Die juristische Presseschau vom 25. September 2019: Par­lam­ents­pause rechts­widrig / Kein welt­weites Ver­ges­sen­werden / Anklage gegen VW-Bosse

25.09.2019

Das Oberste Gericht hebt die Zwangspausen-Anordnung von Boris Johnson auf. Außerdem in der heutigen Presseschau: der EuGH präzisiert das Recht auf Vergessenwerden und die Braunschweiger StA klagt VW-Top-Manager wegen Marktmanipulationen an.

Thema des Tages

Großbritannien – Parlamentspause: Die von Ministerpräsident Boris Johnson angeordnete fünfwöchige Parlamentspause verstieß gegen die Verfassung des Vereinigten Königreichs. Dies entschied das Oberste Gericht Großbritanniens in einer Entscheidung, die nach übereinstimmender Einschätzung von Beobachtern überraschend eindeutig erging. Einstimmig befand das Gericht, dass Johnsons Anordnung justiziabel und wegen Rechtswidrigkeit "null and void", d.h. nichtig ist. In einem kritischen Moment des Landes habe dessen gewählte Volksvertretung ein zu berücksichtigendes Mitspracherecht. Die aufgehobene Anordnung dagegen gleiche einem "weißen Blatt Papier", so etwa lto.de (Maximilian Amos) über das Urteil. Weitere Berichte zur Entscheidung und die möglichen politischen Implikationen bringen etwa FAZ (Jochen Buchsteiner), Hbl (Kerstin Leitel/Carsten Volkery), taz (Dominic Johnson), spiegel.de (Jörg Schindler) und Welt (Stefanie Bolzen).

In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch legt Rechtsprofessor Lorenz Kähler dar, dass es für die EU an der Zeit sei, Großbritannien bei den anstehenden Austrittsverhandlungen entgegen zu kommen. Nach den Grundsätzen der Vertragstheorie sei es nicht vertretbar, eine noch immer mögliche Lösung an der Frage des sogenannten irischen Backstop scheitern zu lassen. Die unionsrechtlichen Probleme eines solchen Backstops sind Thema eines englischsprachigen Beitrags von Doktorand Oliver Garner auf verfassungsblog.de.

Während für Bettina Schulz (zeit.de) die einzige Konsequenz des Urteils der Rücktritt des Premierministers sein kann, gibt Stefan Kornelius (SZ) im Leitartikel zu bedenken, dass Boris Johnson nun nichts mehr zu verlieren hätte. Sein Verhalten habe "die Kosten für den Brexit so weit in die Höhe getrieben, dass ein unscharfer Kompromiss jetzt erträglicher erscheint als noch vor sechs Monaten". Gegen eine ideenlose Opposition könne Johnson immer noch die Rolle des Brexit-Lieferanten spielen und damit auch die nächste Wahl gewinnen. "Über die Verfassung, die Queen und das Recht möge dann ein anderer brüten". Für Dominic Johnson (taz) kann die Entscheidung "das Fundament für eine neue Verfassungsordnung" legen. Hierfür müssten sich unabhängig vom Brexit zahlreiche Institutionen "selbst neu ordnen", das Gericht habe hier den Beginn gemacht.

Rechtspolitik

NetzDG: Aus Anlass des jüngsten, stark kritisierten Urteils des Landgerichts Berlin in Sachen Renate Künast (Grüne) fordern die Rechtsanwälte Louisa Specht-Riemenschneider und Severin Riemenschneider in einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ eine Überarbeitung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Statt des bisherigen mühseligen Verfahrens sollte dort ein unmittelbarer Auskunftsanspruch gegenüber Plattformbetreibern verankert werden. Die SZ (Verena Mayer) interviewt die Journalistin Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin des Vereins Hate Aid, der das Verfahren Künasts angestoßen hat. Die Aktivistin spricht über die Strategie ihres Vereins, die mutmaßlichen Gründe dafür, dass nur ein geringer Teil von online erfolgten Beleidigungen und Bedrohungen zur Anzeige gebracht werden und den Nutzen des NetzDG.

Justiz

EuGH zu Recht auf Vergessenwerden: In zwei Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof das von ihm 2014 postulierte, sogenannte Recht auf Vergessenwerden konkretisiert. Zu zwei in Frankreich beheimateten Fällen entschied der EuGH, dass beantragte Löschungen von Suchergebnissen nur EU-weit beantragt werden können. Gleichwohl müsse Google sicherstellen, dass europäische Nutzer nicht auf außereuropäische Versionen der Suchmaschine zugreifen könnten. Im zweiten Urteil präzisierte der EuGH die von Google vorzunehmende Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten einer- und Informationsrechten andererseits. Es berichten lto.de (Markus Sehl), SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), tagesschau.de (Christoph Kehlbach), netzpolitik.org (Alexander Fanta) und swr.de (Gigi Deppe).

Es sei dringend geboten, kommentiert Reinhard Müller (FAZ), dass die europäische Rechtsgemeinschaft auch einem "weltweiten Netz" und "einer davon lebenden Suchmaschine" ihre Standards entgegenhalte.

EuG zu Steuervorteilen: Das Gericht der Europäischen Union kam in mehreren Verfahren um beanstandete Steuervorteilen großer Unternehmen zu unterschiedlichen Entscheidungen. Während die Kaffeehaus-Kette Starbucks zu Recht in den Genuss steuerlicher Vorteile in den Niederlanden kam, wurde eine entsprechende Entscheidung der EU-Kommission zu Vorteilen des Autobauers Fiat in Luxemburg bestätigt. Die Kommission habe dem EuG "letztlich nicht verlässlich nachgewiesen", dass Starbucks illegale Vorteile erzielt habe, schreibt lto.de über die Urteile und legt die bislang erfolglosen Bemühungen dar, europaweit einheitliche Steuerstandards festzulegen. Hierzu berichtet auch die SZ (Björn Finke) vertieft.

Der Kommentar von Bastian Brinkmann (SZ) macht darauf aufmerksam, dass eine letztinstanzliche Entscheidung in beiden Angelegenheiten wohl noch Jahre entfernt sei. Auch eine politische Einigung sei nicht bis morgen zu erwarten. Eine vorläufige Lösung müsse sich daher auf mehr Transparenz in der Gestalt einer länderspezifischen Berichterstattung und entsprechender Warnhinweise verständigen.

BVerfG zu Hammelsprung: Das Bundesverfassungsgericht hat eine von der AfD-Bundestagsfraktion beantragte einstweilige Anordnung zurückgewiesen. Ausgangspunkt der Auseinandersetzung sei der Streit über eine von der AfD bestrittene, vom Präsidium des Parlaments aber angenommene und durch den sogenannten Hammelsprung herzustellende Beschlussfähigkeit gewesen, erläutert lto.de. Der Fraktion drohe infolge einer vom Gericht angestellten Folgenabwägung kein schwerer Nachteil durch die Entscheidung, auch wenn ein späteres Organstreitverfahren Erfolg haben sollte.

BVerfG zu Fixierungen: Vor einem guten Jahr hat das Bundesverfassungsgericht Zwangsfixierungen in psychiatrischen Einrichtungen für grundsätzlich zulässig erklärt, gleichzeitig aber wegen der freiheitsentziehenden Wirkung der Maßnahme eine gesetzliche Grundlage eingefordert. Die in der Entscheidung behandelten Fixierungen in Bayern und Baden-Württemberg entsprachen diesen Anforderungen nicht. Der SWR RadioReportRecht (Bernd Wolf) ergründet im Gespräch mit dem Fachjournalisten Timo Stukenberg, welche praktischen Veränderungen die Entscheidung bewirkt hat.

BAG zu Urlaubsanspruch: Während der passiven Freistellungsphase einer Altersteilzeit entstehen keine Urlaubsansprüche. Dies stellte das Bundesarbeitsgericht klar und wies wie schon die vorherigen Instanzen eine auf Zahlung von Abgeltungsansprüchen gerichtete Klage ab. Für lto.de stellen Michael Fuhlrott und Florian Garden, Rechtsprofessor und Rechtsanwalt, die Entscheidung und ihre Begründung vor und setzen sie in einen Kontext mit anderen Entscheidungen zu Urlaubsansprüchen.

OLG Düsseldorf - AfD-Mitarbeiter: In einem Hinweisbeschluss hat das Oberlandesgericht Düsseldorf angekündigt, eine Klage eines ehemaligen Mitarbeiters des AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland abweisen zu wollen. Der Kläger hatte versucht, Medien-Berichte über seine noch frühere Mitarbeit in rechtsextremen Vereinen zu unterbinden, berichtet die taz (Jony Eisenberg) in eigener Sache.

LG Braunschweig – VW-Manager: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig wirft ehemaligen und amtierenden Vorstandsmitgliedern von VW Marktmanipulationen durch verspätete öffentliche Mitteilungen zum Diesel-Skandal vor und hat dem Landgericht Braunschweig eine entsprechende Anklage vorgelegt. Die Angeschuldigten Herbert Diess, Martin Winterkorn und Hans Dieter Pötsch hätten nach Ansicht der Ermittler spätestens nach Prüfungen der US-Umweltbehörde VW-Anleger über die neue Situation unterrichten müssen, ihre Verteidiger bestritten indes die Vorwürfe. Zum Teil ausführliche Berichte finden sich im Hbl (Martin Murphy u.a.), lto.de, SZ (Max Hägler), Welt (Philipp Vetter) und FAZ (Marcus Jung u.a.).

Das Hbl (Rene Bender) befragt Rechtsprofessor Klaus Ulrich Schmolke als ausgewiesenen "Experten für Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht" zum Inhalt der Vorwürfe, der Möglichkeit, sich vorübergehend von einer Ad-hoc-Publizitätspflicht zu befreien und zu möglichen Strafen.

Nach den Kommentaren von Dietmar H. Lampatar (zeit.de) und Philipp Vetter (Welt) zeigen die jetzigen Entwicklungen das Problem der engen Verquickung von Aufsichtsrat und Vorstand bei VW auf. Wegen des Festhaltens an den Angeschuldigten werfe die jetzige Anklage erneut ein schlechtes Licht auf den Autobauer.

LG Frankfurt/M. zu Pfando-Klausel: Jüngst entschied das Landgericht Frankfurt/M., dass eine vom Pfand-Anbieter Pfando verwendete Klausel zu Gebühren für die Ingewahrsamnahme eines Fahrzeugs unwirksam ist. Das durch eine massive Werbekampagne bekannt gewordene Unternehmen sieht sich durch die Entscheidung in seinem Geschäftsmodell bestärkt, schreibt wdr.de (Philip Raillon). Verbraucherschützer sähen dies anders.

LG Bonn – Cum-Ex: Einer der Angeklagten im Cum-Ex-Verfahren vor dem Landgericht Bonn wird von Helen Schilling vertreten. Das Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) porträtiert die Frankfurter Rechtsanwältin, die sich zu ihrer Dissertation von der rechtswidrigen Vernehmung des Mörders von Jakob von Metzler inspirieren ließ und in ihrer beruflichen Praxis schon Wirtschaftsgrößen wie Josef Ackermann und Dirk Roßmann vertreten hat.

StA Stuttgart – Daimler: Wegen fahrlässiger Verletzung von Aufsichtspflichten im Zusammenhang des Diesel-Skandals hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen die Daimler AG ein Bußgeld von 870 Millionen Euro festgesetzt. Der Bescheid ist bereits rechtskräftig, Ermittlungen gegen einzelne Mitarbeiter laufen weiter, schreibt die FAZ (Susanne Preuß). Die Welt (Philipp Vetter) berichtet ebenfalls.

Recht in der Welt

EuGH – Polen: Die bloße Befürchtung polnischer Richter, durch die neue Zusammensetzung der Disziplinargerichtsbarkeit in ihrer Unabhängigkeit betroffen zu sein, vermag nicht eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof in Gang zu setzen. Das Gericht könne sich nicht gutachterlich mit Problemen allgemeiner oder hypothetischer Art befassen, so der Schlussantrag von Generalanwalt Jewgeni Tantschew, über den die FAZ (Marlene Grunert) berichtet. Die anhängig gemachten Verfahren seien daher als unzulässig abzuweisen.

EuG zu Motorrollern: Zwischen dem Motorroller-Modell eines italienischen Herstellers und jenem eines chinesischen Konkurrenten besteht aufgrund eines anderen Gesamteindrucks keine Verwechslungsgefahr. Daher wies das Gericht der Europäischen Union die Klage der italienischen Firma gegen eine Entscheidung des Amts der Europäischen Union für geistiges Eigentum ab. lto.de berichtet.

Schweiz – Bundesanwalt: In der Schweiz kämpft Michael Lauber, der Leiter der Bundesanwaltschaft, um seine Wiederwahl. Die SZ (Johannes Aumüller/Thomas Kistner) beschreibt die bisherige Amtsführung als "Chronique scandaleuse". Nachdem Lauber zunächst als gestrenger Korruptionsjäger angetreten sei, habe die Vergangenheit vor allem seine Nähe zur FIFA und den dortigen Funktionären erwiesen. Die von der Bundesanwaltschaft nun auch bis zur Anklage gediehenen Ermittlungen zu Zahlungen um die WM 2006 sind auch Thema in der Welt (Tim Röhn), die zudem den Angeklagten Theo Zwanziger zu Wort kommen lässt.

Spanien – Franco-Exhumierung: Der Oberste Gerichtshof Spaniens hat die Exhumierung der Leiche des früheren Diktators Francisco Franco aus dem noch zu seinen Lebzeiten angelegten sogenannten "Tal der Gefallenen" gebilligt. Gegen die Pläne hatten Enkel des 1975 Verstorbenen geklagt, schreibt die FAZ (Hans-Christian Rößler) und stellt auch die Pläne der aktuellen Regierung für eine Heimstatt der sterblichen Überreste Francos  vor. Das "Aktuelle Lexikon" der SZ (Thomas Urban) erläutert das Verfahren einer Umbettung und nennt prominente historische Vorbilder.

Juristische Ausbildung

Überflieger: Frederic Stodt hat mit 21 Jahren ein Prädikatsexamen abgelegt und ist nun drei Jahre später der jüngste Doktorand an der Ruhr-Uni Bochum. lto.de (Markus Sehl) spricht mit ihm über seine Erfahrungen, einen Geheimtipp für Studienerfolg und seine kommenden Aufgaben.

Sonstiges

Anwaltshaftung: Rechtsanwältin Barbara Helten schreibt auf lto.de über Fehler in der anwaltlichen Berufspraxis. Auch wenn hierzulande Schadenssummen mit jenen aus den USA nicht konkurrieren könnten, würde gerade ein neues Kommunikationsverhalten zu neuen Fehlern führen, wie die Autorin mit mehreren jüngst entschiedenen Fällen zur Benutzung des beA oder der Notwendigkeit, eilige Schriftstücke auch per Fax zu versenden, belegt. Welche Blüten die gerichtliche Ausgestaltung beruflicher Pflichten treibe, zeige ein Beschluss des Bundesgerichtshofs vom April 2017. Der BGH erinnerte an die anwaltliche Pflicht, "nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts zu begegnen". Der ausführliche Beitrag endet mit einer Checkliste.

Betreten vs. Durchsuchen: Auch das bloße polizeiliche Betreten einer Unterkunft zum Zwecke des Aufgreifens eines Ausreisepflichtigen erfordert wegen seiner Grundrechtsrelevanz einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss. Zu dieser Einschätzung gelangt ein der taz-Berlin (Susanne Memarnia) vorliegendes, im Auftrag der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Linke) erstelltes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Die Frage war innerhalb des Berliner Senats umstritten, nun müsse nach Ansicht von Kritikern eine gesetzliche Klarstellung im Geordnete-Rückkehr-Gesetz auf einen gerichtlichen Prüfstand.

Das Letzte zum Schluss

Initiativbewerbung: Von einer ungewöhnlichen Bewerbung berichtet Udo Vetter (lawblog.de). In einer auch an ihn gerichteten Rundmail wurden Fachanwälte für Strafrecht aufgefordert, zur anstehenden Verhandlung einer Sache des Mailschreibers vor dem Schöffengericht nach Download beigefügter Unterlagen und mit dem Versprechen auf Beiordnung als Pflichtverteidiger dem Verfasser "per Mail eine Einschätzung bzw. Verteidigungsstrategie zukommen zu lassen". Nachdem der Empfänger passen musste, scheint der Auftrag noch verfügbar zu sein.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 25. September 2019: Parlamentspause rechtswidrig / Kein weltweites Vergessenwerden / Anklage gegen VW-Bosse . In: Legal Tribune Online, 25.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37821/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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