Die juristische Presseschau vom 29. Oktober 2025: BVerfG zu Abschie­bungs­haft / Rich­ter­wahl in Thüringen geht weiter / Ita­lien vor Jus­tiz­re­form

29.10.2025

Abschiebungshaft muss vor der Festnahme richterlich angeordnet werden. Wegen AfD-Blockade der Neubesetzung tagen übergangsweise Wahlausschüsse in alter Besetzung. Italien steht kurz vor dem Umbau der beruflichen Laufbahnen in der Justiz.

Thema des Tages

BVerfG zu Abschiebungshaft: Das Bundesverfassungsgericht gab den Verfassungsbeschwerden von drei Ausländer:innen statt, die festgenommen worden waren, bevor die Abschiebungshaft richterlich angeordnet wurde. Da die Freiheitsentziehung grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung voraussetze, seien alle drei Beschwerdeführer:innen in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 2 GG verletzt. Das gelte auch, wenn zwischen Festnahme und richterlicher Anordnung weniger als eine Stunde liege, da der grundgesetzlich garantierte Richtervorbehalt keiner "Marginalitätsschwelle" unterliege. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung sei nur ausnahmsweise möglich. Die nun veröffentlichten Beschlüsse von Anfang August diesen Jahres betreffen Festnahmen aus den Jahren 2017, 2019 und 2020. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch, der die drei Beschwerdeführer:innen vertrat, geht davon aus, dass das BVerfG eine weitverbreitete Praxis beanstandete. Federführender Richter am BVerfG war der inzwischen ausgeschiedene Ulrich Maidowski. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath), LTO (Joschka Buchholz), beck-aktuell, tagesschau.de (Max Bauer) und zeit.de.

In einem separaten Kommentar begrüßt Max Bauer (tagesschau.de) die Entscheidung als "Zeichen für rechtsstaatliche Kontrolle". Für Bauer geht es bei den Entscheidungen zum Richtervorbehalt "nicht darum, ob man für mehr oder weniger Abschiebungen ist", sondern "um den Rechtsstaat, in dem der Zweck nie die Mittel heiligt".

Rechtspolitik

Richterwahl in Thüringen: Wie LTO (Markus Sehl) weiß, haben die Justiz-Wahlausschüsse des Thüringer Landtags aufgrund der monatelangen AfD-Blockade der Neubesetzung nun in alter Besetzung die Arbeit wieder aufgenommen. Verfassungsrechtlich ist umstritten, ob das alte Gremium legitimiert ist, der Ernennung von Richter:innen und Staatsanwält:innen auf Lebenszeit zuzustimmen. Sollte das Vorgehen verfassungswidrig sein, könnten sich auch Folgefragen zu den Gerichtsentscheidungen der Neubenannten ergeben. Rechtsprofessor Michael Brenner kam in einem vom Justizministerium in Auftrag gegebenen Gutachten zu dem Schluss, dass die Ausschüsse durch Übergangsregelungen handlungsfähig blieben.

Cyberabwehr: Nachdem Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) vor einigen Tagen ankündigte, den Bundesbehörden mehr Befugnisse zur Cyberabwehr einräumen zu wollen, untersucht das Hbl (Heike Anger/Dietmar Neuerer) etwaige verfassungsrechtliche Hürden. Da die Gefahrenabwehr grundsätzlich Ländersache ist, bezweifelt Rechtspolitiker Helge Limburg (Grüne), dass die Pläne Dobrindts ohne Grundgesetzänderung möglich seien. Rechtsprofessor Meinhard Schröder gibt zu bedenken, dass sich auch Personen im Ausland auf Grundrechte berufen können, sodass die Gesetzgebung "sicherstellen müsste, dass die Maßnahmen sehr zielgenau vorgenommen werden".

Rechtsberatende Berufe: Auf beck-aktuell stellt Stephan Göcken, Hauptgeschäftsführer der Bundesrechtsanwaltskammer, den 335-seitigen Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zur Reform des anwaltlichen Berufsrechts vor. Der Entwurf sieht unter anderem mehr Regelungsklarheit vor, indem die einzelnen Berufspflichten des § 43a BRAO in gesonderte Vorschriften aufgeteilt werden, sowie zwei von der Anwaltschaft geforderte Ausnahmen von der Sozietätserstreckung bei dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen.

Föderalismus: Die FAZ (Oliver Weber) fasst einen Vortrag von Utz Schliesky, Rechtsprofessor und Direktor des schleswig-holsteinischen Landtags, zusammen, wonach die Landesparlamente seit 1949 einen erheblichen Bedeutungsverlust erlitten hätten. Der Bundesrat selbst sei ein "schlechter Sachwalter des Landesparlamentarismus", weil dort nur die Landesregierungen, nicht aber die Landesparlamente vertreten seien. Deshalb forderte Schliesky, den Bundesrat durch eine echte zweite Kammer zu ersetzen, die zeitgleich mit den Landesparlamenten gewählt werde.

Justiz

BVerfG zu kirchlichem Arbeitsrecht: Nun bespricht auch der Habilitand André Reinelt auf dem Verfassungsblog die Egenberger-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das BVerfG mache "hinsichtlich der Grundrechtspluralität in Europa und der Privatrechtswirkung der Gleichheitsgrundrechte zwei Schritte nach vorn, hinsichtlich der nationalen Grundrechtsdogmatik und dem Austarieren von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und dem Nichtdiskriminierungsrecht hingegen zwei zurück". Reinelt moniert, dass das Gleichheitsrecht "lediglich individualrechtlich gedacht" werde und dabei die "soziale Teilhabedimension außer Betracht bleibt".

LSG Berlin-BB zu Videokonferenz-Gefahren: Wer während einer Videokonferenz im Homeoffice aus dem Fenster springt, weil der Akku des eigenen E-Scooters Feuer fängt, untersteht nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, so das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg. Nach Auffassung des LSG bestand keine "hinreichend enge sachliche Beziehung" zwischen dem Sprung und der Videokonferenz – die Rettung des eigenen Lebens sei ein "überragend wichtiges privates Motiv". Damit wies es die Klage eines Mannes gegen die Berufsgenossenschaft zurück, der sich beim Sprung beide Füße brach, so LTO und spiegel.de.

OLG München – Spionage für Russland: Am morgigen Donnerstag verkündet das Oberlandesgericht München seine Entscheidung im Prozess gegen den 41-jährigen Russlanddeutschen Dieter S., dem der Generalbundesanwalt (GBA) Spionage für Russland, Sabotage und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorwirft. S. soll seinem Bekannten Akhra Avidzba, mit dem er in der Ostukraine als Teil einer prorussischen Miliz gekämpft haben soll, Informationen über Straßen, eine Ölraffinerie und einen US-Truppenübungsplatz geschickt haben. Der GBA forderte dafür eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und acht Monaten. In einer Seite-Drei-Reportage fasst die SZ (Marta Ahmedov u.a.) den fünfmonatigen Gerichtsprozess zusammen. Entscheidende Frage sei, ob S. gefährlich war oder nur ein Aufschneider und Schauspieler.

LG Kiel zu Likör ohne Ei: Ein Spirituosenhersteller darf seine vegane Spirituose auf Sojabasis mit Rum "Likör ohne Ei" nennen, so das Landgericht Kiel. Damit wies es eine Klage des Schutzverbands der Spirituosen-Industrie ab, die in der Bezeichnung u.a. eine Irreführung der Verbraucher:innen wegen einer "gedanklichen Verbindung" zu Eierlikör sah. Hingegen befand das LG Kiel, dass die Bezeichnung "Likör ohne Ei" ebenso wie die Bezeichnung "Alternative zu Eierlikör" eine erkennbare Abgrenzung gegenüber dem Begriff "Eierlikör" formuliere. Es berichten SZ (Silvia Liebrich), FAZ, LTO, spiegel.de, beck-aktuell und bild.de (Markus Arndt).

LG Frankfurt/M. – DFB-Steuerhinterziehung: An diesem Donnerstag beginnt das Strafverfahren gegen den ehemaligen DFB-Schatzmeister Stephan Osnabrügge wegen inkorrekt versteuerter Einnahmen aus der Bandenwerbung vor dem Landgericht Frankfurt/M. In einem Vorbericht ruft die SZ (Johannes Aumüller/Thomas Kistner) im Sport-Teil die Hintergründe der Anklage in Erinnerung.

LG München II – Bahn-Unfall Garmisch-Partenkirchen: Vor dem Landgericht München II startete der Strafprozess gegen zwei Bahnmitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung in fünf Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in 72 Fällen im Zusammenhang mit dem entgleisten Regionalzug bei Garmisch-Partenkirchen im Juni 2022. Gutachten zufolge lösten marode Betonschwellen das Zugunglück aus. Die Staatsanwaltschaft wirft dem angeklagten Fahrdienstleiter Andreas M. vor, dass er die Strecke bis zu einer Entwarnung hätte sperren müssen, als er am Vorabend der Entgleisung von Unregelmäßigkeiten am Gleis erfuhr. Der Mitangeklagte Manfred Sch. sei als Bezirksleiter Fahrbahn für die Sicherheit der Gleise verantwortlich gewesen. Beide Angeklagte machen sich moralische Vorwürfe, bestreiten aber die strafrechtliche Verantwortung. SZ (Klaus Ott), FAZ (Timo Frasch), taz (Dominik Baur), spiegel.de (Jan Friedmann), beck-aktuell, zeit.de und bild.de (Andreas Bachner) schreiben über den Prozessauftakt.

AG Aschaffenburg zu Strafvereitelung durch Polizist: Das Amtsgericht Aschaffenburg hat einen 29-jährigen Polizisten wegen Strafvereitelung im Amt zu fünf Monaten Bewährungsstrafe verurteilt. Der Polizist hatte kein Ermittlungsverfahren gegen Enamullah O. eingeleitet, obwohl er vom Messerangriff auf dessen damalige Partnerin wusste. Fünf Monate später tötete der psychisch kranke O. zwei Menschen in Aschaffenburg mit einem Messer. Der Richter warf dem Polizisten Gleichgültigkeit und Faulheit vor; ein Disziplinarverfahren wurde bislang noch nicht eingeleitet. Es berichten SZ (Max Weinhold Hernandez), FAZ (Kim Maurus), LTO, spiegel.de und bild.de (Jörg Völkerling).

In einem separaten Kommentar begrüßt Max Weinhold Hernandez (SZ) die Entscheidung. Fehler könnten zwar passieren, doch so wie der Beschuldigte dürften Polizist:innen nicht arbeiten. Das Urteil "ist eine gute Erinnerung für jeden, der das vergessen haben sollte".

Recht in der Welt

Italien – Justizreform: Nachdem das italienische Abgeordnetenhaus bereits im September der möglichen Verfassungsänderung zustimmte, mit der die beruflichen Laufbahnen von Richter:innen und Staatsanwält:innen getrennt werden sollen, wird voraussichtlich auch der Senat am morgigen Donnerstag seine Zustimmung erteilen. Dadurch könnten Staatsanwaltschaften künftig der Weisungsbefugnis des Justizministeriums unterworfen sein, wie die taz (Michael Braun) schreibt.

In einem separaten Kommentar warnt Michael Braun (taz), dass "Italiens Rechtsregierung damit endlich den populistischen Traum des 'Durchregierens' ohne Gegengewichte wahr" machen könne.

EGMR/Norwegen – Klimaschutz/Ölförderung: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies die Klage sechs junger Klimaaktivist:innen gegen Norwegen wegen der Vergabe von Lizenzen zur Öl- und Gasexploration in der Arktis zurück. Wenngleich Norwegen seine Klimafolgenabschätzung 2016 aufgeschoben habe, gebe es keine Anzeichen dafür, dass Norwegen das Recht der Kläger:innen auf Privat- und Familienleben missachtet habe, so spiegel.de.

Polen – Ex-Justizminister Ziobro: Polens Generalstaatsanwaltschaft beantragte beim polnischen Parlament die Aufhebung der Immunität des früheren Justizministers Zbigniew Ziobro, der heute Parlamentsabgeordneter der konservativen PiS ist. Die Generalstaatsanwaltschaft ermittelt unter anderem wegen des Verdachts der Veruntreuung von umgerechnet 35 Millionen Euro gegen Ziobro, weil er Mittel aus dem für Verbrechensopfer gedachten "Gerechtigkeits-Fonds" in Projekte geschleust haben soll, die seiner Partei nutzen sollten. Unter anderem soll Ziobro mit den Geldern die israelische Spionage-Software Pegasus angeschafft haben, mit der politische Gegner ausgespäht worden sein sollen. LTO berichtet.

Niederlande – Waffenlieferungen nach Israel: Die Rechtsprofessoren Marten Zwanenburg und Joop Voetelink stellen auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) die am 3. Oktober ergangene Entscheidung des niederländischen Obersten Gerichtshofs zu Kampfjet-Lieferungen nach Israel vor. Danach erforderten weder Völkerrecht noch EU-Recht eine Neubewertung der Ausfuhrgenehmigung bei neuen Informationen. Bei Angelegenheiten der Außenpolitik oder der nationalen oder internationalen Sicherheit sei jedenfalls im Rahmen eines Eilverfahrens richterliche Zurückhaltung geboten.

Juristische Ausbildung

E-Examen: Ab Februar 2026 will Mecklenburg-Vorpommern das Zweite Staatsexamen auch als E-Examen anbieten, das Erste Staatsexamen soll ab April 2027 digital möglich sein. Ein Probelauf für das elektronische Zweite Staatsexamen Anfang Oktober lief erfolgreich, so Mecklenburg-Vorpommerns Justizministerin Jacqueline Bernhardt (Linke) laut beck-aktuell.

OVG Nds zu Prüfungszulassung: Im Eilverfahren verpflichtete das Oberverwaltungsgericht Lüneburg das Justizprüfungsamt, einen Rechtsreferendar vorläufig zur mündlichen Prüfung des zweiten Staatsexamens zuzulassen. Da eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage wegen der Vielzahl an Einwendungen gegen die Klausurbewertungen nicht möglich sei, sei ausnahmsweise eine Folgenabwägung ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zulässig. Die möglicherweise "zwecklosen" staatlichen Ausgaben für die Durchführung der Prüfung treten hinter dem nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufswahlrecht zurück. beck-aktuell berichtet.

Sonstiges

Hausdurchsuchungen bei Äußerungsdelikten: LTO (Max Kolter) untersucht, unter welchen Voraussetzungen eine Hausdurchsuchung bei Äußerungsdelikten im Internet zulässig ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit müssen die "Straferwartung, der Verdachtsgrad und der zu erwartende Nutzen der Durchsuchung" geprüft werden. Eine Erheblichkeitsschwelle für Hausdurchsuchungen habe weder die Gesetzgebung noch das Bundesverfassungsgericht formuliert, sodass auch bei Bagatelldelikten grundsätzlich eine Ermittlungspflicht bestehe. Als milderes Mittel komme ein Durchsuchungsbeschluss mit Abwendungsbefugnis in Betracht.

Google-Unternehmensprofil als Anwalt: beck-aktuell (Maximilian Amos/Pia Lorenz) befasst sich anlässlich eines Schreibens der Rechtsanwaltskammer (RAK) München an den Passauer Rechtsprofessor Holm Putzke, in dem die RAK den Professor auffordert, darauf hinzuwirken, bei Google nicht mehr als "Anwalt" bezeichnet zu werden, mit Haftungsfragen. Für eine irreguläre Werbung durch Dritte könne Putzke nach dem UWG nur zur Verantwortung gezogen werden, wenn er die Werbung veranlasst oder gefördert hat.  

Anwaltschaft: Der ARD-RadioReportRecht (Kolja Schwartz) spricht mit dem Präsidenten des Deutschen Anwaltsvereins (DAV) Stefan von Raumer, über den zunehmenden Druck auf die Anwaltschaft weltweit und über die Bestrebung des DAV, den anwaltlich unterstützten Zugang zum Recht grundgesetzlich zu verankern.

Das Letzte zum Schluss

Feuerwehreinsatz wegen Heißhunger: In Hamburg rettete die Feuerwehr am Montagmorgen einen 33-Jährigen aus einem Snackautomaten. Der Mann habe Heißhunger verspürt, aber kein Geld gehabt. Bei dem Versuch, so an die Süßigkeiten zu gelangen, blieb er im Ausgabeschacht stecken, wie spiegel.de schreibt.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/lh/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 29. Oktober 2025: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58483 (abgerufen am: 07.11.2025 )

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