Über 30 Jahre ermittelte der Kölner Staatsanwalt Egbert Bülles gegen Drogenbanden, Mafiakartelle und Rockergangs. Nicht nur auf der Straße, auch im Justizvollzug und in der Politik. Mit LTO spricht der Insider über sein neues Buch "Deutschland, Verbrecherland?", und warnt: Deutschland befinde sich im Würgegriff der organisierten Kriminalität. Übertriebene Panikmache oder überfälliger Weckruf?
LTO: Herr Bülles, Ihr Buch über die organisierte Kriminalität in Deutschland hat beinahe 300 Seiten – wann fiel die Entscheidung, das alles aufzuschreiben?
Bülles: Da muss ich vorweg sagen, das Ganze war von Anfang an auf 700 Seiten angelegt. Viele Sachen sind gar nicht in das Buch gekommen, weil kein Platz mehr war. Zum Beispiel ist ein ganzes Kapitel zu Überfallserien auf Juweliere draußen geblieben.
LTO: Andere schreiben im Ruhestand einen Roman, Sie schreiben wieder über Ihre Arbeit…
Bülles: Sehen Sie, ich spreche ja noch viel mit Kollegen. Und da herrscht schon eine große Frustration. Denen fehlt einfach die Rückendeckung durch die Politik. Ich habe das Gefühl, dass die Strafjustiz gegen die Wand gefahren wird. Die amtierenden Staatsanwälte trauen sich anscheinend nicht, das mal öffentlich zu sagen.
LTO: Und deshalb also ein Buch "Deutschland, Verbrecherland?" ?
Bülles: Ein Insider sollte mal sagen, wie es wirklich aussieht mit der Strafverfolgung in Deutschland. Wie schwierig es etwa ist, als Polizeibeamter innerhalb einer Minute entscheiden zu müssen, greifen wir ein oder fahren wir weiter und gucken weg. Dann brauchen wir uns nicht später zu rechtfertigen, wenn es brenzlig wird. Wir haben dann halt einfach nichts gesehen. Wir Juristen haben es da einfach. Wir sitzen am Schreibtisch, gucken in die Kommentare und wenn man nicht weiter weiß, dann fragt man den Kollegen.
"Freier Verkehr von Waren und Handel – und Kriminalität"
LTO: Hinter dem Titel "Deutschland, Verbrecherland?" steht ein Fragezeichen. Ist das Buch trotzdem eine Warnung?
Bülles: Ja, das ist eine Warnung. Ab 2014 haben wir Freizügigkeit aus Bulgarien und Rumänien. Da kommt wohl auch eine Kriminalitätswelle nach Deutschland geschwappt. Ich bin für ein gemeinsames Europa. Nur müssen die Strafverfolgungsbehörden auch darauf eingerichtet sein. Freier Verkehr von Waren und Handel bedeutet auch freier Verkehr von Kriminalität.
LTO: Als bekannt wurde, woran Sie arbeiten, sollen Sie viele Anrufe von Ihren ehemaligen Kollegen bekommen haben. Was haben die Ihnen geraten?
Bülles: Die einen haben befürchtet, ich würde irgendwelche geheimen Ermittlungsmethoden oder Interna aus der Staatsanwaltschaft Köln verraten. Das habe ich natürlich nicht gemacht. Andere haben gesagt, das bringt sowieso nichts. Du hast so viele Vorträge gemacht, und was hat sich dadurch geändert? Nichts. Viele meiner Kollegen scheinen zu resignieren. Viele sind froh, wenn sie endlich in den Ruhestand gehen und sagen dann, ich will von der ganzen Sache nie wieder etwas hören. Ich bin da vielleicht anders gestrickt. Ich wollte und will die Bürger vor Straftaten schützen.
LTO: Den Kampf gegen das organisierte Verbrechen muss man sich langwierig vorstellen. Wie oft haben Sie daran gedacht, aufzugeben?
Bülles: Wissen Sie, das größte Problem ist ja, dass neben Unzulänglichkeiten der Gesetze, die ich in meinem Buch ausgeführt habe, man überörtlich ermitteln muss, wobei man durch die bestehenden Behördenstrukturen behindert wird. Zum Beispiel bei Enkeltricks, also Betrügereien gegenüber älteren Menschen, die deutschlandweit von denselben Tätergruppen begangen werden. Da fragen Sie sich, warum gehen die anderen Staatsanwaltschaften nicht dagegen vor? Vielleicht weil sie zu bequem sind oder die Strukturen nicht erkennen oder erkennen wollen.
LTO: Sie haben jahrelang auch Referendare ausgebildet. Was sagen Sie denen, warum Sie sich mit Organisierter Kriminalität befassen?
Bülles: Also ich habe bestimmt 2.000 Referendare ausgebildet und bilde immer noch aus. Ich habe immer gesagt, wenn Sie zur Staatsanwaltschaft wollen, das ist nicht nur ein Job, das ist eine Berufung. Man muss ein Gerechtigkeitsgefühl haben. Und man darf nicht reich werden wollen.
LTO: Hätten Sie sich denn einen anderen Beruf vorstellen können?
Bülles: Nach dem Abitur wollte ich Geschichte studieren, Archäologie, und wollte dann in die Politik. Auf den Rat eines Professors habe ich in Bonn Jura angefangen und bin der CDU beigetreten. Und alsbald wieder wegen der Parteispendenaffäre ausgetreten. Berechtigt, wie ich finde. Ich bin überhaupt der Meinung, ein Staatsanwalt sollte in keiner Partei sein. Der muss unabhängig sein.
"Nennen Sie mir eine Straftat und ich sage Ihnen, welche Nationalität die Gruppe hat"
LTO: Fürchten Sie nicht, dass ihr Buch mit seinen Forderungen nach einer verschärften Sicherheitspolitik auch von rechts-populistischen Stimmen in Beschlag genommen wird?
Bülles: Das könnte sein. Von diesem Ziel muss ich mich aber sehr distanzieren. Das kommt in dem Buch aber auch raus. Für mich geht es darum, ist jemand straffällig oder nicht. Egal welcher Herkunft er ist. Die Täter selbst waren nie meine persönlichen Feinde.
LTO: Haben das die Täter umgekehrt auch so gesehen?
Bülles: Ich habe viel Post aus dem Gefängnis bekommen. Viele haben sich später bei mir bedankt und wollten sogar mit mir ein Bier trinken gehen. Da habe ich natürlich dankend abgelehnt.
LTO: In Ihren Verfahren endete die Suche nach den Drahtziehern des organisierten Verbrechens beinahe immer in den europäischen Nachbarländern. Warum heißt das Buch trotzdem "Deutschland, Verbrecherland?" Gibt es Ihrer Meinung nach für organisierte Kriminalität in Deutschland so etwas wie einen Standortvorteil?
Bülles: Wir haben offene Grenzen, die Rechtshilfe funktioniert oft nicht. Im Prinzip können Sie mir eine Straftat sagen, ich kann Ihnen sagen, welche Nationalität die Gruppe hat. So klar ist das aufgeteilt. Die Türsteherszene wird von Kosovo-Albanern, Rockergruppen und auch Deutschen dominiert, 90 Prozent des Kokainhandels läuft über die italienische 'Ndrangheta, der Menschenhandel über Rumänien und Bulgarien, der Wohnungseinbruch wird von Rumänen und Roma-Banden dominiert. Das scheint in Deutschland nur wenige zu interessieren. Viele Gruppen setzen aus dem Ausland auch Kinder und Jugendliche ein, weil sie wissen, die kommen nur zum Jugendrichter.
2/2: "Die Verfolgung funktioniert in Europa nicht"
LTO: Sie schreiben, der grenzüberschreitenden Strafverfolgung stünden vor allem auch Sprachbarrieren und unterschiedliche Rechtssysteme im Weg. Wie haben Sie die europäische Zusammenarbeit erlebt?
Bülles: Ich habe dreimal versucht, ein internationales Ermittlungsteam zu gründen, um gegen Menschenhandel vorzugehen. Da signalisierten erstmal alle Länder große Bereitschaft, als es aber zum Schwur kam, sind sie aus Kostengründen wieder abgesprungen. Da ist man natürlich frustriert.
LTO: Also ist Europa bei der Verfolgung organisierter Kriminalität gescheitert?
Bülles: Das funktioniert nicht in Europa. Aber da muss man auch sehen, dass die Verfolgung auch in Deutschland nicht funktioniert. Jedes Bundesland hat andere Ziele. In Köln heißt es, warum machen die Düsseldorfer nichts, warum machen die in Niedersachen nichts. Deshalb etwa meine Forderung nach überörtlichen Schwerpunktstaatsanwaltschaften.
LTO: In Ihrem Buch beschreiben Sie nicht nur Missstände, sondern schlagen auch ganz konkrete rechtliche Schritte vor.
Bülles: Wir haben Gesetze von 1871 und 1879. Die Täter heute sind ganz anders unterwegs. Wir hatten eine Telefonüberwachung der Türsteherszene, da gibt es Täter, die fahren nach Hannover und wenn da nichts los ist, fahren die noch nach Frankfurt. Die fahren in einer Nacht mal gut und gerne 1.000 Kilometer durch zahlreiche Bundesländer. Da haben Sie das Problem des Föderalismus. Hinzu kommen fehlende oder unzureichende Gesetze. So brauchen wir Instrumente wie die Vorratsdatenspeicherung oder die Umkehr der Beweislast bei Vermögen der Straftäter, wonach diese zu beweisen haben, dass sie dieses redlich erworben haben.
LTO: Welche Vorschriften müsste der Gesetzgeber ändern?
Bülles: Als konkrete Gesetzesänderung schlage ich die Änderung des §100 ff StPO (Erhebung von Verkehrsdaten) an die EU Richtlinie 2006/246 vom 15.3.2006 vor, wonach bei erheblichen Straftaten Verkehrsdaten auf Vorrat, das heißt für mindestens sechs Monate, zu speichern sind. Eine Regelung, die Deutschland schon lange umzusetzen hat. Durch diese Daten können Netzwerke von Einbrechern, Betrügern oder Menschenhändlern, die sich bei ihren Straftaten über Handys verständigen, erkannt werden. Des Weiteren muss endlich die EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels umgesetzt und das Prostitutionsgesetz in einigen Punkten zum Schutz der Frauen geändert werden.
"Pressepolitik der Justiz oft zu zurückhaltend"
LTO: Auch die Staatsanwaltschaft, so warnen Sie, gerät immer häufiger ins Visier des organisierten Verbrechens. Waren Sie selbst einmal in Gefahr?
Bülles: Na ja, ich bin zweimal bedroht worden, aber ich bin gelassen geblieben. In einem Kapitel des Buchs habe ich aber erwähnt, was einem besonders engagierten Kollegen mit der Türsteherszene passiert ist.
LTO: Sie schreiben auch, dass Ihnen zu Ihrem Entsetzen unmittelbar vor einer strenggeheimen Durchsuchungsaktion im Morgengrauen auf einem Kölner Parkplatz ein bekannter Reporter zuwinkte. "Na, Herr Bülles, schon so früh unterwegs?" War das ein Einzelfall? Wie sah Ihr Verhältnis zur Presse sonst aus?
Bülles: Ich war immer froh, dass die Medien da sind. Sie kontrollieren ja auch die Strafbehörden. Deshalb ist es auch gut, dass Verhandlungen öffentlich sind. Im Übrigen ist die Presse ein wirksames Kontrollorgan, damit die Strafverfolgungsbehörden sich an Recht und Gesetz halten.
LTO: Braucht Strafverfolgung heute die Medien?
Bülles: Ja. Ich finde, dass die Pressepolitik der Justiz oft sogar viel zu zurückhaltend ist.
LTO: Zieht das Buch einen Schlussstrich unter Ihre Arbeit gegen die organisierte Kriminalität?
Bülles: Nein, ich habe ja auch noch über 300 Seiten in der Hinterhand. Das könnte theoretisch übermorgen veröffentlicht werden. Aber, wissen Sie, irgendwann muss ja auch Schluss sein.
LTO: Herr Bülles, vielen Dank für das Gespräch.
Egbert Bülles war bis zu seiner Pensionierung 2012 30 Jahre lang Oberstaatsanwalt in Köln und leitete die Abteilung für Organisierte Kriminalität. Im Oktober 2013 erschien sein Buch "Deutschland, Verbrecherland?".
Die Fragen stellte Markus Sehl.
Markus Sehl, Staatsanwalt warnt vor organisierter Kriminalität: Deutschland, Verbrecherland? . In: Legal Tribune Online, 11.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9971/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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