Die juristische Presseschau vom 22. Oktober 2020: Quellen-TKÜ für Geheim­dien­ste? / sexu­eller Miss­brauch als Ver­bre­chen? / Ham­burger Cum-Ex-Hilfe?

22.10.2020

Die Bundesregierung beschließt die Quellen-TKÜ für die Geheimdienste sowie ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung "sexualisierter Gewalt" gegen Kinder. Gutachten sieht in Hamburgs Umgang mit Cum-Ex-Geschäften eine verbotene Beihilfe.

Thema des Tages

TKÜ Verfassungsschutz: Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums zur "Anpassung des Verfassungsschutzrechts" beschlossen. Zentraler Inhalt ist die Regelung der sogenannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) für Nachrichtendienste. Demnach dürfen alle deutschen Dienste künftig mithilfe sogenannter Staatstrojaner die Kommunikation ausspähen, die über verschlüsselte Messenger-Dienste geführt wurde. Voraussetzung ist in jedem einzelnen Fall eine Genehmigung der beim Bundestag angesiedelten G 10-Kommission. Deren Mitgliederzahl wird erhöht, um die Kontrolle der Überwachung zu verbessern. Ermöglicht wird weiterhin ein erweiterter Austausch von Informationen zwischen dem Militärischen Abschirmdienst und den Verfassungsschutzbehörden. Schließlich werden die Hürden für die Beobachtung von Einzelpersonen durch den Verfassungsschutz gesenkt. Es berichten SZ (Max Muth), FAZ (Marlene Grunert/Eckart Lohse), taz (Christian Rath), LTO (Markus Sehl) und spiegel.de.

Jannis Brühl (SZ) meint, zwar habe sich die Überwachung mittels Trojanern bei der Polizei als Flop erwiesen. Sollten die Geheimdienste jedoch mehr mit der Technik anfangen können als die Polizei, drohe in die Tiefe gehende Überwachung. Reinhard Müller (FAZ) betont, der Staat müsse die nötigen Instrumente haben, um Gefahren abzuwehren und Straftäter zu ermitteln. Wenn sich wesentliche Teile von deren Kommunikation der Kenntnis des Staates entziehe, mache dieser sich wehrlos. Es sei nicht zu erklären, warum die Geheimdienste nicht Nachrichten in Medien mitlesen dürfen sollten, die "heutzutage jedes Kind nutzt". 

Rechtspolitik

Kindesmissbrauch: Nach einem vom Bundeskabinett beschlossenen Gesetzentwurf des Justizministeriums soll künftig sowohl der sexuelle Missbrauch von Kindern als auch der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie als Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr bestraft werden. Der sexuelle Missbrauch soll künftig als "sexualisierte Gewalt gegen Kinder" bezeichnet werden. Zudem sollen künftig nur Juristen mit "belegbaren Kenntnissen des Familienrechts" und "Grundkenntnissen" in Psychologie und Kommunikation mit Kindern in familiengerichtlichen Verfahren als Richter eingesetzt werden können. Darüber schreiben SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Heike Schmoll) und zeit.de. Schließlich sollen auch Vertrieb und Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild unter Strafe gestellt werden, wie taz.de (Christian Rath) berichtet.

Simone Schmollack (taz) ist der Ansicht, das Gesetz setze deutliche Signale. Das beginne bei der Sprache und ende bei höheren Strafen. Wolfgang Janisch (SZ) meint hingegen, der Entwurf setze allzu sehr auf den billigen Effekt. Erfreulich sei immerhin, dass der Entwurf die Qualifikation von Familienrichter und die Stärkung von Kindern vor Gericht durch Anhörungspflichten und Verfahrensbeistände in den Blick nehme. Bei der Richterfortbildung beginne wirksamer Kinderschutz. 

Corona – Infektionsschutzgesetz: Aus Anlass neuer Pläne zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes erläutert Rechtsprofessor Thorsten Kingreen auf LTO die Probleme des bereits bestehenden Rechts. Es bestünden massive Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG), der das BMG seit März 2020 zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt. Die Voraussetzungen einer "epidemischen Lage" nach § 5 Abs. 1 Satz 2 IfSG lägen seit Mitte April nicht mehr vor. Außerdem sei zweifelhaft, ob die in den §§ 28-32 IfSG enthaltenen gesetzlichen Ermächtigungen die weitreichenden Grundrechtseinschränkungen durch die Corona-Verordnungen der Länder decken.

BND-Gesetz: LTO (Markus Sehl) schreibt ausführlich über den Entwurf zur Neuregelung der Auslandsüberwachung des Bundesnachrichtendienstes. Diesen soll das Bundeskabinett am 28. Oktober beschließen. Das Bundesverfassungsgericht hatte das BND-Gesetz für teilweise verfassungswidrig erklärt. Nun soll das BND-Gesetz anhand des Urteils als passgenaue Minimallösung nachgebessert werden. Das Gesetz könnte dabei auch als deutscher Beitrag für einen geplanten europäischen Überwachungsschutzstandard dienen. Über den Entwurf und seine Auswirkungen auf Arbeit von Journalisten im Ausland schreibt auch Lisa Dittmer (Reporter ohne Grenzen) in einem Gastbeitrag für netzpolitik.org.

Generisches Femininum im Insolvenzrecht: In einem Beitrag für die FAZ verteidigt Rechtsanwalt Daniel Weiß den ursprünglich ausschließlich die weibliche Wortform verwendenden Referentenentwurf des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts. Nachdem in Jahrzehnten der Diskussion keine überzeugende Lösung für eine genderneutrale Sprache gelungen sei, wäre nun zu erwägen, nach Jahrhunderten der männlichen Grundform in die weibliche zu wechseln. Dies könne als sprachliche Brückentechnologie bis zu einer besseren Lösung dienen.

StVO-Novelle und Fahrverbote: Der Verkehrsausschuss des Bundesrats hat im Streit um die Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO) ein Kompromisspapier des saarländischen Verkehrsministeriums verabschiedet. Demnach sollen Raser nicht so schnell den Führerschein abgeben müssen wie ursprünglich in der StVO-Novelle vorgesehen. Die Bußgelder für Tempoüberschreitungen sollen dem Beschluss zufolge "nahezu verdoppelt" werden. Es berichten FAZ (Kerstin Schwenn), taz (Anja Krüger) und spiegel.de.

"Rasse" und Grundgesetz: Nun berichtet auch deutschlandfunk.de (Gudula Geuther) über die Pläne der Bundesregierung, das Wort "Rasse" in Art. 3 Grundgesetz zu ändern. Offen bleibt demnach bislang, wie die Umsetzung aussehen kann, ohne dass der Schutz vor Diskriminierung eingeschränkt wird.

Parität im Wahlrecht: Auf verfassungsblog findet sich eine Stellungnahme der von Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) eingerichteten Arbeitsgruppe zur Parität im Wahlrecht. Die Autorinnen weisen darin auf den politischen Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers hin, der sich auch auf die Ausgestaltung des Wahlrechts erstrecke. Es gebe keinen Schutz eines Besitzstands im Wahlrecht.

Die Zeit (Heinrich Wefing) bringt ein Streitgespräch zwischen Ex-BVerfG-Richterin Gertrude Lübbe-Wolff und Rechtsprofessorin Jelena von Achenbach zu geschlechtsparitätischen Regelungen im Wahlrecht.  

Corona und Justiz: Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) fordert laut Hbl (Heike Anger), eine zweite Corona-Infektionswelle dürfe nicht zu einem Notbetrieb der Justiz führen. Die Arbeitsfähigkeit von Gerichten und Behörden müsse unbedingt sichergestellt werden, so BRAK-Präsident Ulrich Wessels. Dazu müsse die technische Ausstattung der Gerichte verbessert werden und es müssten flächendeckende Hygienekonzepte erarbeitet werden.

Digitalisierung des Rechts: Der Normenkontrollrat fordert laut LTO einen Modernisierungsschub in der Gesetzgebung. Praktikabilität und Digitaltauglichkeit von Gesetzen seien Qualitätsmerkmale für gute Gesetzgebung. Zudem müsse das Thema Verwaltungsmodernisierung stärker in den Vordergrund rücken.

Justiz

EuGH zu Widerrufsrecht: Einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zufolge entfällt beim Kauf von speziell nach Kundenwunsch gefertigten Waren das übliche 14-tägige Widerrufsrecht von Verträgen, die online oder außerhalb der Geschäftsräume geschlossen wurden. Dies gilt auch, wenn die georderte Ware noch nicht produziert wurde. Es berichten tagesschau.de (Kerstin Anabah) und LTO.

EuGH zu Aufenthaltsrecht: Türken, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben, verlieren dem Europäischen Gerichtshof zufolge mit dem Erwerb und der anschließenden Aufgabe der deutschen Staatsangehörigkeit nicht auch ihr vorheriges Aufenthaltsrecht. Rechtmäßig erworbene Rechte seien nicht davon abhängig, dass die Voraussetzungen für ihre Entstehung fortbestünden, so der EuGH laut LTO

BGH zu Gebrauchtwagenkauf: Einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zufolge begründet allein ein verrosteter Auspuff bei einem zehn Jahre alten Kleinwagen mit einer Laufleistung von mehr als 80.000 Kilometern keinen Sachmangel. Dies meldet spiegel.de.

VG Neustadt zu Präsenzunterricht: Ein asthmakranker Schüler ist laut spiegel.de mit einer Klage gegen die Pflicht zur Teilnahme am Präsenzunterricht gescheitert. Die Verfassung garantiere keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher Gesundheitsgefahr, so das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße demnach.

LG München I – Paulaner-Nockherberg: Die Betreiberin des Wirtshauses "Pauler am Nockherberg" hat sich laut FAZ (Henning Peitsmeier) und LTO mit der Allianz-Versicherung in Bezug auf Entschädigungszahlungen wegen der coronabedingten Betriebsschließung geeinigt. Die Klage auf Zahlung einer Entschädigung sei demnach zurückgenommen worden. 

GBA – Dresdner Messerangriff: Die Bundesanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen einen 20 Jahre alten Syrer zu einer Messerattacke in Dresden von Anfang Oktober übernommen. Es stehe eine islamistisch motivierte Tat im Raum, berichten SZ (Florian Flade) und LTO

Recht in der Welt

Spanien – Justizreform: Die FAZ (Hans-Christian Rößler) schreibt über Pläne der spanischen Regierung, angesichts einer andauernden politischen Blockade das Wahlverfahren für das oberste Richtergremium zu ändern. Statt einer Drei-Fünftel-Mehrheit soll künftig im zweiten Wahlgang eine absolute Mehrheit genügen. Die Opposition und die EU-Kommission mahnen indessen, die Unabhängigkeit der Justiz dürfe nicht gefährdet werden.

USA – Google und Kartellrecht: Die US-Regierung hat eine Wettbewerbsklage gegen Google eingereicht. Sie wirft Google vor, seine dominierende Position bei der Internetsuche und der damit verbundenen Werbung auf illegale Weise zu schützen. Auch in Bezug auf das Betriebssystem Android schütze Google sein Geschäft mit wettbewerbswidrigen Vereinbarungen. Die Klage ist der Versuch, das US-Recht neu zu interpretieren, weil das Erfordernis höherer Kosten für Kunden aufgegeben wird. Es berichten nun auch SZ (Jannis Brühl/Claus Hulverscheidt), taz (Svenja Bergt) und LTO

Großbritannien – Internal Market Bill: In einem (englischsprachigen) Beitrag auf verfassungsblog erläutert Senior Lecturer Richard Lang, dass seines Erachtens nach das von der EU-Kommission wegen der "Internal Market Bill" gegen Großbritannien angestrengte Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof unzulässig wäre. Ein solches Verfahren könne sich nicht gegen Maßnahmen richten, die noch nicht in Kraft sind. 

Sonstiges

75 Jahre Nürnberger Prozesse: Die Zeit (Christian Staas) stellt anlässlich des 75. Jahrestages der Nürnberger Prozesse die Frage, ob die Tribunale gescheitert sind. Es habe eine breite Ablehnung der "Siegerjustiz" durch die Nachkriegsdeutschen gegeben. Zugleich werde jedoch Nürnberg weiterhin als vorbildhafte, bahnbrechende Anstrengung der Alliierten angesehen.  

Cum-Ex: Berichten der Zeit (Oliver Hollenstein/Oliver Schröm) und der SZ (Peter Burghardt/Jörg Schmitt) zufolge kommt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Steuerverwaltung Hamburg im Umgang mit Cum-Ex-Geschäften wohl EU-Recht verletzt hat. Hamburg hat demnach der Privatbank Warburg verbotene Beihilfe geleistet, weil es Geld aus Cum-Ex-Geschäften nicht rechtzeitig von der Bank zurückforderte.

Mandatierung von Kanzleien: LTO stellt eine Studie unter 62 deutschen Firmen vor, wonach bislang wenig objektive und wirtschaftliche Kriterien angelegt werden, wenn es um die Mandatierung von Anwaltskanzleien geht. Entscheidend seien Referenzen, ein guter Ruf der Kanzlei und Empfehlungen durch andere Unternehmen oder Kollegen.

 

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lto/jng

(Hinweis für Journalisten)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 22. Oktober 2020: Quellen-TKÜ für Geheimdienste? / sexueller Missbrauch als Verbrechen? / Hamburger Cum-Ex-Hilfe? . In: Legal Tribune Online, 22.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43179/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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