BVerfG beanstandete den ausnahmslosen Klinikvorbehalt bei Zwangsbehandlungen. OLG München legte die Bedeutung eines grimassierenden Emoji aus. Können Meinungs- und Religionsfreiheit vor einer Verurteilung wegen Volksverhetzung schützen?
Thema des Tages
BVerfG zu Zwangsbehandlung von Betreuten: Der ausnahmslose Krankenhausvorbehalt bei medizinischen Zwangsbehandlungen gem. § 1832 Abs. 1 Nr. 7 BGB ist verfassungswidrig. Dies entschied auf Vorlage des Bundesgerichtshofs das Bundesverfassungsgericht und räumte dem Gesetzgeber gleichzeitig eine Frist bis Ende 2026 für eine Neuregelung ein. Bis dahin gilt weiter, dass medizinisch erforderliche Zwangsmaßnahmen bei Betreuten in jedem Fall in einem Krankenhaus durchgeführt werden müssen. So wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass psychisch Kranke und Demente nicht routinemäßig in ihren Einrichtungen mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Die Regelung ist laut BVerfG aber unverhältnismäßig, weil sie auch dann keine Ausnahme vorsieht, wenn der zwangsweise Transport in die Klinik und das Herausreißen aus dem eigenen Wohnumfeld zu einer erheblichen Gesundheitsgefährdung führen kann, während diese in der Wohn-Einrichtung vermieden werden könnte und diese auch nahezu Krankenhausstandard erreicht. Im konkreten Fall musste eine Frau regelmäßig von der Polizei in fixiertem Zustand in die Klinik gebracht werden, was sie nach Ansicht ihres Betreuers retraumatisierte. Der Richter Heinrich Amadeus Wolff gab ein Sondervotum ab, in dem er kritisierte, dass das BVerfG dem Bundestag in einer so komplexen Frage Vorgaben macht. Insgesamt stimmten drei Senatsmitglieder gegen die Mehrheit. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Finn Hohenschwert), taz (Christian Rath), Tsp (Jost Müller-Neuhof), LTO (Joschka Buchholz), Amtsrichter Andreas Brilla auf beck-aktuell, zdf.de (Christoph Schneider) und tagesschau.de (Max Bauer).
Laut Wolfgang Janisch (SZ) ist es "gut", dass das BVerfG die Lebenswirklichkeit psychisch kranker Menschen nun "neu ausgeleuchtet hat." Dabei sei klar, dass der bisher geltende Krankenhausvorbehalt für Zwangsbehandlungen "in den meisten Fällen die richtige Wahl" sei, "aber eben nicht in allen." Dies wiederum entspreche der Aufgabe des Gerichts, Grundrechte zu interpretieren und zu schützen. Christian Rath (MZ) hält die Lockerung des Klinikvorbehalts für vertretbar, weil Betreuer und Betreuungsgericht weiterhin kontrollieren können, ob die Rechte der Betreuten gewahrt sind.
Rechtspolitik
Jumiko – Cannabis: Auf der am morgigen Donnerstag beginnenden Justizministerkonferenz wollen Berlin und Baden-Württemberg eine Beschlussvorlage über die Erfahrungen mit der im Frühjahr in Kraft getretenen Teil-Legalisierung von Cannabis diskutieren. In der Ermittlungsarbeit gegen Großhändler und "mafiöse Strukturen" hätten sich schwere Nachteile ergeben, gibt die Welt die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) wieder. Als "Irrweg" müsse das Gesetz aufgehoben werden.
Jumiko – Politiker-Beleidigung: Über den von der niedersächsischen Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) unterbreiteten Vorschlag, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 188 Strafgesetzbuch (Beleidigung von Personen des politischen Lebens) abzusenken, berichtet nun auch die Welt (Ricarda Breyton). Es soll nicht mehr darauf ankommen, dass eine Beleidigung die Amtsführung erheblich erschwert. Dies sei zum Schutz gerade von "ehrenamtlich tätigen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern" unerlässlich, so Wahlmann.
beA und Finanzamt: Der Deutsche Anwaltverein hat sich dafür ausgesprochen, die in der vergangenen Woche vom Bundesrat gebilligte Regelung zum Verbot anwaltlicher Kommunikation mit Finanzämtern per beA alsbald gesetzgeberisch zu bereinigen. Dies berichtet LTO.
Gewalt gegen Frauen: Das Bundeskabinett wird am heutigen Mittwoch den Gesetzentwurf des im Familienministerium erarbeiteten Gewalthilfegesetzes beschließen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag appelliert Ministerin Lisa Paus (Grüne) nun an das Gewissen der Abgeordneten außerhalb der Regierungsparteien, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, so SZ (Ann-Marlen Holt) und taz (Patricia Hecht u.a.).
Gewerbsmäßigkeit: Rechtsanwalt Noah Kistner beschreibt auf dem Verfassungsblog, wie das strafrechtliche Tatbestandsmerkmal der Gewerbsmäßigkeit gegenüber ärmeren Menschen regelmäßig zu Strafverschärfungen führt. Historisch sei dies auf die Bekämpfung sogenannter Berufsverbrecher zurückzuführen, in der Gegenwart jedoch ein Verstoß gegen die in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz statuierte Gleichheit vor dem Gesetz. Sinnvoll sei daher etwa eine Bezifferung von Wertgrenzen, wie sie das österreichische Recht kennt, um "Straftaten aus dem Bagatellbereich von der Gewerbsmäßigkeit auszunehmen."
Urheberrecht und KI: Auf der diesjährigen Urheberrechtskonferenz diskutierten auf Einladung der Initiative Urheberrecht Teilnehmende aus Berufsverbänden der Kultur- und Medienbranche über den Umgang mit generativer KI. Spätestens im kommenden Koalitionsvertrag sollten feste Vereinbarungen über die Regulierung der Datennutzung journalistischer Texte getroffen werden, schreibt die FAZ (Marcus Jung) über eine Stellungnahme des Bundesjustizministeriums. "Manchen Urhebern" dauere dies zu lange, wie sich auf der Konferenz gezeigt habe.
Justiz
OLG München zu Grimassen-Emoji: Das Grimassen schneidende Emoji in einem WhatsApp-Chat bedeutet keineswegs Zustimmung, vielmehr "Unbehagen, Nervosität oder Ähnliches", so das Oberlandesgericht München in einem nun veröffentlichten Urteil von vor zwei Wochen. Mit dem Emoji hatte der Verwender also nicht einer Lieferfristverlängerung für den gekauften Ferrari zugestimmt und konnte daher wirksam vom Kaufvertrag zurücktreten und eine nicht unbeträchtliche Anzahlung rückerstattet bekommen. beck-aktuell berichtet.
AG Weiden – Volksverhetzung in der Moschee: Die SZ (Ronen Steinke) hat Einsicht in eine Anklage der Generalstaatsanwaltschaft München nehmen können, in der einem islamischen Geistlichen Volksverhetzung vorgeworfen wird, weil er sich in arabischer Sprache einen Sieg über "die usurpierenden Juden" bzw. deren Tod in Nahost wünschte. Die beanstandeten Äußerungen fielen im Rahmen eines Freitagsgebets unmittelbar nach dem Hamas-Überfall auf Israel und dem Beginn des Gaza-Kriegs. Das Amtsgericht Weiden werde nun darüber zu befinden haben, ob sich der Geistliche auf die Religionsfreiheit bzw. auf die Meinungsfreiheit berufen kann.
BGH zu WEG-Gemeinschaftsgarten: Die durch eine Wohnungseigentümergemeinschaft beschlossene Gestaltung eines Ziergartens mit einem Gedenkstein für einen verstorbenen Ex-Bewohner ist von einer Eigentümerin auch dann hinzunehmen, wenn bei ihr der Eindruck eines Friedhofs entstehe. Dies entschied der Bundesgerichtshof mit nun veröffentlichtem Urteil vor zwei Wochen. Sie werde durch den Mehrheitsbeschluss nicht unbillig benachteiligt. LTO berichtet.
BGH zu WEG-Klage: Eine Beschlussanfechtung gegen Vereinbarungen einer Wohnungseigentümergemeinschaft ist auch dann verfristet, wenn die Klage infolge eines Gerichtsfehlers mehrere Jahre zu spät zugestellt wurde. Dies entschied laut beck-aktuell der Bundesgerichtshof vor einem Monat. Der unterlegene Eigentümer hatte Ende 2016 den Gerichtskostenvorschuss für seine Klage eingezahlt, sich dann aber erst vier Jahre später nach dem Fortgang der offenbar liegengebliebenen Sache erkundigt.
BGH zu Wiedereinsetzung/Zahnschmerzen: Über die vor einem Monat verkündete Entscheidung des Bundesgerichtshofs, einem anwaltlichen Wiedereinsetzungsantrag nicht zu entsprechen, berichtet nun auch LTO. Ein Anwalt, der einen Gerichtstermin wegen Zahnschmerzen versäumt hatte, hätte trotz der Schmerzen und der eingenommenen Schmerzmittel das Gericht verständigen können.
BAG zu Mitbestimmung über Betriebsratsentgelt: Die Erhöhung des Arbeitsentgelts eines von der beruflichen Tätigkeit freigestellten Betriebsratsmitglieds unterliegt nicht der betriebsrätlichen Mitbestimmung. Dies entschied nach Bericht von LTO das Bundesarbeitsgericht auf Rechtsbeschwerde der in den Vorinstanzen unterlegenen Arbeitgeberin. Löhne und Gehälter freigestellter Betriebsratsmitglieder seien gesetzlich geregelt und unterfielen nicht der mitbestimmungsbetroffenen Ein- und Umgruppierung von Mitarbeitenden.
LG Bonn zu Cum-Ex/Olearius: Das Landgericht Bonn hat den Einstellungsbeschluss im Strafverfahren gegen den Bankier Christian Olearius veröffentlicht. Nach "vorläufiger Bewertung" habe die bis Ende Juni diesen Jahres durchgeführte Beweisaufnahme den "in der Anklageschrift beschriebenen Geschehensablauf der Steuerhinterziehungstaten" aus Cum-Ex-Manipulationen bestätigt, zitiert das Hbl (Volker Votsmeier). Die Einstellung des Verfahrens sei nur aus gesundheitlichen Gründen erfolgt, inhaltlich entlastet sei Olearius damit nicht.
VG Wiesbaden – rechtsextremer Polizisten-Chat: Am Verwaltungsgericht Wiesbaden versucht das Frankfurter Polizeipräsidium per Disziplinarklage vier Teilnehmende des rechtsextremen Chats "Itiotentreff" aus deren Beamtenverhältnis zu entfernen. zeit.de berichtet.
Cum-Ex-Aufarbeitung: Nach der nun rechtskräftigen Verurteilung Hanno Bergers fragt Rechtsprofessor Hanno Merkt auf beck-aktuell nach der Zukunft der strafrechtlichen Aufarbeitung des wohl "größten Falls von Finanzkriminalität in der Geschichte der Bundesrepublik", den Steuertricksereien mittels Cum-Ex- und Cum-Cum-Manipulationen. Es sei bezeichnend, dass sich mit Anne Brorhilker und Stephan Bredt, vormaliger Leiter der Abteilung Börsenaufsicht im Hessischen Wirtschaftsministerium "auf der Seite der Ermittler zwei Hauptakteure aus dem Komplex verabschiedet haben." Trotz auch aktuell immer neuer Varianten der Deals scheine das öffentliche Interesse an der Verfolgung zu erlahmen.
Recht in der Welt
IStGH – Krieg in Gaza/Haftbefehle: In einem Interview mit der taz (Julia Neumann) nimmt der Palästinenser Raji Sourani als "bekanntester Menschenrechtsanwalt in Gaza" Stellung zu den jüngst erlassenen Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Yoav Galant, kritisiert die deutsche und die westliche Position im Nahostkonflikt und beschreibt seine aktuelle Tätigkeit.
Für Reinhard Müller (FAZ) bietet die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs Anlass "zu einem abermaligen Nachdenken über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Bindungen aller Art." Deutschland treffe zumindest die völkerrechtliche Verpflichtung, Israel an die Notwendigkeit ernsthafter eigener Ermittlungen auch gegen Regierungsmitglieder anzuhalten.
EuGH/Ungarn – Darstellung von Homo- und Transsexualität: In Ungarn ist seit 2021 u.a. die Darstellung von Homo- und Transsexualität gegenüber Minderjährigen eingeschränkt. Das daraufhin von der EU-Kommission Ende 2022 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren macht neben Verstößen gegen mehrere Sekundärrechtsakte im zweiten Klagegrund auch einen Verstoß gegen Art. 2 EU-Vertrag geltend, der die Werte der Union schützt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Benedikt Riedl untersucht auf Verfassungsblog die umstrittene Reichweite der Justiziabilität von Art. 2 EUV. Vor überzogenen Erwartungen rät er ab: die Bestimmung “ist keine Metaverfassung, aus der Norm folgt kein allgemeiner Maßstab, an dem sich die mitgliedstaatlichen Verfassungen messen lassen müssen.”
Frankreich – Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot: Im Verfahren über die Vergewaltigungen der jeweils von ihrem Ehemann betäubten Gisèle Pelicot hat die Staatsanwaltschaft für die weiteren Angeklagten Strafen zwischen vier und 17 Jahren Haft gefordert. Jedem der Mitangeklagten sei bewusst gewesen, dass hier kein Einverständnis der Frau vorlag. FAZ (Michaela Wiegel) und SZ (Oliver Meiler) berichten.
Großbritannien – Strafvollzug: Kürzlich sind in Großbritannien rund 3.000 verurteilte Straftäter vorzeitig entlassen worden. Ohne die Maßnahme hätte es keine neuen Strafurteile geben können, so der SWR-RadioReportRecht (Max Bauer) in einer Reportage, in der Gründe für die Justizkrise des Landes gesucht werden.
USA – Menendez-Brüder: Den nicht zuletzt infolge eines Netflix-True-Crime-Formats international wieder zu Aufsehen gelangten Fall der in den USA zu lebenslanger Haft verurteilten Brüder Lyle und Erik Menendez (die vor rund 30 Jahren ihre Eltern töteten) rekapitulieren Anwältin Simone Kämpfer und die Anwälte Eric B. Bruce und Philip N. Kroner auf LTO. Der Beitrag erläutert die Voraussetzungen des nun zur Verhandlung stehenden "resentencing", bei dem auf Antrag der Staatsanwaltschaft über eine Änderung des Strafausspruchs entschieden wird und erläutert Unterschiede zum deutschen Recht. Ein neuer Anhörungstermin in der Sache ist für den 30. Januar terminiert, berichtet derweil bild.de (Natascha Wittmann). In dramatischen Appellen hätten Tanten der Verurteilten sich für die Freilassung der Brüder ausgesprochen.
USA – Trump/Dokumente und Wahlmanipulation: Über die Entscheidung des US-amerikanischen Sonderermittlers Jack Smith, die Strafverfahren gegen den zukünftigen Präsidenten Donald Trump nicht weiterverfolgen zu wollen, berichten nun auch FAZ (Sofia Dreisbach) und LTO.
Fabian Fellmann (SZ) bedauert, dass nunmehr ungeklärt bleibe, inwiefern Trumps Narrativ vom Wahlbetrug zum Sturm auf das Kapitol beigetragen habe. Der wiedergewählte Präsident könne nunmehr "entfesselt schalten und walten."
Sonstiges
Jurist im Gemeinnützigkeitsrecht: Der Jurist Franz-Martin Schäfer leitet die juristische Beratung bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Im Interview mit LTO-Karriere (Franziska Kring) erklärt er sein Aufgabenfeld und die Arbeit der Stiftung, spricht über die Besonderheiten des Gemeinnützigkeitsrechts und gibt Empfehlungen für ehrenamtliches Engagement.
Das Letzte zum Schluss
Rute: Noch ist ein wenig Zeit für die alljährlichen Auseinandersetzungen unterm Weihnachtsbaum, die schon eröffneten Weihnachtsmärkte geben der Polizei aber bereits jetzt Anlass zum Eingreifen. So zeigte sich ein 62-jähriger verkleideter Nikolaus in Stralsund wenig angetan von der ausgestreckten Zunge eines Vierjährigen und brachte tatsächlich seine Rute zum Einsatz, wie welt.de berichtet. Der Mann gab an, dass seine Rute mitnichten im Gesicht des Kindes gelandet sei, vielmehr in Richtung Po "so draufgeklatscht" wurde. Die ermittelnde Polizei prüft eine gefährliche Körperverletzung.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Mediums.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
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Die juristische Presseschau vom 27. November 2024: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55966 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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