Frankreich beschränkt Legal-Tech-Branche: Baum der Erkenntnis nicht nur im Para­dies ver­boten

von Nico Kuhlmann

14.06.2019

Frankreich verbietet statistische Auswertungen von richterlichen Entscheidungen – bis zu fünf Jahre Gefängnis gibt es für jeden, der gegen das neue Gesetz verstößt. Dies ist eines transparenten Rechtsstaats unwürdig, meint Nico Kuhlmann.

Das Problem an neuen Methoden und Erkenntnisquellen ist, dass diese Tatsachen zu Tage fördern können, die nicht immer allen Beteiligten gefallen. Das Streben nach Wissen und Erkenntnis deshalb aber zu verbieten, ist spätestens nach der Aufklärung in einem demokratischen Rechtsstaat eher fernliegend. Eigentlich.

Frankreich hat nun kürzlich ein Gesetz zur Reform der Justiz erlassen. Dessen Art. 33 hat Sprengkraft und international für Aufsehen gesorgt. Er lautet wörtlich:

"Les données d'identité des magistrats et des membres du greffe ne peuvent faire l'objet d'une réutilisation ayant pour objet ou pour effet d'évaluer, d'analyser, de comparer ou de prédire leurs pratiques professionnelles réelles ou supposées."

Auf Deutsch übersetzt lautet das in etwa:

"Die Identitätsdaten von Richtern und Angehörigen der Justiz dürfen nicht mit dem Ziel oder der Wirkung der Bewertung, Analyse, des Vergleichs oder der Vorhersage ihrer tatsächlichen oder angeblichen Berufspraktiken wiederverwendet werden."

Anschließend folgt ein Verweis auf mehrere Normen des französischen Strafgesetzbuches, die im Ergebnis einen Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Gefängnis festlegen. Fünf. Jahre. Gefängnis.

Der französische Staat droht somit seinen Bürgern mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe, wenn diese öffentlich verfügbare Informationen in einer bestimmten Art und Weise auswerten, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Dies losgelöst davon, ob dies aus kommerziellen oder wissenschaftlichen Gründen geschieht oder einfach nur um zum Spaß herauszufinden, ob man überhaupt etwas findet. 

Angst vor "Predictive Analytics"?

Die nun in Frankreich für richterliche Entscheidungen strafrechtlich verbotene Methode wird seit einiger Zeit unter dem Begriff "Predictive Analytics" diskutiert. Dabei geht es - vereinfacht gesagt - um das Erkennen von Mustern.

Ziel dieser Methode ist es, durch statistische Auswertung wiederkehrende Muster in den Daten zu erkennen. Aufbauend auf diesen Mustern können dann bisher verdeckte Unregelmäßigkeiten oder andere Probleme erkannt werden. Oder das Muster wird auf die Zukunft angewendet, um eine Vorhersage in Form einer Wahrscheinlichkeit zu treffen. Diese Wahrscheinlichkeit beschreibt dann im Ergebnis eine Korrelation zwischen zwei oder mehreren Ereignissen. Dabei bedeutet Korrelation nicht Kausalität. Die Auswertung der Daten zeigt nur, ob – und nicht warum – bestimmte Zusammenhänge bestehen. Somit ist dies eine rein statistische und unter anderem keine juristische Methode. 

In ihrem internationalen Bestseller "Big Data – A Revolution That Will Transform How We Live, Work and Think" zeichnen die beiden Autoren Professor Viktor Mayer-Schönberger (Universität Oxford) und Kenneth Cukier (Data Editor beim Economist) das Bild einer Gesellschaft, in der viele Entscheidungen in fast allen Lebensbereichen auf einer solchen vorhersagenden Analyse von Daten beruhen.

In der juristischen Welt wird diese Methode gern auf Richter angewendet, um zu versuchen, eine Vorhersage der künftigen Entscheidungspraxis treffen zu können. Kommerzielle Anbieter sind bereits in verschiedenen Jurisdiktionen, vor allem in den USA, aber eben auch bereits in Frankreich aktiv. In Deutschland ist ein solcher Dienst bisher noch nicht verfügbar. 

Die Wissenschaft konzentriert sich demgegenüber meist auf die internationalen Gerichte, wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und auf diversen Hackathons versuchen Juristen, Statistiker und sonstige Tüftler, den verfügbaren Daten mit einfachen Mitteln irgendetwas Sinnvolles zu entlocken.

Was Frankreich mit dem Verbot bezwecken wollen könnte

Darüber, warum Frankreich dieses strafrechtliche Verbot erlassen hat, gibt es verschiedene Vermutungen. Auf der einen Seite gibt es in Frankreich seit einiger Zeit Bemühungen, zur Verbesserung der Transparenz die gesamte Rechtsprechung mit so wenigen Schwärzungen wie möglich der gesamten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Um den Richtern, die dieser Entwicklung nicht uneingeschränkt positiv gegenüber stehen, auf der anderen Seite entgegenzukommen, könnte das neue Verbot ein politischer Kompromiss sein, um die vermeintlich widerstreitenden Interessen in Ausgleich zu bringen.

Eine andere Version erzählt der französische Anwalt Michäel Benesty: Dieser hat in seiner Freizeit zusammen mit einem befreundeten Experten für Maschinelles Lernen ein Tool entwickelt, das französische Rechtsprechung auswerten kann. Dabei seien beiden enorme Unausgewogenheiten aufgefallen, wenn es um die Rechte von Ausländern und vor allem Asylbewerbern ging. So hätten an ein und denselben Gerichten einige Richter fast alle Anträge auf Asyl abgelehnt, während ihre Kollegen fast alle Anträge angenommen hätten. 

Eine vernünftige Erklärung für diese Diskrepanzen konnte der Jurist nach eigenen Angaben nicht finden - außer dass die Richter jeweils nicht das Gesetz, sondern womöglich ihre persönliche Weltanschauung zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht haben.

Die beiden haben ihr Experiment nicht für sich behalten, sondern das Tool für jedermann zum Testen und Überprüfen kostenlos ins Internet gestellt. Die Ergebnisse ihrer Auswertung wurden zudem in einem Aufsatz veröffentlicht. Wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Artikels ging in Frankreich der öffentliche Aufschrei los. Insbesondere die französische Justiz war pas amusé. Der Art. 33 des französischen Justizreformgesetzes ist nach Ansicht von Michäel Benesty nun die Antwort auf diese Ereignisse.

Verbot nicht auf maschinelle Auswertung beschränkt

Das Gesetz verbietet ausdrücklich nicht die Veröffentlichung der Namen der Richter. Dies ist nur für die Namen der Parteien vorgesehen. Die Urteile werden also vom Staat bewusst mit den Namen der Richter veröffentlicht, anschließend darf man aber diese Namen nicht verwenden, um die Urteile und die daraus erstellten Auswertungen zuzuordnen.

Demgegenüber zulässig wäre aber wahrscheinlich die Auswertung nach Spruchkörpern. Dies kann für Fälle, in denen regelmäßig alle Mitglieder eines Spruchkörpers gemeinsam entscheiden, noch relevante Erkenntnisse hervorbringen. Wenn die Entscheidungen aber innerhalb eines Spruchkörpers immer auf den Einzelrichter übertragen werden und diese jeweils unterschiedlich entscheiden, werden die Ergebnisse einer statistischen Auswertung des Spruchkörpers bis zur Unbrauchbarkeit verwässert. 

Interessanterweise knüpft das französische Gesetz das Verbot der Auswertung nicht an eine maschinelle Vorgehensweise. Wenn also ein Rechtsanwalt in Frankreich händisch mehrere Urteile zu einem bestimmten Themenkomplex ausdruckt, eigenhändig liest und dann seinem Mandanten eine Bewertung einzelner Richter zukommen lässt, steht dieser ab sofort auch mit einem Bein im Gefängnis.

Gemischtes Echo auf Frankreichs Verbot

Die Reaktionen auf dieses Gesetz reichten sowohl in Frankreich als auch international von Erstaunen über Unglauben bis hin zur völligen Fassungslosigkeit. Artificial Lawyer hat einige dieser Reaktionen zusammengetragen.

In Frankreich bewertete beispielsweise Louis Larret-Chahine, Mitbegründer eines durch dieses Gesetz betroffenen Unternehmens, das Gesetz als eine "Schande für eine Demokratie". Die Rechtsprechung werde im Namen des Volkes gesprochen und der Versuch, dazugehörige Erkenntnisse vor Juristen oder Bürgern zu verbergen, kann seiner Ansicht nach niemals das Richtige sein.

Der kanadische Jurist Fernando Garcia meint, dass ein Rechtssystem offen, transparent und jederzeit überprüfbar sein muss. Wenn das Strafrecht verwendet wird, um sich vor Kritik und Überprüfung zu schützen, werde es gefährlich.

Die US-Richterin Emily Miskel aus Texas meldet sich auf Twitter zu Wort und sieht eher die Vorteile der nun in Frankreich strafrechtlich verbotenen Methode:

In Deutschland hat Dirk Hartung, Executive Director Legal Technology an der Bucerius Law School, mit Studierenden bereits umfangreiche statistische Auswertungen deutscher Gerichtsurteile vorgenommen. Dabei liegt es seiner Meinung nach nahe, mit den Modellen auch zu überprüfen, welchen Einfluss die Beteiligung eines bestimmten Richters habe. Für die noch junge wissenschaftliche Disziplin der Computational Legal Studies sei es von überragender Bedeutung, dass juristische Daten aller Art möglichst gut zugänglich seien und da wirke der französische Ansatz - freundlich ausgedrückt - eher rückwärtsgewandt.

Erstes Gesetz seiner Art

Das französische Verbotsgesetz ist - soweit ersichtlich - das erste seiner Art auf der Welt. Ob das Gesetz überhaupt rechtmäßig ist, muss sich aber erst noch zeigen. Die Prüfungsmaßstäbe dazu bilden unter anderem die französischen Grundrechte sowie die Europäische Menschenrechtskonvention.

Bis zur Abänderung durch den Gesetzgeber oder bis zur Aufhebung durch ein Gericht ist Art. 33 des französischen Justizreformgesetzes nun aber erst einmal in Kraft. Französische Unternehmen und Kanzleien, die entsprechende Auswertungen anbieten, müssen den Umfang ihrer Analysen entsprechend einschränken und internationale Anbieter, die sich auch an französische Kunden wenden, müssen genau prüfen, ob und wie sie von diesem Gesetz betroffen sind.

Natürlich braucht die digitale Transformation des Rechts sinnvolle Regeln. Dazu gehört beispielsweise bei datengetriebenen Ansätzen eine nachprüfbare Ausgewogenheit und Vorurteilsfreiheit der Daten. Zudem sollten Algorithmen und das Zustandekommen der Ergebnisse durch Dritte überprüfbar sein. Ein stumpfes Verbotsgesetz, vorhandene Daten schlicht nicht auswerten zu dürfen, gehört aber sicherlich nicht zu dieser Kategorie von zukunftsorientierten Regeln. Insbesondere ein Verbot, richterliche Entscheidungen zu kontrollieren, ist darüber hinaus eines transparenten Rechtsstaats unwürdig.

Der Autor Nico Kuhlmann (@NicoKuhlmann) ist Rechtsanwalt in einer internationalen Wirtschaftskanzlei in Hamburg und unter anderem Blogger für den Legal-Tech-Blog.de

Zitiervorschlag

Frankreich beschränkt Legal-Tech-Branche: Baum der Erkenntnis nicht nur im Paradies verboten . In: Legal Tribune Online, 14.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35919/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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