Die juristische Presseschau vom 30. November 2022: BVerfG zu Polizei-Namens­schild / Lau­ter­bach bes­tellt Cannabis-Gut­achten / BGH zu Sch­le­cker-Insol­venz

30.11.2022

Die Namenskennzeichnung von Polizist:innen ist verfassungsgemäß. Gesundheitsminister Lauterbach kündigt Cannabis-Gesetzentwurf für März an. Kartellschadensersatz ist im Schlecker-Insolvenzverfahren nun doch noch möglich.

Thema des Tages

BVerfG zu Polizeikennzeichnung: Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde einer brandenburgischen Polizistin ab, mit der sie mittelbar gegen die landesgesetzliche Pflicht zum Tragen eines Namensschildes und unmittelbar gegen ein bestätigendes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vorging. Die Polizistin sah sich in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Mit ihrem seltenen Nachnamen könne anhand von Informationen aus dem Internet ein Persönlichkeitsbild angefertigt werden. Eine Kammer des BVerfG erklärte die Beschwerde jedoch für unzulässig, weil nicht ausreichend substantiiert. Die Frau habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass auch Verwaltungsbeamt:innen und Richter:innen bei ihrer Tätigkeit mit ihrem Namen kenntlich sind. Die Kennzeichnung mit einer Nummer sei kein milderes Mittel, weil so keine Bürgernähe erreicht werden könne. Außerdem könne die Beschwerdeführerin ihre Daten auch selbst schützen, etwa durch Privatsphäreeinstellungen in sozialen Netzwerken. Die FAZ (Marlene Grunert), taz.de (Christian Rath)zdf.de (Christoph Schneider) und LTO berichten.

Marlene Grunert (FAZ) lobt die Entscheidung. Eine Kennzeichnungspflicht stärke die rechtsstaatliche Kontrolle, der Rechtsstaat dürfe die "Transparenz nicht fürchten". Auch Christian Rath (taz) begrüßt den Beschluss, der die "Entwicklung hin zu einer bürgerfreundlichen Polizei" stärke. Polizist:innen müssten mit einem Namensschild zwar ihren Namen preisgeben - aber das entspreche dem Bild einer nahbaren und menschlichen Polizei, die beim Streifendienst ja auch ihr Gesicht zeige und nicht vermumme.

Rechtspolitik

Cannabis: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) möchte mit einem wissenschaftlichen Gutachten belegen, dass durch die Legalisierung von Cannabis eine Eindämmung des Schwarzmarktes und ein besserer Kinder- und Jugendschutz erreicht werden kann. Dies soll die EU-Kommission vom geplanten deutschen Weg überzeugen. Der Gesetzentwurf zur Legalisierung soll Ende des ersten Quartals 2023 fertig sein und sodann der EU-Kommission vorgelegt werden. In der zweiten Hälfte des Jahres 2023 könnte der Gesetzentwurf bereits im Bundestag diskutiert werden. Hbl (Christoph Herwart u.a.) und LTO berichten.

Dokumentation der Hauptverhandlung: Die Welt (Constantin van Lijnden) analysiert ausführlich den Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zur audio-visuellen Dokumentation der Hauptverhandlung in Strafprozessen. Dass die Dokumentation in der Revision nicht benutzt werden darf, mute sinnwidrig an und sei nur mit dem egoistischen Interesse der Richterschaft zu erklären, die bei ihrer Arbeit nicht kontrolliert werden will. Zwar gebe es auch die Sorge, dass Verteidiger:innen das Revisionsverfahren mit letztlich unmaßgeblicher Detailkritik überfrachten, dies könne aber durch eine Beschränkung auf eindeutige und gravierende Fälle verhindert werden.

IMK – Vorratsdatenspeicherung: Auf der Konferenz der Innenminister:innen (IMK), die am heutigen Mittwoch beginnt, möchten Unions-Minister:innen und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erneut die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen einfordern. Die nach dem EuGH-Urteil von September "verbleibenden Spielräume" sollen genutzt werden, so die taz (Konrad Litschko).

Corona – Pflege-Impfpflicht: Der SWR-RadioReportRecht (Fabian Töpel/Claudia Kornmeier) bilanziert die zum Jahresende auslaufende einrichtungsbezogene Impfpflicht.

Kriegsverbrechen in der Ukraine: Die Justizminister:innen der G7-Staaten vereinbarten eine bessere Koordination der Ermittlungen zu den in der Ukraine verübten Kriegsverbrechen. Um Beweismaterial zu sichern und Doppelarbeit zu vermeiden, soll in jedem G7-Staat eine Kontaktstelle eingerichtet werden. Zudem unterstützen die G7-Staaten die Einrichtung eines Sondertribunals zur Verfolgung russischer Verbrechen in der Ukraine. SZ (Constanze von Bullion), FAZ (Johannes Leithäuser)taz (Tanja Tricarico) und LTO berichten.

Libra (Hendrik Wieduwilt) erläutert, wie schwer es ist, das Verbrechen der Aggression vor Gericht zu bringen.

Holodomor: An diesem Mittwoch soll im Bundestag darüber abgestimmt werden, ob der Holodomor, der Hungertod von drei bis sieben Millionen Ukrainer:innen unter dem stalinistischen Regime in den 1930er Jahren, als Völkermord anerkannt wird, so taz (Stefan Reinecke) und Tsp (Yulia Valova)

Ronen Steinke (SZ) begrüßt den Vorstoß. Mit der Anerkennung als Völkermord "bekräftigt Deutschland offiziell, dass es schon sehr lange ein eigenständiges ukrainisches Volk gibt". Hingegen kritisiert Stefan Reinecke (taz),
dass das "Triggerwort Völkermord" genutzt werde, um "für Aufmerksamkeit zu sorgen und größtmöglichen Abscheu zum Ausdruck" zu bringen.

Justiz

BGH zu Schlecker-Insolvenz: Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt/M. auf, das einen Kartellschadensersatz im Schlecker-Insolvenzverfahren verneint hatte. Der Insolvenzverwalter hatte zuvor Schadensersatz von großen Drogerieartikelherstellern verlangt, weil deren Absprache dazu führte, dass Schlecker überhöhte Preise zahlen musste und der Drogeriemarktkette so ein Schaden in Höhe von mehr als 200 Millionen Euro entstanden sei. Das OLG muss nun neu entscheiden und dabei dem Erfahrungssatz, dass ein Informationsaustausch der Anbieter zu höheren Preisen führt, in der Gesamtwürdigung ein höheres Gewicht zumessen. Die FAZ (Marcus Jung/Gustav Theile), LTO und spiegel.de berichten.

EGMR zu "schwarzer Liste" für Lehrkräfte: Hessen darf eine "schwarze Liste" mit Lehrkräften führen, die nicht mehr an Schulen arbeiten sollen, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Zwar werde durch eine solche Liste teilweise in die Meinungsfreiheit der betreffenden Lehrkraft eingegriffen. Dies sei jedoch durch den Schutz der Demokratie gerechtfertigt, wie hessenschau.de (Ann-Kathrin Jeske) schreibt. Auf der hessischen Liste stehen derzeit 145 Personen, die aus politischen Gründen als ungeeignet gelten oder weil sie sich Schüler:innen sexuell genähert haben. Geklagt hatte eine rechtsextremistische Lehrerin.

LG Baden Baden zu Mord an Sechsjähriger: Das Landgericht Baden Baden verurteilte einen 34-Jährigen wegen Mordes, der Störung der Totenruhe, versuchter Brandstiftung mit Todesfolge, gefährlicher Körperverletzung sowie Sachbeschädigung zu lebenslanger Haft. Der Mann hatte die sechsjährige Spielplatzfreundin seines Sohnes getötet, verstümmelt und anschließend versucht, zur Beweisvertuschung das Haus anzuzünden, in dem sich noch andere Personen befanden. Die FAZ (Rüdiger Soldt)spiegel.de (Julia Jüttner) und focus.de berichten.

LG Berlin zu Aussagen von Jerôme Boateng: Das Landgericht Berlin hat den Fußballspieler Jerôme Boateng zur Unterlassung von Aussagen verurteilt, wonach seine ehemalige Partnerin Kasia Lenhardt "Lügen" über ihn verbreitet habe. Kasia Lenhardt hatte sich im Februar 2021, eine Woche nach einem Interview von Boateng, das Leben genommen. Die Besonderheit in dem Unterlassungsurteil liegt darin, dass das Gericht das postmortale Persönlichkeitsrecht einer jungen Frau bejahte, bei der es – anders als beispielsweise bei Gustaf Gründgens im Mephisto-Beschluss – "noch gar kein verfestigtes Lebensbild gibt", so die SZ (Wolfgang Janisch). Auch zeit.de (Sarah Lena Grahn) berichtet.

AG Berlin-Tiergarten zu Reichstagskrawallen: Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten hat einen 28-Jährigen wegen Landfriedensbruch zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. Der Mann hatte im August 2020 Polizeisperren am Bundestag beseitigt und gerufen "Lasst uns stürmen", woraufhin andere Menschen die Treppen des Reichstags hinaufliefen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die taz (Timm Kühn)LTO und Tsp (Julius Geiler) berichten.

LG Potsdam – Horst Mahler: Der ehemalige RAF-Anwalt und heutige Rechtsextremist Horst Mahler muss sich seit Dienstag vor dem Landgericht Potsdam wegen Volksverhetzung und Holocaustleugnung verantworten, wie spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet. Mahler verbreite fanatischen Judenhass und gehe von einer ganz großen Weltverschwörung aus. Gegen den 86-Jährigen liegen sechs Anklagen vor. 

LG Göttingen – Femizid oder Unfall: Die Staatsanwaltschaft fordert vor dem Landgericht Göttingen eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes für Cemal A., der seine Frau erschossen hat. Er sagt, es sei ein Unfall gewesen, weil sich beim Waffenreinigen ein Schuss löste, er sei auch betrunken gewesen. Eine Initiative fordert die Anerkennung der Tat als Femizid. taz-nord (Katja Spigiel) berichtet ausführlich.

LG Braunschweig – Maddie-Verdächtiger: Nachdem die Staatsanwaltschaft im Oktober Anklage gegen einen 45-Jährigen erhob, der auch im Fall Maddie verdächtig ist, erließ nun das Landgericht Braunschweig einen entsprechenden Haftbefehl. Der Mann wird dringend verdächtigt, fünf Sexualstraftaten im Zeitraum von 2000 bis 2017 in Portugal begangen zu haben, wo im Mai 2007 auch das dreijährige britische Mädchen Maddie verschwand. Aktuell sitzt der Verdächtige noch eine Haftstrafe in Portugal ab, sodass ein Strafverfahren in Deutschland frühestens im kommenden Jahr starten kann. LTO und bild.de (Kai Feldhaus) berichten.

LG Itzehoe – KZ-Sekretärin Stutthoff: Im Strafprozess gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard Furchner vor dem Landgericht Itzehoe appellierte die Nebenklage an die Angeklagte, eine Aussage vorzunehmen und Reue zu zeigen. Irmgard F. ist der Beihilfe zum Mord in zehntausenden Fällen angeklagt. taz (Klaus Hillenbrand) und spiegel.de (Fabian Hillebrand) berichten.

Recht in der Welt

Polen – Richter Igor Tuleya: Nachdem die umstrittene Disziplinarkammer des Obersten Gerichts in Polen im November 2020 zunächst die Immunität des regierungskritischen Richters Igor Tuleya aufhob und ihm untersagte, an Verfahren mitzuwirken, wurde die Entscheidung nun von einer neuen Kammer zurückgenommen. Die Disziplinarkammer wurde im Juli auf Druck der EU-Kommission und des EuGH abgeschafft. LTO und spiegel.de (Alexander Sarovic) berichten.

Russland – Oppositioneller Ilja Jaschin: Der russische Oppositionspolitiker Ilja Jaschin steht wegen der "Verbreitung wissentlich falscher Informationen" über Russlands Militär in Moskau vor Gericht. In einem Livestream auf YouTube hatte Jaschin im April von der Gewalt russischer Soldat:innen in Butscha berichtet, meldet die FAZ (Friedrich Schmidt).

USA – Balenciaga: Das Modeunternehmen Balenciaga reichte am Freitag beim New York State Supreme Court eine Klage gegen eine Produktionsfirma und einen Set-Designer ein. Diese hatten für eine von Balenciaga beauftragte Werbekampagne, auf der Kinder mit Teddybären und lederner Fetisch-Bekleidung zu sehen waren, Dokumente aus einem Kinderpornografie-Fall verwendet. Für den Imageschaden möchte Balenciaga nun eine Entschädigung in Millionenhöhe erhalten, wie die FAZ (Maria Wiesner) berichtet.

Sonstiges

Authentizität im Anwaltsberuf: Im Interview mit LTO-Karriere (Franziska Kring) erklärt Mentaltrainerin und Rechtsanwältin Claudia Philipp, warum mehr Authentizität von Jurist:innen wichtig ist und wie sie authentischer sein können. Jurist:innen seien "leistungsfähiger, wenn sie ihre Energie nicht damit verschwenden müssen, Dinge zu unterdrücken". Auch zur Vorbeugung psychischer Krankheiten sei mehr Authentizität hilfreich.

Mastodon: Die studentische Hilfskraft Lena Hinrichs und Rechtsprofessor Matthias Kettemann diskutieren auf LTOob das Netzwerk Mastodon eine taugliche Alternative zu Twitter ist. Mastodon ist dezentral aufgebaut und setzt sich aus unterschiedlichen Servern (Instances) zusammen, die unterschiedliche Moderationsregeln haben. Nutzer:innen können selbst den für sie passenden Server wählen. Moderationsentscheidungen zu Inhalten fehle es teilweise an Transparenz, so die Autor:innen. Ihr Fazit: als "Experimentierraum für demokratische Diskurse" hat Mastodon noch einige Herausforderungen im Bereich Datenschutz und Privatsphäre zu meistern.

Entlohnung in Behindertenwerkstätten: Auf dem JuWissBlog erläutert der Doktorand Yannick Schuhmacher die rechtliche Ausgangssituation der Beschäftigung in Behindertenwerkstätten und äußert verfassungsrechtliche Bedenken an der geringen Entlohnung. Die derzeitige Rechtslage erscheine "nur schwer mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unter Berücksichtigung von Art. 27 Abs. 1 Satz 1 UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar".

Das Letzte zum Schluss

Betrunkener spielt Schaffner: Am Montagmorgen forderte ein Betrunkener eine Mitreisende auf, ihre Fahrkarte zu zeigen. Als diese sich weigerte, rief der Betrunkene die Polizei und wollte die vermeintliche Schwarzfahrerin anzeigen. Die Polizei wiederum nahm stattdessen den Betrunkenen für eine Kontrolle mit, so spiegel.de.

 

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LTO/lh

(Hinweis für Journalist:innen)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. November 2022: BVerfG zu Polizei-Namensschild / Lauterbach bestellt Cannabis-Gutachten / BGH zu Schlecker-Insolvenz . In: Legal Tribune Online, 30.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50323/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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