Hand aufs Herz: Wer kein Berliner ist, hat dieser Tage kaum an den Jahrestag des Mauerbaus gedacht. Martin Rath hat für die Hauptstadt wenig übrig – für ein Buch des Juristen Ernst Reuß, das eine ganz andere Art von Gedenken nicht nur an die Hauptstadt nach 1945 ermöglicht, umso mehr. Eine Leseempfehlung.
Der Präsident des Gerichts, das für einige Zeit nicht "Kammergericht" heißt, wird wahrscheinlich ernannt, weil er in der baltischen Provinz des Zarenreichs gebürtig ist und einige Jahre in Odessa akademisch gelehrt hatte, also die Sprache beherrschte, die gerade angesagt war. Im Übrigen war der Herr Präsident, Professor Dr. Arthur Kanger (1875-1960), von Haus aus Pharmazeut.
Ein Dr. Wilhelm Kühnast (1899-1970) wird, so will es die Legende, zum Generalstaatsanwalt beim Kammergericht, das jetzt erst einmal Stadtgericht heißt, berufen, weil der Stadtkommandant von Berlin die Frage stellt, wer unter den anwesenden Juristen der größte sei. Kühnast, der als Amtsrichter bisher mit Zivilrecht befasst gewesen war, ist vielleicht nicht der an Kompetenz größte Rechtsgelehrte im Raum, die Berufung zum Generalstaatsanwalt aber wegen seiner schieren Körpergröße erhalten haben.
"Berufung" einmal beim Wort genommen
Ob die Legende nur gut erfunden ist oder einfach gern erzählt wurde: Das Wort "Berufung" scheint im Wortsinn wahr gewesen zu sein, denn der sowjetische General Nikolai Erastowitsch Bersarin, der bis zu seinem Unfalltod am 16. Juni 1945 kurze Zeit der erste Stadtkommandant von Berlin ist, hält sich am 17. Mai 1945 nicht lange mit altdeutschem Justizschriftwesen auf und ernennt das zur Neuorganisation der Verwaltung Berlins beorderte deutsche Personal auf Zuruf.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa liegt gerade eine gute Woche zurück, Amerikaner, Briten und Franzosen werden erst im Juli in ihre vereinbarten Besatzungszonen in der deutschen Hauptstadt einrücken.
In seinem Buch "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern" geht der promovierte Jurist Ernst Reuß nicht zuletzt auf diese Übergangsphase zwischen der rein sowjetischen Besatzung Berlins und ihrer Teilung in vier Sektoren ein. Auch die Folgezeit bleibt, wie Reuß in dieser Untersuchung zum "Justizalltag im Nachkriegsberlin" erzählt, von Improvisation und Not geprägt. Boshaft möchte man fast wünschen, dass manche Information nicht ans Ohr heutiger Beschaffungsämter kommt: Papier und Gesetzestexte, aber auch technische Hilfsmittel sind im zerstörten Berlin so rar, dass Justizangestellte in spe ihre Einstellungsmöglichkeiten erheblich verbessern, wenn sie eine Schreibmaschine mitbringen können.
Vorsichtige Taktik der Kommunisten
"Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben", dieses Leitmotiv des späteren DDR-Staatschefs Walter Ulbricht (1893-1973), überliefert vom späteren DDR-Flüchtling Wolfgang Leonhard (1921-2014*), der als jüngstes Mitglied der kommunistischen "Gruppe Ulbricht" Anfang Mai 1945 zur Vorbereitung der stalinistischen Machtübernahme mit nach Berlin zurückgekehrt war, prägt das publizistische Bild von dieser Zeit bis heute – sicher zu Recht, kann doch Leonhards "Die Revolution entlässt ihre Kinder" (zuerst: Köln 1955) immer noch als Lehrbuch arkaner Machtübernahmepolitik gelesen werden.
Für die Justiz im frühen Nachkriegsberlin zeichnet Reuß ein Bild mit weiteren Schattierungen. Nicht zuletzt das Faible der neuen Machthaber für das Bildungswesen und die Polizei lässt zunächst Freiräume, die es "bürgerlichen" Juristen erlauben, im Gerichtswesen reüssieren.
Die Ausdifferenzierung nach demokratischem Westen und volksdemokratischem Osten erfolgt derweil noch vor der Berlinblockade 1948/49. Die US-Amerikaner richten sich ein Landgericht ein, um nicht - wie zunächst noch für die Amtsgerichte im britischen und französischen Sektor - das sowjetzonale Stadt- bzw. Kammergericht im Instanzenzug übergeordnet zu haben. Im verschärften kalten Krieg wird die Justiz aufgeteilt, die Juristen orientieren sich: Etliche "bürgerliche", nicht selten NS-vorbelastete wandern in die Westsektoren ab, der Osten kann auf das Konzept juristisch unausgebildeter Volksrichter setzen, die ungehemmt die politische Justiz der DDR etablieren.
* Anm. d. Red.: Wolfgang Leonhard ist just am Tag der Veröffentlichung dieses Beitrags verstorben. Dies wurde ergänzt um 18:06 Uhr.
2/2: Kartoffelräuber unterm Fallbeil
Der Weisung ihrer Vorgesetzten, bei Dienstschluss die Glühbirnen aus der Fassung zu schrauben, um sie angesichts des allfälligen Mangels vor Diebstählen zu schützen, werden derweil Justizbedienstete überall in Berlin gefolgt sein. Das Bild illustriert, was Reuß‘ "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern" so interessant macht: Das Buch zeichnet nicht allein die – nehmen wir das Kompositum – Justizverwaltungsgeschichte nach, es beruht auf umfangreichem Aktenstudium aus den frühen Zeiten der Berliner Nachkriegsjustiz.
Diebstähle sind in der Not Alltagsgeschäft der Justiz, auch bei eingedrehtem Leucht- und werktätigem Spruchkörper: Vier Wochen Gefängnis werden für den Diebstahl zweier Glühbirnen ausgegeben, Kartoffeln aus dem Keller einer Nachbarin zu stehlen, bringt einem Angeklagten zwei Monate Gefängnis ein.
Die Psychologie des Urteils, vom etwas geschmeidigen Umgang mit der Unschuldsvermutung bis zum Strafmaß – je nachdem, wie sehr sich die Richter womöglich selbst von der sozialen Unordnung bedroht sahen –, dürfte in West und Ost, nicht allein in Berlin, sondern in allen Besatzungszonen Deutschlands, kaum große Unterschiede gemacht haben. Zur Kartoffel, dem überlebenswichtigen Grundnahrungsmittel, mancher kennt das, wenn nicht aus eigener Anschauung, dann von den Eltern oder Großeltern, entwickelt das deutsche Volk in diesen Jahren ein obsessives Verhältnis.
Glücklicherweise hatte die Knollen-Not nicht immer ganz so böse Folgen wie im Fall des Berthold Wehmeyer (1925-1949), der am 11. Mai 1949 – das Grundgesetz war bereits beschlossen, in der Bundesrepublik aber noch nicht in Kraft, in Berlin (West) ja ohnehin nur bedingt – als letzter Berliner guillotiniert wurde: 1947 hatte er mit einem Tatgenossen seine 61-jährige Landsmännin Eva Kusserow ermordet, um in den Besitz der von ihr "erhamsterten" 20 Kilogramm Kartoffeln zu kommen.
Der große Jurist Kühnast flieht in den Westen
Die weitere Geschichte des "großen Juristen" Wilhelm Kühnast, der in einen ost-westlichen Streit über die Personal- und übrige Politik der noch gemeinsamen Berliner Justizbehörden geriet – dem Generalstaatsanwalt wurde vorgeworfen, Akten des Volksgerichtshofs unterdrückt zu haben und er floh unter leicht slapstickartigen Umständen aus seinem Ostberliner Hausarrest in den Westen –, findet sich bei Reuß ebenso wie ein Seitenblick auf den Fall Heinrich Tillessen (1894-1984).
Der war keine Berliner, aber doch eine zentrale Sache der Nachkriegsjustiz in der Schnittmenge deutscher und alliierter Gerichtsherrlichkeiten: Tillessen hatte am 26. August 1921 den ehemaligen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (1875-1921) ermordet, bekannte sich dazu ohne Anlass vor US-Soldaten, die ihn seiner NS-Zugehörigkeit wegen festgenommen hatten. Umstritten war, ob die nationalsozialistische "Straffreiheitsverordnung" von 1933, von der Fememörder wie er profitieren sollten, von der deutschen Nachkriegsjustiz angewendet werden dürfe – ein Justizspektakel, bei dem am Ende die französischen Besatzungsorgane einen deutschen Landgerichtsdirektor in den Ruhestand schickten und das Verfahren an sich zogen, war die Folge.
Leseempfehlung? – Leseempfehlung!
Im Zusammenhang mit der sogenannten NSA-Affäre wurde jüngst mit großen Augen und offenen Mündern zur Kenntnis genommen, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sich einst auf dem Gebiet des Völkerrechtssubjekts Deutschland gewisse Vorrechte einräumen ließen.
Ob man wisse, dass die USA die Bundesrepublik für die hierzulande gelagerten Atombomben habe zahlen lassen, statt ihrerseits unsereins dafür zu entlohnen, wird man neuerdings gefragt. Dass die Bundesrepublik Deutschland durchaus noch für Verkehrsunfälle zum Beispiel belgischer Verkehrsrowdies in Uniform aufkam, denen in den 1970er-Jahren deutsche Fußgänger zum Opfer fielen – von solchen juristischen Petitessen im Nachklang des letzten Weltkriegs hat heute kaum noch jemand Kenntnis.
Ernst Reuß justizhistorisches Werk "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern" ist keine juristische Speziallektüre, sondern ein allgemeinverständliches Buch, das sich dankenswerterweise nicht aufs lokalhistorische Interesse von Berlinerinnen und Berlinern beschränkt. (Der Verfasser dieser Rezension hat für diese Stadt beispielsweise wenig übrig, fand das Buch aber – wie zu zeigen war – trotzdem sehr aufschlussreich.)
Es wird Zeit, sich auch zu den ersten Jahren und Jahrzehnten der deutschen Nachkriegszeit ein nüchtern-historisches Verständnis anzueignen – allein schon, um sich von den derzeit stark modischen Verschwörungstheorien und Geheimnistuereien kleinerer Größe abzusetzen.
Lesetipp: Ernst Reuß: "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern". Justizalltag im Nachkriegsberlin. Vergangenheitsverlag, Berlin 2012 - Printausgabe 19,90 Euro, eBook 9,99 Euro.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Buch "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern": Als Richter wurde, wer eine Schreibmaschine hatte . In: Legal Tribune Online, 17.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12912/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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