Das BVerfG hält eine eine grundrechtskonforme Auslegung des MuSchG bei Fehlgeburten für möglich. Beim Sicherheitspaket besteht nach Sachverständigen-Kritik noch Änderungsbedarf. Ein Fax an das Finanzamt ist kein "öffentliches Verbreiten".
Thema des Tages
BVerfG zu Mutterschutz bei Fehlgeburt: Die Verfassungsbeschwerde von vier Frauen, die aus persönlicher Betroffenheit bemängelten, dass der gesetzliche Mutterschutz für Fehlgeburten vor der 24. Schwangerschaftswoche nicht gilt, ist laut Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unzulässig. Gegen Rechtsnormen gerichtete Verfassungsbeschwerden müssen innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden – diese Frist ist bei dem 2017 reformierten Mutterschutzgesetz (MuSchG) bereits verstrichen. Außerdem wurde der Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt, weil es den Betroffenen zuzumuten sei, die Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Regelung zunächst sozial- und arbeitsgerichtlich prüfen zu lassen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Fachgerichte den in § 3 MuSchG festgelegten Begriff der 'Entbindung' im Lichte des Art. 6 Abs. 4 GG so auslegen, dass er auch Fehlgeburten vor der 24. Schwangerschaftswoche erfasst. LTO (Luisa Berger) berichtet.
Im Interview mit spiegel.de (Verena Töpper) erläutert Rechtsanwalt Remo Klinger, der die vier Frauen vertrat, dass er den Unzulässigkeitsbeschluss des BVerfG "nicht als Niederlage sieht", weil das BVerfG betroffene Frauen zu Klagen bei den Fachgerichten ermutigt habe. Um eine Klageflut zu vermeiden, könne nun aber auch der Gesetzgeber den bereits vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Mutterschutzgesetzes beschließen.
Rechtspolitik
Sicherheitspaket: Angesichts der starken Kritik der Sachverständigen im Innenausschuss des Bundestages an dem sogenannten "Sicherheitspaket" wurde die für den heutigen Donnerstag geplante Abstimmung laut taz (Konrad Litschko) auf Oktober verschoben. Die AG Migration der SPD kritisiert das Paket als "rechtlich fragwürdig". Über den Abstimmungs- und Änderungsbedarf der Ampel an dem Paket schreibt auch netzpolitik.org (Markus Reuter).
Gesichtserkennung: Die Datenschutzkonferenz rät zur Vorsicht beim Einsatz automatisierter biometrischer Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, da sie tief in die Grundrechte eingreife. netzpolitik.org (Lilly Pursch) berichtet.
Geschlechtsbezogene Gewalt: In mittlerweile drei offenen Briefen fordern dutzende Verbände und Initiativen von der Bundesregierung, das angekündigte Gewalthilfegesetz zu verabschieden. Die Zahlen geschlechtsbezogener Gewalt steigen kontinuierlich – alle vier Minuten werde eine Frau Opfer häuslicher Gewalt, alle zwei Tage werde eine Frau durch ihren (Ex-)Partner getötet. Wie die taz (Patricia Hecht) weiß, wird der Entwurf des Bundesfamilienministeriums derzeit "regierungsintern beraten". Die FAZ (Monika Ganster) weist auf den hessischen Antrag hin, die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild im Gewaltschutzgesetz zu verankern, um Annäherungs- und Kontaktverbote der (Ex-)Partner wirksamer durchzusetzen. Der Antrag wird an diesem Freitag im Bundesrat abgestimmt.
Gemeinnützigkeit: Im Interview mit beck-aktuell (Monika Spiekermann) konstatiert Rechtsprofessor Sebastian Unger anlässlich eines offenen Briefes mehrerer Organisationen mit Bitte um Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, dass "die gemeinnützigkeitsrechtliche Engführung der politischen Betätigung die Gefahr einer unpolitischen Zivilgesellschaft birgt". Unger fordert daher einen "klaren Rahmen für die politische Betätigung gemeinnütziger Organisationen", damit das "Gemeinnützigkeitsrecht in den falschen Händen keine Munition für die Beschädigung oder gar Beseitigung zivilgesellschaftlicher Strukturen liefert".
KI bei der Polizei: netzpolitik.org (Martin Schwarzbeck) fasst den Bericht der europäischen Polizeibehörde Europol zum möglichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz zusammen. So könnte KI zukünftig dafür genutzt werden, um die Wahrscheinlichkeit der Straffälligkeit einer Person zu berechnen, Passwörter herauszufinden und Personen durch Stimmanalysen und Iris-Scans zu identifizieren. Der Bericht nennt als potenzielle Gefahren von KI "unfaire und voreingenommene Ergebnisse" sowie die "unverhältnismäßige Überwachung unschuldiger Personen".
Justiz
BGH zu Holocaustleugnung: Bei dem Versenden eines Faxes mit seitenlangen Holocaustleugnungen an das Finanzamt handelt es sich nicht um ein öffentliches Verbreiten gemäß § 130 Abs 3 StGB, weil mit dem Schreiben nur wenige Menschen beruflich befasst waren. Damit verwarf der Bundesgerichtshof die staatsanwaltschaftliche Revision gegen das Urteil des Landgerichts München II, das die einschlägig vorbestrafte Holocaustleugnerin Sylvia Stolz vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen hatte. Es berichten SZ, LTO, spiegel.de und zeit.de.
EuGH – Werbung mit Rabatten: Im Vorfeld der für den heutigen Donnerstag angekündigten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Frage, wie Unternehmen Rabatte bewerben dürfen, erklärt Rechtsanwalt Stefan Weidert auf beck-aktuell die Hintergründe. Das Landgericht Düsseldorf hatte dem EuGH zwei Fragen u.a. zur Berechnung des Referenzpreises für den Preisvergleich vorgelegt. In dem zugrundeliegenden Fall hatte Aldi Süd groß und bunt mit einem "- 23 %"-Rabatt auf Bananen geworben – 1,29 Euro statt 1,69 Euro –, obwohl die Bananen in den letzten 30 Tagen bereits einmal 1,29 Euro kosteten.
BVerfG – Pflege-Impfpflicht: Im FAZ-Feuilleton bewertet Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz den Vorlagebeschluss des VG Osnabrück zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht nach Bekanntwerden der RKI-Protokolle als "juristische Schlamperei", weil er "zu großen Teilen aus wörtlichen Zitaten des Bundesverfassungsgerichts und der Gesetzgebungsmaterialien" besteht und sich nicht mit Argumenten der Literatur auseinandersetze. Gärditz findet, dass "der von Einseitigkeit gekennzeichnete Umgang mit dem Rechtsstoff an einen Missbrauch der Vorlagepflicht grenzt" und prognostiziert, dass die Vorlage nicht die hohe Zulässigkeitshürde überwinden kann.
BGH zum Rücktritt von versuchter Körperverletzung: Ein Räuber, der mit einem Rasiermesser nach seinem Opfer stach, um die Tasche des Opfers zu fassen, und anschließend mit der Beute floh, ist möglicherweise wirksam von dem Versuch der Körperverletzung zurückgetreten. Damit verwies der Bundesgerichtshof den Fall zurück an das LG Osnabrück. Der Versuch sei nicht deshalb fehlgeschlagen, weil die versuchten Messerstiche wegen der "außertatbestandlichen Zielerreichung" nutzlos wurden. Der "Rücktrittshorizont" des Räubers hätte gepürft werden müssen. beck-aktuell berichtet.
BGH zu Tötungsvorsatz: Nun berichtet auch LTO über die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der eine Anklage wegen versuchten Totschlags zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Halle zurückverwies. Aus der Gefährlichkeit einer Verletzungshandlung könne nicht zwingend gefolgert werden, dass der Täter auch mit Tötungsvorsatz handelte. Konkret ging aus um einen Stoß aus dem Fenster einer Wohnung im zweiten Stock.
OVG Berlin-BB zu Umzäunung Görlitzer Park: Der von den Grünen geführte Bezirk Berlin-Friedrichshain scheiterte auch zweitinstanzlich vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit einer Beschwerde im Eilverfahren gegen den Beschluss des CDU-geführten Berliner Senats, den Görlitzer Park zu umzäunen und nachts zu schließen. Es fehle an der Eilbedürftigkeit der Entscheidung, weil die Umzäunung nicht irreversibel ist. Zur Frage, ob der Bezirk sich überhaupt auf die kommunale Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG berufen kann, äußerte sich das OVG Berlin-BB nicht. Es berichten taz-berlin (Martha Blumenthaler) und LTO.
OLG München zu Wirecard-Anleger:innen: Nun berichtet auch LTO über die Entscheidung des Oberlandesgerichts München, wonach auch Aktionär:innen des insolventen Wirecard-Konzerns ihre Ansprüche als Insolvenzforderungen zur Insolvenztabelle anmelden können. Die Entscheidung ist aber nicht rechtskräftig. Der Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé will jetzt vor dem Bundesgerichtshof klären lassen, ob die Forderungen der Aktionär:innen in der Insolvenztabelle gleichen Ranges sein können wie Forderungen der Gläubiger:innen.
Stephan Radomsky (SZ) findet die Entscheidung falsch, weil Aktionär:innen, die das Management beeinflussen können, "mehr Macht und viel größere Chancen haben als Gläubiger – also müssen sie auch das Risiko akzeptieren".
VG Düsseldorf zu "From the river...": Das Verwaltungsgericht Düsseldorf bestätigte das Verbot der "From the river..."-Parole bei zwei propalästinensischen Demonstrationen im Dezember 2023 und im April 2024. Die Versammlungsveranstalter:innen hätten sich nicht ausreichend von der verbotenen Vereinigung Samidoun und der Terrororganisation Hamas, deren Kennzeichen die Parole sei, distanziert. spiegel.de berichtet.
LG Karlsruhe zu Radio Dreyeckland: Der Freispruch des Radio Dreyeckland-Redakteurs Fabian Kienert im Zusammenhang mit der Verlinkung auf ein Archiv der verbotenen linksradikalen Vereinigung linksunten.indymedia.org ist nun rechtskräftig geworden. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision gegen den Freispruch nicht fristgerecht begründet, so LTO und netzpolitik.org (Martin Schwarzbeck). Wie taz-blogs (Detlef Georgia Schulze) in Erfahrung gebracht hat, nahm die Staatsanwaltschaft Karlsruhe die zunächst eingelegte Revision wieder zurück, allerdings kam die schriftliche Rücknahmeerklärung wohl nicht rechtzeitig bei der zuständigen Kammer des LG Karlsruhe an.
Sozial- und Arbeitsgerichte SH: Nach Informationen von taz-nord (Gernot Knödler) und LTO (Tanja Podolski) kündigte die schleswig-holsteinische Justizministerin Kerstin von der Decken (CDU) an, aus Spargründen alle neun Sozial- und Arbeitsgerichte zu schließen und an einem noch nicht bekanntgegebenen Ort zu konzentrieren. Die betroffenen Richter:innen und Mitarbeitenden wurden von den Plänen überrascht; sie sind "entsetzt" und "völlig fassungslos".
In einem separaten Beitrag kritisiert Gernot Knödler (taz-nord) die Pläne als "Rezept für Bürgerferne". Er findet es falsch, "den Abstand zum Bürger in einer Zeit zu vergrößern, in der sich der Staat vermehrt unter Legitimationsdruck befindet". Der "Staat sollte eher Präsenz zeigen, statt sich zurückzuziehen", fordert Knödler.
Vom RA zum StA: In der Reihe "Small Talk" spricht LTO-Karriere (Franziska Kring) mit dem Staatsanwalt und Ex-Großkanzlei-Anwalt Leif Schubert über seinen Berufsweg. In die Justiz wechselte Schubert, weil sich der Beruf und eine Familie einfacher vereinbaren lassen, empfiehlt es aber allen, "unterschiedliche Dinge auszuprobieren".
Recht in der Welt
USA – Haitianer:innen vs. Trump: Haitianer:innen aus Springfield, Ohio, haben eine Klage gegen Donald Trump wegen seiner rassistischen Behauptung, Einwanderer:innen aus Springfield würden die Haustiere ihrer Mitmenschen essen, eingereicht. Infolge der Behauptungen Trumps sind mehrere Bombendrohungen bei öffentlichen Gebäuden und Schulen eingegangen. Nun wird es eine Anhörung geben müssen, bevor die Strafbehörden sich des Falles annehmen können, so spiegel.de.
Belgien/EU – Korruption: Auf Antrag der ehemaligen Vizepräsidentin des EU-Parlaments Eva Kaili, der Korruption vorgeworfen wurde, muss das Kontrollgremium der Geheimdienste im belgischen Parlament nun darlegen, ob der belgische Inlandsgeheimdienst seine Erkenntnisse rechtmäßig erlangte. Kaili macht Rechtsverletzungen im Rahmen der Ermittlungen der belgischen Bundesanwaltschaft geltend. Wie die FAZ (Thomas Gutschker) schreibt, ist offen, ob es überhaupt noch zu einem Prozess im Korruptionsskandal kommt.
Schweiz - Suizidkapsel: Die Staatsanwaltschaft Schaffhausen hat gegen die Beteiligten eines begleiteten Suizids mit Hilfe der Selbstmordkapsel Sarco Ermittlungen aufgenommen. Eine US-Amerikanerin hatte sich getötet, indem sie in die Kapsel auf Knopfdruck Stickstoff einleiten ließ. Der Suizid wurde von der Suizidhilfeorganisation The last Resort organisiert. Die Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz strafbar, wenn ein Suizidhelfer aus selbstsüchtigen Beweggründen handelt. Manche Kantone wie Schaffhausen haben Sarco explizit verboten. Der Schweizer Bundesrat hält dies für unnötig, da Sarco schon gegen das Chemikalien- und Produktsicherheitsrecht verstoße. Die SZ (Alexandra Aregger/Larissa Rhyn) berichtet.
Sonstiges
Gesetze über die Vergangenheit: Im Interview mit der SZ (Jakob Wetzel) erläutert Rechtsprofessorin Angelika Nußberger die Ergebnisse des Forschungsprojekts "Memocracy", das nach "wirksamen Antworten auf militante Gesetzgebung über die Vergangenheit" suchte. Politisch motivierte Geschichts-Narrative, wie etwa die Behauptung Wladimir Putins, die Ukraine sei nie ein eigener Staat gewesen, können zur Legitimation von Herrschaft eingesetzt werden. Die deutsche Kriminalisierung der Holocaust-Leugnung sei in anderen Staaten als Rechtfertigung ihrer eigenen (nicht selbstkritischen) Geschichts-Narrative genutzt worden.
Legal Hackathon: LTO stellt die diesjährigen Gewinnerteams bei dem von Wolters Kluwer veranstalteten Legal Hackathon vor. Eine Jury bestehend aus Expert:innen der Bereiche Recht, Wirtschaft, Arbeitsrecht, Finanzen und Technologie bewertete die Ideen der Teams, wie aktuelle Herausforderungen in der Rechtsbranche in Hinblick auf Digitales und technische Innovationen gemeistert werden können.
Freshfields: Wie die FAZ (Marcus Jung) schreibt, wird die Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer ab Oktober einen neuen Markenauftritt haben und nur noch unter dem Namen Freshfields auftreten.
Kontrolle krankgeschriebener Arbeitnehmer:innen: Der Geschäftsführer und der Personalchef von Tesla haben krankgemeldete Arbeitnehmer:innen wegen Zweifeln an dem gemeldeten Gesundheitszustand zu Hause aufgesucht. Im Interview mit LTO (Tanja Podolski) erklärt der Arbeitsrechtsanwalt Anton Barrein, dass ein Vortäuschen der Arbeitsunfähigkeit zwar "eine massive Verletzung der Arbeitspflichten und regelmäßig auch ein Betrug nach § 263 StGB" ist, der Hausbesuch der Vorgesetzten allerdings stark die Privatsphäre der Arbeitnehmer:innen beeinträchtige und daher in der Regel rechtswidrig sei. Ein ordentliches Kündigungsrecht der Arbeitgeber:innen ergebe sich grundsätzlich erst bei unzumutbar vielen Krankheitstagen.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/lh/chr
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Die juristische Presseschau vom 26. September 2024: . In: Legal Tribune Online, 26.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55504 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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