Wenn aus Angst vor Straßenkriminalität Bürgerwehren ins Gespräch gebracht werden, geraten zwei Dinge oft in Vergessenheit: Das Verbot paramilitärischer Organisationsformen sowie die Geschichte des gezähmten Werkschutzes.
In einem Beitrag für die FAZ zeichnete der Arbeitsrechtsprofessor Volker Rieble dieser Tage ein Schreckensszenario der öffentlichen Sicherheit in Deutschland.
Seiner Erkenntnis nach werden "in polizeilich verwahrlosten Gegenden […] manche Delikte achselzuckend nicht mehr verfolgt". "Ausgesuchte Tätergruppen" genössen "offenbar politisch gewollte Toleranz", mit der Konsequenz:
"Offene Gewaltdelikte sowie Bandenherrschaft über innenstädtische Räume erzeugen Orte, an denen [sic!] sich der unbewaffnete Zivilist ohne Nahkampfausbildung nicht mehr traut."
Beispiel Bürgerwehr in Würzburg
Zu den solcherart bedrohten Orten zählte offenbar spätestens seit November 2012 das bayerische Würzburg. Eine anfangs unter der geschmacklosen Bezeichnung "Einsatzgruppe Lupus" firmierende Bürgerwehr patrouillierte hier seither durch die Innenstadt, um, zunächst partiell uniformiert und bewaffnet, gegen die Kleinkriminalität der nächtlichen Großstadt vorzugehen.
Ausgestattet waren die Streifendienstler zusätzlich mit dem festen Bewusstsein, im gegebenen Fall aus § 32 Strafgesetzbuch (StGB) zur Nothilfe, nach § 127 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) zur vorläufigen Festnahme bzw. Identitätsfeststellung befugt zu sein.
Nach einem Jahr der "Lupus"-Streifengänge untersagte es die Stadt Würzburg der Gruppe sowie einzelnen ihrer Angehörigen nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 Landesstraf- und Verordnungsgesetz (LStVG) in Verbindung mit § 127 StGB, hilfsweise nach Art. 7 Abs. 2 Nr. LStVG weiterhin bewaffnet und uniformiert auf Patrouille zu gehen.
Bevor sich der Leit-"Lupus" selbst wegen des Vorwurfs vor Gericht verantworten musste, gewerbsmäßige Einbruchsdiebstähle begangen zu haben, hatte die Würzburger Bürgerwehr noch ihre große Stunde vor dem Verwaltungsgericht (VG): Mit Urteilen vom 22. Januar 2015 gestand das VG Würzburg der Stadt zwar zu, dass die "Lupus"-Leute u.a. zwar die Tatbestandsvoraussetzungen des § 127 StGB im Einzelfall erfüllten, die Verbotsbescheide aber ermessensfehlerhaft gewesen seien, weil die Stadt nicht hinreichend auf die Zusage der Bürgerwehr eingegangen sei, künftig auf die Uniformierung und das Waffentragen zu verzichten.
Bewaffneter Haufen, modernisierte Fassung
Obwohl die "Wölfe" auch nach Auffassung des VG Würzburg gegen das in § 127 StGB formulierte Verbot der Bildung bewaffneter Gruppen verstoßen hatten, hob es daher die städtischen Ordnungsverfügungen auf.
Diese Strafnorm ist von jeher leider wenig beliebt. Zwischen 1872 und 1998 bedrohte sie mit Freiheits- oder Geldstrafe, wer "unbefugterweise einen bewaffneten Haufen bildet oder befehligt oder eine Mannschaft, von der er weiß, daß sie ohne gesetzliche Befugniß gesammelt ist, mit Waffen oder Kriegsbedürfnissen versieht" sowie denjenigen, der "sich einem solchen bewaffneten Haufen anschließt".
Konjunktur hatte die rustikale Norm eigentlich nur in den Jahren 1919 und 1920, als sie insgesamt knapp 1.400 Verurteilungen wegen Freikorps- und Spartakisten-Tätigkeit trug.
In ruhigen Jahren kam sie gar nicht zur Anwendung. Zu den seltenen Verurteilungen aus § 127 Abs. 2 StGB, dem Anschluss an einen bewaffneten Haufen, gehört die grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts vom 29. November 1897 (Az. 3622/97), wegen eines "Haberfeldtreibens" im Großraum München: Bei diesem bayerischen Ritual wurde ein Dorfbewohner moralischer Verfehlungen geziehen, beispielsweise der Bäcker der Fertigung zu kleiner Bretzeln oder die Jungfrau der vorehelichen Sexualbetätigung. Eine Schwurgemeinschaft besorgter Bürger belästigte diese Personen dann unter nächtlichem Lärmen mit einer Anklage in Reimform, mit dem Ziel, sie zur öffentlichen Abbitte zu nötigen.
Das Reichsgericht stellte fest, dass auch ein selbst unbewaffneter "Haberfeldtreiber" aus § 127 Abs. 2 StGB zu verurteilen sei, wenn der Haufen im Übrigen über Waffen verfügte.
Bereits Reinhard Frank (1860–1934), dem Erfinder der "Frank'schen Formeln", fiel zu der Norm nicht viel ein. Der von Frank noch angeführten Erwägung, die Bildung bewaffneter Haufen zu verbieten, erleichtere Deutschland den völkerrechtlichen Umgang – gegen fremde Besatzungsmächte solle sich der Widerstand nicht ohne staatliche Erlaubnis regen – entzog der Gesetzgeber spätestens 1998 den Boden, als er die rustikalen Formulierungen des "Haufens" und der "Mannschaft" durch die "Gruppe" sowie den des "Versehens" mit "Waffen und Kriegsbedürfnissen" durch "Waffen oder Geld" ersetzte.
Die ganze Last der Abgrenzung z.B. eines Schützenvereins von der "bewaffneten Gruppe" im Sinne von § 127 StGB muss seither das Wort "unbefugt" tragen. Im Vergleich beispielsweise zu den §§ 129, 129a StGB, die explizit kriminelle bzw. terroristische Vereinigungen pönalisieren oder § 125 StGB, der als Landfriedensbruch eine bereits konkret gewordene Gefahr unter Strafe stellt, die sich aus der Gruppendynamik eines gewaltbereiten Haufens ergibt, belastet § 127 StGB Anklagebehörde und Gericht mit der unangenehm wertenden Vorfrage, welchen Gruppen es an der "Befugnis" denn wirklich fehle, mit Waffen ausgestattet zu sein.
2/2: Legitime Furcht vor "der Straße"
In seiner "Maunz-Dürig"-Kommentierung zu Artikel 8 Grundgesetz (GG) erklärt der Kölner Staatsrechtslehrer Otto Depenheuer (1953–), dass "die Furcht vor 'der Straße', vor dem Terror einer entfesselten Masse und das Bestreben gegen diese Gefahren weiträumig Vorkehrungen zu treffen, ein zu elementares Bedürfnis und zu evidentes Ordnungsproblem" sei, "als dass es sich nur als lächerliche Spießbürgerei abtun ließe".
Linksextreme "Putzgruppen", die den "Häuserkampf" trainieren, rechtsextreme "Nervendruck"-Seminare im NPD-Umfeld und noch dazu ein Münchener Arbeitsrechtsprofessor, der die Zombie-Apokalypse einer "politisch gewollten" Toleranz gegenüber Gewalt sowie die "Bandenherrschaft über innenstädtische Räume" beschwört - über all dem ist es bedauerlich, dass der § 127 StGB kaum dazu beiträgt, "die Furcht vor 'der Straße'" einzuhegen, aber auch kein Beinbruch.
Denn ausgerechnet "bewaffnete Haufen" beziehungsweise "Mannschaften", die aus Opportunitätsgründen nie als solche vor Gericht kamen, bieten ein Beispiel für die Disziplinierung gesellschaftlicher Gewalterwartungen.
Vorbild: Zähmung der Werkspolizei
Während heute – zwar unter Maßgabe einer selbst gestrickten polizeilichen Generalklausel – die "Security" auf durchaus zivile Art zuständig ist, in Betrieben für "Ordnung und Sicherheit" zu sorgen und "Gefahren und Schäden" abzuwenden, bewegte sich der "Werkschutz" in den 1950er bis 1970er Jahren jedenfalls konzeptionell nah an der Vorstellung einer paramilitärisch organisierten "Mannschaft".
1970 kam es beispielsweise bei der Felten & Guilleaume Carlswerk AG in Köln-Mülheim zu einem wilden Streik, als dem Betriebsratsvorsitzenden Benno Feckler zugetragen wurde, dass der Chef des Werksschutzes, ein ehemaliger Beamter der Politischen Polizei, eine Kartei über unerwünschtes Verhalten der Arbeiter führte und bei seinen Ermittlungen neben den Diensten mindestens eines Spitzels auch auf die Hilfe seiner ehemaligen Polizei-Kollegen zurückgriff, die im Gegenzug an der Firmentankstelle kostenlos tanken durften.
Das "Betriebsleiterhandbuch" von Ulrich Wiese empfahl 1963 dem deutschen Manager, den Werkschutz mit Waffen auszustatten, und erörterte die Vorteile von Revolvern gegenüber automatischen Waffen. Über Dienstanweisungen wurde einer selbstbewussten Wahrnehmung der Jedermanns-Rechte dahingehend Vorschub geleistet, dass dem betrieblichen "Kontrolldienst" ein Repertoire an Befugnissen zur Leibesvisitation, Festnahme und zum Waffengebrauch zustehe.
Natürlich wünscht sich auch heute kein Arbeitnehmer einen Kollegen, der abends eine Portion Plutonium für den heimischen Bastelkeller mitnimmt, doch adressiert war derlei damals nicht an Leiter besonders gefährdeter Betriebe, sondern an das gesamte deutsche Management.
Der im Idealfall bewaffnete Werkschutz sollte damit anschlussfähig sein an den allgemeinen Zivil- und Verfassungsschutz, dem nicht nur im Verteidigungsfall der Einsatz gegen kommunistische Wühlarbeit oblag (Betriebsrat Feckler entzog sich solcher Verdächtigungen übrigens später, indem er – in für Köln typischer Weise – als SPD-Ratsherr in den Verdacht windiger Immobiliengeschäfte geriet).
Auch die Vorstellung, bei Streiks bewaffnet sein zu müssen, lag vielen Werkschutz-Mitarbeitern als ehemaligen Polizisten und Soldaten gleichsam im Blut. Vor allem in der Frontstadt Berlin (West), wo man die offen paramilitärischen Kräfte der DDR-"Betriebskampfzellen" vor Augen hatte, waren Bedrohungsgefühle auch keineswegs gegenstandsfrei.
Bermudadreieck aus Angst, Jedermanns-Recht und Gruppenverbot
Aus der Grauzone zwischen aktiv geübten Jedermanns-Rechten und dem Verbot, eine paramilitärisch organisierte Mannschaft (§ 127 StGB) zu bilden, befreiten die westdeutschen Gewerkschaften die zu 80 Prozent bei ihnen organisierten Genossen aus dem Werkschutz.
Gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden wurde seit 1975 ihre IHK-zertifizierte Ausbildung organisiert. Inhalt wurden u.a. Grundkenntnisse zu Betriebsgefahren, Gift und Feuer, Grundlagen der Kriminalistik und des Rechts, der Umgang mit Grenzsituationen – etwa die Unterscheidung zwischen Notstandsarbeiten und Streikbrecherei.
Wem wirklich schon vor dem inneren Auge deutsche Arbeitsrechtsprofessoren aufscheinen, die sich vor der Zombie-Apokalypse – sei es in Gestalt polizeifreier Zonen oder in Gestalt haberfeldtreibender Bürgerwehren – in ihren Reihenhäusern verstecken und das Parkett zum Heizen und Grillen verfeuern müssen, wird also Trost zuteil. Ob nun aus Kommunisten- oder Kriminalitätsfurcht zu den Waffen gegriffen wurde: Die deutsche Gesellschaft ist sie doch erfreulich zivil stets auch wieder losgeworden.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Bürgerwehren: "Bewaffnete Haufen" gegen die "Furcht vor der Straße" . In: Legal Tribune Online, 10.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25923/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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