Friedensverträge, das Urteil vom 2. Juni 1923 (Az. I 471/22) beispielsweise in der Frage, ob eine US-amerikanische Klägerin "mangels Neuheit" gegen ein Patent vorgehen kann, das bereits am 7. April 1913 – vor dem Krieg also – im Reichsanzeiger veröffentlicht worden war.
Der Versailler Vertrag enthielt eine ganze Vielzahl von Regeln, die den Krieg auch auf ökonomischem Gebiet beenden sollten: Was sollte beispielsweise geschehen, wenn der Einspruch gegen gewerbliche Schutzrechte infolge der Kriegshandlungen nicht möglich war? Artikel 307 des Versailler Vertrags sah hier eine Nachfrist vor, die mit dem Friedensschluss begann.
Die USA setzten die völkerrechtlichen Regeln zum ökonomischen Ausgleich – wie im deutsch-amerikanischen Friedensvertrag vom 25. August 1921 vorgesehen – nicht ausdrücklich in Kraft. Mit der Folge, dass sich der US-Kläger nicht gegen das deutsche Patent wehren konnte, wie das Reichsgericht ermittelte.
Die EU und der Versailler Vertrag
Richtig verwickelt wurde es in einem Urteil, das den Weg eines Wechsels nachzeichnete, der am 2. Juni 1914 auf eine Filiale der Dresdner Bank in London gezogen worden war – durfte das Papier eingelöst werden, als es nach dem Krieg der Dresdner Bank in Deutschland präsentiert wurde, oder war es der Beschlagnahme durch die britische Regierung unterworfen?
Die Antwort (Urt. v. 2.6.1923, Az. V 755/22) zeigt höchste deutsche Richter beim Grübeln. Dabei war die Wirtschaftsordnung des Versailler Friedensvertrags, im Vergleich zur heutigen EU-Rechtsordnung, noch gut überschaubar.
Verächter der EU-Verträge sollten vielleicht häufiger in den verstaubten Entscheidungsbänden nachschlagen. Konservative Bestandswahrung hat ja ihren Reiz. Und zur Entspannung dann vielleicht den stotternden Prinzen und seine pferdeliebe Gattin auf staubfreier DVD anschauen.
Martin Rath, Justiz in der Weimarer Republik: Reichsgericht zum Reichstumult . In: Legal Tribune Online, 02.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8823/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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