Die Hausarbeit im Jurastudium

"Reden Sie nicht schein­wis­sen­schaft­lich daher!"

Interview von Dr. Franziska KringLesedauer: 7 Minuten

Häufig haben die Studierenden großen Respekt vor der ersten Hausarbeit. Doch die Hausarbeit sollte man so angehen wie eine Klausur – und sich den Erwartungshorizont des Korrektors ausmalen, erklärt Strafrechtler Matthias Jahn.

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LTO: Vor der ersten Hausarbeit im Jurastudium haben die meisten Studierenden viel Respekt. Wie fange ich damit an?

Prof. Dr. Matthias Jahn: Am besten so, wie mit einer Klausur, nämlich: sie zu lösen. Der Respekt kommt wohl vor allem daher, dass die Situation der ersten Hausarbeit den Studierenden ungewohnt vorkommt, mehr Sachverhalt mehr Zeit und mehr weiße Blätter Papier. Wenn man die Hausarbeit aber so angeht wie eine Klausurlösung, das typische juristische "Handwerkszeug", also die 3G-Regel –Gutachtenstil, Grammatik und Genauigkeit –, mitbringt und sich erst nach einer Lösung mittlerer Reichweite der wissenschaftlichen Vertiefung widmet, dann klappt das erfahrungsgemäß ohne Schreibblockade. 

Man sieht erst nach der klausurmäßigen Lösung, welche wissenschaftlichen Schwerpunkte der Ersteller der Hausarbeit insgesamt vertieft haben möchte. Erst danach kann man dann in die Diskussion von Problemen und Meinungsständen einsteigen.

Wie teile ich mir die Bearbeitungszeit für die Hausarbeit am besten ein?

Bei einer Bearbeitungszeit von typischerweise sechs Wochen hat man 30 Werktage Zeit für die Hausarbeit. Drei bis maximal fünf Tage würde ich hiervon der klausurmäßigen Lösung widmen. Danach kann man erst einmal ein weiteres Achtel bis Sechstel der Zeit Standardliteratur – zum Beispiel die Standard-Kurzlehrbücher und BGHSt-Leitentscheidungen – lesen und in die Fußnoten einbauen, um dort die Grundlagen zu fixieren. 

Dann folgt die eigentliche wissenschaftliche Vertiefung, die Lösung derjenigen Probleme, für die die Standardliteratur nicht ausreicht. Hierfür sollte man dann Aufsätze, auch mal einen ausführlicheren Archivaufsatz, oder nicht überall zitierte obergerichtliche Entscheidungen lesen.

Und man sollte nicht vergessen, dass die Hausarbeit – neben der digitalen Version – am Ende auch noch in ansprechende Form, ausgedruckt und zum Lehrstuhl gebracht werden muss. Damit habe ich selbst unschöne Erfahrungen gesammelt: Bei meiner eigenen Examenshausarbeit, die vor dreißig Jahren in vielen Ländern noch üblich war, ist der "Klassiker" passiert: Die Tintenpatrone des Druckers war leer, als ich die Hausarbeit drucken wollte, deshalb musste ich am nächsten Morgen erst einmal für Tintennachschub sorgen und konnte die gesamten 150 Seiten gerade noch rechtzeitig gebunden beim Justizprüfungsamt abliefern. Klarer Anfängerfehler.

"Man braucht Resilienz gegenüber versteinerten Meinungsstreitigkeiten"

Sie sind ja Strafrechtler. Welche Besonderheiten gibt es bei der Hausarbeit im Strafrecht?

Über das Strafrecht gibt es so ein Praktiker-Bonmot: "300 Paragrafen, 600 Professoren, 900 Meinungen". Das ist nicht gänzlich falsch. Bei der wissenschaftlichen Vertiefung der 300 Paragrafen sind meine Kolleginnen und Kollegen innovationsfreudig. Deshalb braucht man für die strafrechtliche Hausarbeit ein gesundes Maß an Resilienz gegenüber versteinerten Meinungsstreitigkeiten: Extrem subjektive Täterschaftsbegriffe wie im Badewannen-Fall und im Staschynskij-Fall, rein objektive Versuchslehren, rein juristische Vermögenstheorien bei Betrug und Untreue – solche Orchideen muss man meiner Meinung nach heutzutage in einer seitenbeschränkten Hausarbeit nicht mehr einflechten.

Wie sollte ich die Meinungsstreitigkeiten in der Hausarbeit am besten darstellen?

Man muss die Streitigkeit an der – und auch nur an der – Stelle aufgreifen, wo sie für das Ergebnis relevant wird. Ein Klassiker ist etwa die Frage, ob Fotokopien Urkunden im Sinne des Strafgesetzbuches sind. Schlechtere Hausarbeiten lesen sich dazu wie ein Oberstufenaufsatz oder ein Lehrbuchexzerpt und erklären abstrakt, ob Fotokopien "dem Urkundsbegriff unterfallen". Das Problem muss aber an den einzelnen Merkmalen des Gesetzesbegriffs aufgehängt werden: Haben Fotokopien eine Garantiefunktion, die Perpetuierungsfunktion und die Beweisfunktion wie klassische Urkunden? Im Strafrecht sieht man leider die Bäume vor lauter Wald nicht. 

Was macht für Sie eine gute Hausarbeit aus?

Eine gute Hausarbeit ist für mich immer "Handwerk plus X", das heißt zunächst, eine dogmatisch korrekte, handwerklich und sprachlich solide Lösung als Grundlage. Dann muss für einen Prädikatsverdacht noch etwas dazu kommen, als Beispiele besonders gelungene, fein dargestellte Argumente oder eine außerordentliche sprachliche Variationsbreite als typische Bausteine. 

Bei der Korrektur schlage ich gewohnheitsmäßig zunächst das Literaturverzeichnis auf und schaue nach "klassischen Fehlern", an denen ich ablesen kann, ob jemand akribisch arbeitet: Ein Bayreuther Lehrbuchverfasser heißt seit mehr als acht Jahrzehnten Harro Otto und nicht Otto Harro. Aus solchen minimalen Mängeln entsteht in der Summe ein Anfangsverdacht, dass das zitierte Buch nicht wirklich in der Hand gehalten, sondern nur in letzter Sekunde unbesehen in das Literaturverzeichnis aufgenommen wurde.

"Grammatik und Rechtschreibung müssen sitzen"

Und wie landet man tatsächlich im Prädikatsbereich?

Ich nenne einmal zwei Aspekte: Zum einen, dass ich als Leser das Gefühl vermittelt bekomme, dass die Verfasserin oder der Verfasser für das Thema "Feuer gefangen" hat. Ein wichtiger Indikator ist der Umgang mit wissenschaftlicher Literatur. Wenn zum Beispiel in der strafrechtlichen Hausarbeit nur die beiden Standardlehrbücher Wessels und Rengier abwechselnd zitiert werden und dann vielleicht noch zwei, drei Überblicksaufsätze zusätzlich, bekomme ich dieses Gefühl nicht vermittelt. 

Wichtig ist auch das erkennbare Bemühen, einen eigenen Akzent zu setzen. Natürlich dient eine Hausarbeit nicht dazu, die wissenschaftliche Diskussion voranzutreiben. Das ist erst der Schwellenwert für die Doktorarbeit. Aber auch in einer Studienleistung kann man vertieft in die schon vorhandene Diskussion einsteigen, beispielsweise mit komplexeren Argumenten aus Doktorarbeiten, Aufsätzen aus Praktiker-Zeitschriften oder aktuellen untergerichtlichen, vielleicht noch gar nicht rechtskräftigen Entscheidungen. Deren gutachtenmäßige Diskussion kann dann bei mir als Leser die Erkenntnis reifen lassen, dass die herrschende Meinung zwar verwünscht gescheit ist, aber in der praktischen Anwendung auf den Sachverhalt zu herzlich dummen Ergebnissen führt. Wenn jemand damit kreativ umgeht, ist das für mich ein zweites Indiz dafür, dass sie oder er mehr abliefern möchte als den ewigen "Mainstream" der Argumente. 

Am wichtigsten ist es aber zunächst, die Hausarbeit überhaupt zu bestehen. Wie muss eine Hausarbeit sein, um mindestens vier Punkte zu erreichen?

Ich finde es wichtig, sich den Erwartungshorizont desjenigen vorzustellen, der die Hausarbeit korrigieren wird. Sie oder er korrigiert ja nicht nur die eine, sondern 20, 40 oder sogar 60 Konvolute. Die sind alle 20 Seiten lang und ich muss den Leser irgendwie davon überzeugen, dass meine Hausarbeit, die sich von außen durch rein gar nichts von den anderen unterscheidet, hinterher auf dem Stapel mit den Bestandenen landet. Also muss ich versuchen, den Korrektor für mich zu vereinnahmen. Das mache ich nicht unbedingt mit den typischen Gutachten-Formulierungen in endloser Reihung wie "Nun wollen wir untersuchen". Der Korrektor will gar nichts untersuchen. Er will nur möglichst schnell und elegant nach einer verlässlichen Orientierung über den Meinungsstand zu einer vertretbaren Lösung hingeleitet werden. Durch Stilistik kann man den Leser entweder eher mitnehmen – oder auch eher abschrecken.  

Außerdem müssen Grammatik und Rechtschreibung über Zweifel erhaben sein. Wenn der Korrektor mehr damit beschäftigt ist, im Kopf die fehlenden Kommata zu ergänzen, halte ich ihn nur davon ab, sich inhaltlich mit meiner Lösung auseinanderzusetzen. Auch im Berufsleben kann man sich in Schriftsätzen solche Fehler nicht erlauben, denn solche Mängel gehen mit dem Mandanten nach Hause.

"Sich an guten Vorbildern orientieren"

Nicht alle Studierenden schaffen eine Hausarbeit im ersten Anlauf. Welche Tipps haben Sie, damit es beim nächsten Versuch besser klappt?

Man sollte sich nicht entmutigen lassen, wenn die Bewertung der Hausarbeit auf "nicht bestanden" lautet oder die Notenstufe nicht auf Anhieb den eigenen Erwartungen entspricht. Leider kannte die Uni zu meiner Studienzeit noch überhaupt keine Fehlerkultur. Diejenigen, die durchfielen, waren für die Uni nach der Besprechungssitzung nicht mehr interessant. Ich fand es nie fair, dass man nur mit denjenigen, die direkt im ersten Anlauf ein Prädikat erzielt hatten, weiterarbeiten wollte. 

Natürlich sollte man – egal, ob man bestanden hat oder nicht – zur Besprechung der Hausarbeit gehen und Fragen stellen, wenn die Lösungsskizze diese offen lässt. Und viele Unis, gerade auch die größeren, bieten heute Klausuren- und Hausarbeitskliniken an. Die Studierenden können sich mit ihren Fragen an wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wenden, die dann individuell ermitteln, weshalb man nicht bestanden hat und Lerntipps für den Zweitversuch geben können. Früher waren solche Angebote die Ausnahme, heute sind sie best practise. 

Und ich finde wichtig, sich an guten Vorbildern zu orientieren. In den Ausbildungszeitschriften gibt es vielfach Musterhausarbeiten mit Lösungen, zum Beispiel aus meiner eigenen Strafrechtsübung von meiner damaligen Mitarbeiterin Charlotte Schmitt-​Leonardy in JA 2018, Seite 187.

Welche Fehler macht man am Anfang typischerweise? Und wie lassen die sich vermeiden?

Das sind aus meiner Sicht drei Dinge. Erstens besteht bei Hausarbeiten die Gefahr, dass man viel zu viele Aufsätze und Kommentierungen liest und Tage, manchmal auch Wochen, in der Bibliothek verbringt und gar nicht genau weiß, wohin die Reise mit diesem ganzen Gepäck eigentlich gehen soll. Außerdem sollte man nicht zu viel scheinwissenschaftlich daherreden – die Gefahr ist groß, wenn man die Aufsätze liest, die sich in Bandwurmsätzen verlieren und Fremdwörter für eine Exzellenzinitiative halten. Die Korrektoren lassen sich davon hoffentlich nicht blenden. Der dritte Hauptfehler ist, dass andere Meinungen als "unhaltbar", "gänzlich verfehlt" oder in ähnlicher Weise diffamiert werden, während man die eigenen Begriffe als "ohne Zweifel richtig", "offensichtlich und eindeutig zutreffend" charakterisiert. Das sind gewichtige Indikatoren dafür, dass die inhaltliche Argumentation fragil ist.

Was hätten Sie gerne schon früher über das Wissenschaftliche Schreiben gewusst?

Ich hätte gerne früher gewusst, dass es für diese handwerkliche Seite des Prüfungsbetriebs Tipps von Profis gibt. In meiner Zeit – ich habe in den späten 1980er Jahren mit dem Studium angefangen – war das Schreiben in der Rechtswissenschaft noch kein Thema. Mittlerweile existiert eine opulente Literatur dazu, wie man eine erfolgreiche Hausarbeit schreibt. Ich möchte dazu raten, die Methodiken der Werkverfasser im Selbstversuch an einem eigenen Dollpunkt anzuprüfen und das Werk, das am besten zu den eigenen Voraussetzungen und Erwartungshaltungen passt, konzentriert durchzuarbeiten. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Matthias Jahn ist Inhaber des Lehrstuhls für Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und dort im Nebenamt Richter am Oberlandesgericht. Im Rahmen einer aktuellen Kampagne des Schreibzentrums der Goethe-Universität für unterschiedliche Fachbereiche hat er das Jura-Interview zum Wissenschaftlichen Schreiben gegeben. 

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