Virtuelle Lehre nach der Coronakrise

Geht die Digi­ta­li­sie­rung schon bald wieder weg?

Gastbeitrag von Dr. Martin FriesLesedauer: 5 Minuten

Die Covid-19-Pandemie zwingt die juristischen Fakultäten kurzfristig zu einer Umstellung auf digitale Lehre. Martin Fries denkt bereits an die Zeit nach Corona: Werden sich virtuelle Lehrangebote mittel- und langfristig etablieren?

Im Grunde hatten die Universitäten noch Glück: Das Coronavirus schlug am Beginn der Semesterferien zu. So blieben zumindest noch ein paar Wochen Zeit, um sich auf ein Semester ohne Hörsäle einzustellen. Die dabei gefundenen Lösungen sind pragmatisch und folgen weitgehend einem einheitlichen Schema: Soweit es möglich ist, werden die Lehrveranstaltungen im Sommersemester online angeboten. Was auf die Schnelle nicht virtuell darstellbar ist, wird verschoben oder ganz abgesagt. Die Studenten müssen sich das Wissen durch ein Selbststudium der Kursunterlagen im Zweifel selbst aneignen.

Die Umstellung auf einen virtuellen Universitätsbetrieb ist bei Vorlesungen vergleichsweise einfach und bei interaktiven Tutorien und nichtöffentlichen mündlichen Prüfungen durchaus auch noch machbar. Schwieriger wird es bei den Klausuren: Erste Tests von universitären E-Klausuren liefen nicht ganz glatt. Insofern hoffen viele Fakultäten darauf, dass sich die Lage bis zum Semesterende etwas entspannt hat, sodass sie im gewohnten Modus prüfen können.

Weil das neue Digitalprogramm allerorten mit heißer Nadel gestrickt ist, sind die Universitäten im Moment weitgehend auf das Engagement des Lehrpersonals angewiesen. Man kann schließlich niemanden zwingen, seine Vorlesungen durch den Äther zu schicken. Wer dazu gleichwohl freiwillig bereit ist, muss immerhin nicht bei Null starten. Denn die meisten Universitäten verfügen heute über ein Grundgerüst digitaler Infrastruktur, mit der man Lehrveranstaltungen aufnehmen und online bereitstellen kann.

Reicht also ein Klick, um das Lehrprogramm – auch auf Dauer - zu digitalisieren?

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Kein Kapazitätsproblem: Auch Juristen können online

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Dabei ist die Kapazität gerade kein Nadelöhr. Zwar haben bisher nur wenige Dozenten von der Option virtueller Lehre Gebrauch gemacht, weswegen die E-Learning-Einheiten der Universitäten bisher ein (unverdientes) Schattendasein fristeten.

Allerdings hat neue und anwenderfreundliche Software das Aufsetzen digitaler Lehrveranstaltungen in den vergangenen Jahren deutlich vereinfacht. Man kann heute auf zusätzliche Hardware und kostspielige Lizenzen gut verzichten und allein mit der üblichen Bordsoftware wie PowerPoint, Adobe Connect und iMovie bereits eine sehr ansprechende Online-Lehre gestalten – wenn man nur will.

Eine ungleich größere Hürde ist die Schwellenangst vor dem digitalen Lehrraum – und das ist durchaus nachvollziehbar. Wer seine Vorlesungen frei im Internet verfügbar macht, exponiert sich und seine Worte. Nicht alles, was gelehrt wird, ist zur Perfektion geronnen, und nicht jeder Lehrstil ist gleichermaßen populär. Hinzu kommt: Ein aus dem Stegreif entwickeltes Beispiel oder ein unglücklicher Zungenschlag können in der Online-Lehre womöglich zu Missverständnissen führen, die sich in einer Präsenzvorlesung schnell aufklären würden. Im schlimmsten Fall erwartet die Dozentin im Hörsaal ein Raunen, im Internet aber ein Shitstorm.

Diese im Kern berechtigte Vorsicht gegenüber digitalen Medien ist nicht nur ihrer Permanenz, sondern auch ihrer Reichweite geschuldet. Wer viele Menschen erreicht, erfährt im Zweifel auch mehr Lob und Kritik. Viele Dozenten, die in diesen Tagen ihr Lehrangebot im Interesse der Studenten digital aufbereiten, dürften sich daher im Wintersemester wieder aus der Online-Lehre verabschieden.
Wird in der Post-Corona-Welt dann auch die Nachfrage nach virtueller Lehre wieder nachlassen? Bleiben Online-Vorlesungen eine Eintagsfliege?

Der Awareness-Faktor: einmal online, immer online

Eins ist sicher: Wenn wir die Coronakrise im Sommer überwinden können, werden die Hörsäle im Wintersemester wieder voll sein. Das ist auch gut so, denn auch wenn man daheim mit den digitalen Ressourcen hervorragend lernen kann, gehört der Schwatz mit den Kommilitonen über juristische und nichtjuristische Themen doch zum Leben dazu.

Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass die Studenten die Lehre künftig mit anderen Augen sehen werden. Virtuelle Lehre war bisher etwas für Freaks, ab jetzt ist sie Bestandteil der seriösen Ausbildungsklaviatur. Sie versteht sich dabei in erster Linie nicht als Konkurrenz zur klassischen Präsenzvorlesung, sondern als zusätzliches Ausbildungsmedium. Es ist ja auch früher nicht jeder Student in jede Vorlesung getigert. Viele haben stattdessen ihre Veranstaltungen nach persönlichen Vorlieben bewusst ausgewählt und sich manche Fächer nicht mit einer Vorlesung, sondern lieber mit einer Arbeitsgemeinschaft, einem Lehrbuch oder einem Skript erarbeitet.

Diese bewusste Auswahl von Lehrangeboten nach individueller Präferenz dürfte in absehbarer Zeit deutlich zunehmen, allein weil die Studenten merken, dass mehrere Optionen zur Wahl stehen. Das ist erfreulich, denn es ist eine lernpsychologische Binsenweisheit, dass man besonders effektiv lernt, wenn man der eingesetzten Lehrmethodik positiv gegenübersteht. Selbst wenn die Bedeutung der virtuellen Angebote nach der Coronakrise kurzfristig wieder abnehmen wird, dürfen wir davon ausgehen, dass sich digitale Elemente mittel- und langfristig zum integralen Bestandteil der universitären Lehre mausern.

Doch was bedeutet das für die juristische Lehre der Zukunft?

Juristische Lehre 2030

Der Blick in die Zukunft ist naturgemäß ein Blick in die Glaskugel. Einiges ist dort aber in Schemen erkennbar, weil es sich aus den Lebenswelten der jüngeren Generationen ablesen lässt.

Für diejenigen, die im Jahr 2020 Jura studieren, sind manche Traditionen der Juristenausbildung nachgerade unverständlich, obwohl sie noch vor kurzem kaum jemand je in Frage gestellt hat: Warum soll man in Übungs- und Ernstfallklausuren im Laufe seines Studienlebens tausende Seiten Papier von Hand beschreiben, wenn doch in allen juristischen Berufen fast ausschließlich getippt oder diktiert wird? Warum muss man alle paar Wochen eine papierne Gesetzessammlung nachsortieren, wenn es doch Gesetze-Apps gibt, die sich automatisch aktualisieren? Und natürlich: Warum kann der Palandt, wenn er schon nicht digital ist, nicht endlich Liebmann heißen?

Die Digital Natives, die so denken, sitzen heute im Hörsaal, und morgen werden sie vorne am Pult stehen. Spätestens dann wird die Nutzung digitaler Helferlein endgültig zur Selbstverständlichkeit werden. Das Lehrangebot wird sich ausdifferenzieren: Die klassische Vorlesung wird nicht weichen, aber sie wird sichtbar ergänzt werden durch lectures to go, Lern-Apps und digitale Gesetzessammlungen. Klausuren wird man sowohl an der Uni als auch in der Staatsprüfung elektronisch verfassen. Man wird sie auch elektronisch korrigieren, eventuell sogar automatisch vorkorrigieren.

Das ist keine wilde Zukunftsträumerei, sondern wer genau hinsieht, kann bereits heute beobachten, wie sich solche digitalen Studien- und Prüfungselemente immer mehr in der Juristenausbildung etablieren. Die juristischen Fakultäten werden sich auf diese Modernisierung einstellen. Die unerwarteten Erfahrungen mit virtueller Lehre im nun beginnenden Corona-Semester werden ihnen dabei helfen, diese Entwicklung bewusst und überlegt zu gestalten.

Das ist die große Chance in dieser Krise: Während Innovationen häufig bestehende Systeme von außen überholen und unterminieren, erhält die juristische Lehre im Moment reichlich unverhofft eine Fülle von Impulsen für eine technische und didaktische Auffrischung. Not macht angenehm erfinderisch.

Der Autor Dr. Martin Fries ist gegenwärtig Lehrstuhlvertreter an der Georg-August-Universität Göttingen. Er forscht in den Bereichen Zivil- und Zivilverfahrensrecht, Rechtstheorie und Anwaltsrecht. Seine virtuellen Lehrveranstaltungen zeichnet er auf und macht sie hier frei zugänglich.

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