Bevor der Mensch des Analogzeitalters aus der Höhle kroch und die juristische Datenbank erfand, erhöhte er seine Rechtskenntnisse gern, indem er zu einer Fallsammlung griff. Eine persönliche Auswahl aus der Faustkeilsammlung von Martin Rath.
Der Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) amüsierte sich einmal über die Frage eines Theologen, der ernsthaft wissen wollte, ob mit den Wittgenstein-Worten "Die Welt ist alles, was der Fall ist", womöglich der biblische Sündenfall gemeint sein könnte.
Ein Blick in den "Tractatus logico-philosophicus" hätte genügt, um zu erkennen, dass der kantige Ludwig Wittgenstein (1889–1951) vermutlich eine etwas reichhaltigere Menge an Fällen im Sinn hatte als den doch etwas singulären, noch dazu vermutlich historisch nicht sonderlich gut gesicherten "Sündenfall".
Die Frage wirkte daher, gelinde gesagt, einfältig. Die Idee, dass sich eine ganze Welt in Fällen nachzeichnen lässt, fasziniert gleichwohl.
Wer von Berufs wegen mit dem Fallgut deutscher Gerichte beschäftigt ist, mag diesen Reiz aber wohl oft nicht mehr ganz nachvollziehen können. Einige Fall-Bücher, vom juristischen Kinder-Sachbuch aus den späten 1970er Jahren bis zu einer frisch gedruckten Sammlung arbeitsrechtlicher Streitfälle, bringen vielleicht wieder etwas von der ursprünglichen Faszination zurück.
100 × Bürgerrecht
"Ein Freiburger Rechtsanwalt brachte die Vorsitzenden in seinem Landgerichtsbezirk immer wieder in Verlegenheit. Er weigerte sich, in der Robe aufzutreten. Auf den Hinweis des Gerichts, daß diese Amtstracht für einen Rechtsanwalt vorgeschrieben sei, erklärte er, daß er bei seiner Auffassung bleibe: Es sei seiner freien Entscheidung anheim gegeben, ob er vor Gericht in der Anwaltsrobe auftrete oder nicht."
An insgesamt 100 Fällen wie diesem erklärte Rolf Lamprecht (1930–), der langjährige Karlsruhe-Korrespondent des "Spiegel", das Verhältnis von gesetzlichem, Standes- und Gewohnheitsrecht. Die berühmte Karikaturistin Marie Marcks (1922–2014) übernahm die undankbare Aufgabe, jeweils kleine Comic-Strips zu den juristischen Problemen zu zeichnen.
Das großformatige Sachbuch für aufgeweckte Kinder und für Jugendliche brachte Meyers Lexikonverlag 1979 heraus. Wie im Fall zum Robenstreit (Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 18.2.1970, Az. 1 BvR 226/69) gelang Lamprecht und Marcks stets eine kluge Einführung in die Frage, in welchen Grenzen und aus welchen Gründen der Staat in die Freiheiten eingreifen darf.
So anschaulich die Fälle, vor allem aus dem Bereich der Grundrechte dargestellt werden: Am Ende wird dem jugendlichen Leser der heranbrechenden 1980er Jahre sogar der Griff zu den Grundgesetzkommentaren, beispielsweise von Gerhard Leibholz (1901–1982) und Kollegen oder zur offiziellen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts vorgeschlagen.
Das Buch war ein schönes Beispiel für das Vertrauen darauf, dass sich Kinder und Jugendliche selbst schlau machen möchten. Heute weckt es ein bisschen den Verdacht, pädagogische Betreuungsbedarfsplanung (verstehen Kinder "anheim geben"?) auszulösen.
Vielleicht finden sich ja künftig einmal Anwälte, die ihre "noblesse de robe" dahin verstehen, einige darbende Comic-Künstler für ihre Kanzlei-Kommunikation zeichnen zu lassen?
Rolf Lamprecht & Marie Marcks: Klipp und klar. 100 × Bürgerrecht. Mannheim, Wien, Zürich (Bibliographisches Institut. Meyers Lexikonverlag) 1979
Kittner, 50 Urteile
Zwischen dem 24. Oktober 1956 und dem 15. Februar 1957 traten im relativ kleinen Tarifgebiet Schleswig-Holstein rund 32.000 Arbeiter der Metall-Industrie in einen Streik, mit dem sie die Forderung der IG Metall bekräftigten, künftig bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall mit den Angestellten gleichgesellt zu werden.
Mit diesem langen und mit viel Aufsehen geführten Streik setzte die Gewerkschaft ihre Forderungen durch, sah sich danach aber einer Schadensersatzklage der Arbeitgeberseite ausgesetzt. Weil sie eine nach der Schlichtungsordnung vorgegebene Fünf-Tages-Frist zwischen dem erklärten "Scheitern der Verhandlungen"“ und der Einleitung des Arbeitskampfes nicht eingehalten hatte, sah sich die IG Metall einer Forderung über 38 Millionen Mark ausgesetzt – "etwa das Doppelte eines damaligen Jahresüberschusses".
Der emeritierte Arbeitsrechtsprofessor Michael Kittner zeichnet in "50 Urteile. Arbeitsgerichte schreiben Rechtsgeschichte" die großen Fälle des kollektiven wie individuellen Arbeitsrechts nach – samt der prominenten Rolle, die auf diesem Feld die oft meinungsstarken Richter einnahmen, im potenziell vernichtenden IG-Metall-Urteil natürlich der erratische Hans Carl Nipperdey (1895–1968).
Kittner spannt den Bogen von der Kontroverse zwischen den Zivil- und Strafsenaten des Kaiserreichs zur Frage, ob der an sich erlaubte Streik gleichwohl als Erpressung strafbar sei, bis beispielsweise zur "Whistleblower"-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Wie es sich in den großen arbeitsrechtlichen Streitfragen anbietet, kann Kittner auch von den mehr oder minder offen mitverhandelten politischen und ökonomischen Konflikten erzählen. Das soeben neu herausgebrachte Buch wird damit zur instruktiven Lektüre für jeden politisch interessierten Menschen.
Michael Kittner: 50 Urteile. Arbeitsgerichte schreiben Geschichte. Frankfurt am Main (Bund-Verlag) 2019, 344 Seiten, 38,00 Euro, ISBN 978-3-7663-6857-7.
Der berühmteste aller Identitätsdiebstähle
Im Sommer des Jahres 1556 erschien im südwestfranzösischen Pyrenäen-Dorf Artigat ein Mann, der erklärte, er sei der seit Jahren vermisste Martin Guerre. Dieser hatte 1548 seine Frau Bertrande und seinen Sohn verlassen. Anlass war ein Streit mit seinem Vater, aber auch die Ehe muss schwierig gewesen sein – sie war acht Jahre kinderlos geblieben, was im patriarchal geführten baskischen Dorf natürlich zu Konflikten führte.
Frau und Familie nahmen den Mann als den heimgekehrten Martin Guerre auf – vermutlich, weil er sich als die bessere Wahl gegenüber dem unter die Soldaten gegangenen Original herausstellte.
Ein Erbschaftsstreit weckte jedoch das Misstrauen an der vorgeblichen Identität. 1560, im Gerichtsverfahren zu Rieux tauchte zudem der wahre Martin Guerre auf. Die Zeugnisse zur Identität liefen jedoch mehr oder minder auf ein Unentschieden hinaus. Der vorgebliche Martin Guerre, der Hochstapler Arnaud du Tilh, wurde zum Tod verurteilt und vor dem Haus der Familie Guerre gehenkt.
Der Plot dieser Geschichte ist recht bekannt. So bekannt, dass sich Dieter Simon, der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, gelegentlich entnervt über die graue Literatur äußerte, die aus dem studentischen Lehrbetrieb der Literatur- und Geschichtswissenschaften zum Fall Guerre auf den Markt gebracht wird.
Die Neugier auf diesen Fall ist verständlich, denn er vermittelt uns erstes Wissen zum Recht in einer frühmodernen Gesellschaft. Postmoderne Wissenschaftler*innen erregt das Spiel mit den Identitäten. Der interessierte Jurist (m/w/d) greift auf die klassische Fall-Erzählung der amerikanischen Historikerin Natalie Zemon Davis (1928–) zurück:
Natalie Zemon Davis: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre (antiquarisch greifbar in Ausgaben des Wagenbach- und des Fischer Taschenbuch Verlages oder im amerikanischen Original: "The Return of Martin Guerre").
Ist Karlsruhe eher Kant oder eher Heidegger?
Zu den launigen Ratschlägen, über die wahre Philosophen nur die Nase rümpfen können, zählt es, deutsche Denker, deren Sprache dem Laien als nur schwer zugänglich erscheint, in einer englischen Übersetzung zu lesen. Während sich beispielsweise bei den Hauptwerken Immanuel Kants (1724–1804) – den drei "Kritiken" – der Vorteil einstelle, dass der vertrackte, noch von der lateinischen Philosophensprache geformte Satzbau ihres Urhebers ein wenig schlanker werde, beweise sich am dunklen Martin Heidegger (1889–1976), dass seine mitunter als "Geraune" umschriebene Sprache ins lichte Englisch gar nicht sinnvoll zu übertragen sei.
Dem amerikanischen Rechtsgelehrten Donald P. Kommers, der im vergangenen Dezember im Alter von 86 Jahren verstarb, ist es zu verdanken, dass deutsche Leser die Probe darauf, ob das Bundesverfassungsgericht in englischer Sprache eher in Richtung Kant oder doch in Richtung Heidegger ausschlägt, mit umfangreichem Material unternehmen können.
Vor allem natürlich für den angelsächsischen Leser, der daran gewöhnt ist, juristische Fragen in Fälle gekleidet zu studieren, übersetzte Kommers die wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ins Englische, natürlich in vertretbaren Textauszügen.
Für deutsche Juristen (m/w/d), die Jahre ihres Lebens darauf trainiert wurden, noch nachts aus dem Schlaf gerissen die zentralen Aussagen zum Beispiel der unter dem Aktenzeichen 1 BvR 596/56 oder dem Aktenzeichen 1 BvR 514/90 ergangenen Entscheidungen aus Karlsruhe examensgerecht vorzutragen, können bei Kommers nachlesen, ob sie bereit sind, in englischer Sprache von deutschen Fällen zu träumen, etwa vom "Pharmacy Case" oder vom "Tucholsky I Case".
Donald P. Kommers: The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany. Durham and London (Duke) 1997, inzwischen 3. Auflage 2012.
Nach dem Sündenfall kommt der Jurist ins Spiel
Ein ganz anderes Übersetzungsproblem wirft das neumodische Gerede vom "jüdisch-christlichen Abendland“ auf. Die meisten Leute, die sich dieser Phrase bedienen, hat man ja stets im Verdacht, mit Religion so viel am Hut zu haben, wie der britische Zoologe Richard Dawkins (1941–), ein Thilo Sarrazin der populärtheologischen Literatur ("Gotteswahn").
Doch wie übersetzt man beispielsweise die normativen Probleme der biblischen Erzählung in einer Weise, dass auch ein potenziell religiös unmusikalisches Publikum noch etwas mit ihnen anfangen kann?
Der amerikanische Strafverteidiger und Rechtsprofessor Alan M. Dershowitz (1938–) interpretierte einige biblische Fälle mit Blick auf die Fragen, die sie in ethischer Hinsicht aufwerfen. Beispielsweise mutiert der Stammvater Abraham in der Erzählung vom göttlichen Zorn zum Schaden der Stadt Sodom zum ersten Rechtsanwalt der Geschichte: Er muss mit dem Allmächtigen verhandeln, wie viele Gerechte die Stadt vor ihrer Zerstörung bewahren könnten – und wenn es eine Zahl n sei, warum nicht eine Zahl n - 1 genüge.
Hierzulande wurden die einst stolzen deutsch-jüdischen Rechtsgelehrten vertrieben oder ermordet. Menschen, die mit gelehrtem Ernst die juristische und die religiöse Hermeneutik verbinden, finden sich im deutschsprachigen Raum kaum mehr. Grenzüberschreitungen fallen meist humoristisch aus, davon hat man schnell genug. Dershowitz lässt mit seiner Verehrung für die juristische wie talmudische Auslegungskunst ahnen, was Deutschland intellektuell verloren ging.
Alan M. Dershowitz: Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2002 ("The Genesis of Justice: Ten Stories of Biblical Injustice that Led to the Ten Commandments and Modern Morality and Law").
Unsere Republik als Schatzkammer der Erfahrung kennen lernen
Zu viel historisches Bewusstsein kann bizarre Konsequenzen haben. Das lässt sich derzeit im britischen Parlament beobachten, wo nicht wenige Abgeordnete den Eindruck erwecken, sie kämpften darum, das Ehe- und Scheidungsglück König Heinrichs VIII. gegen die Suprematie-Ansprüche des Europäischen Gerichtshofs zu verteidigen – anschließende Plünderung einheimischer Klöster nicht ausgeschlossen.
Aber auch Mangel an historischem Bewusstsein kann schmerzhaft sein. Zu den Epochen, die dabei eher selten als therapiebedürftig ins Bewusstsein kommen, zählt die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – auch darum wird im Internet über politische Probleme der Gegenwart herumgeschrien, als sei man im Kreißsaal, nicht in der Schatzkammer gereifter Erfahrungen.
Der Bremer Rechtsprofessor Roland Dubischar hat mit seinen "Prozessen, die Geschichte machen" zehn große Zivilrechtsfälle aufbereitet, in denen sich vor allem Rechts- und Wirtschaftsgeschichte sowie Rechts- und Medizingeschichte der Bundesrepublik verbinden. Die Entwicklung der Arzthaftung oder die Konkursgeschichten wichtiger deutscher Kreditinstitute werden hier jeweils von beiden Seiten greifbar – käme ein Buch wie dieses einmal jährlich zu neuen Fällen heraus, Juristen und Laien würden die Auffassungen vom Recht der jeweils anderen deutlich weniger schmerzhaft wahrnehmen.
Michael Kittner (einige Bilder weiter vorne), macht insoweit ein bisschen Hoffnung.
Roland Dubischar: Prozesse, die Geschichte machten. Zehn aufsehenerregende Zivilprozesse aus 25 Jahren Bundesrepublik. München (Beck) 1997.
Literarische Empfehlungen: Vieles, was der Fall ist . In: Legal Tribune Online, 10.02.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33769/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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