Die juristische Presseschau vom 15. November 2022: Busch­mann vs. Refe­rats­lei­terin / Neue Org­an­klage der AfD / Frei­spruch für Kli­maak­ti­vist

15.11.2022

Justizminister Buschmann greift im Streit um die Vorratsdatenspeicherung durch. Die AfD erhebt Organklage gegen Äußerungen von Kanzler Scholz. Das AG Flensburg sah die Baumbesetzung eines Klimaaktivisten durch § 34 StGB gerechtfertigt.

Thema des Tages

Vorratsdatenspeicherung/Buschmann vs. Referatsleiterin: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat nach Angaben der FAZ (Helene Bubrowski/Marlene Grunert) die bisherige Leiterin des Strafverfahrenreferats versetzt, nachdem es zu fachlichen Unstimmigkeiten zwischen ihr und Buschmann bezüglich der Vorratsdatenspeicherung kam. Im Raum stehen "Vorwürfe einer Politisierung fachlicher Arbeit".

Marlene Grunert (FAZ) kommentiert, dass Buschmann "in keinem guten Licht" dastehe, wenn eine fachlich kompetente Referatsleiterin versetzt werde, weil sie sich "nicht politisch reinreden" lasse.

Rechtspolitik

Corona – Maskenpflicht: Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) strebt eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes an. Danach soll die im Fernverkehr der Bahn bundesweit verbindliche Maskenpflicht bis Ende des Jahres auslaufen. Günther beruft sich auf eine Expertenanhörung im Kieler Landtag. Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) äußerte sich gegen die Maskenpflicht in der Bahn. Dagegen wollen die Bundesländer Hamburg und Bremen sowie Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angesichts der steigenden Fallzahlen im Winter die Maskenpflicht beibehalten. Im Nahverkehr ist die Maskenpflicht nur eine Option, hier können die Länder selbst entscheiden. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) setzt sich dennoch für ein einheitliches Vorgehen der Bundesländer ein. SZ (Rainer Stadler), taz 
und spiegel.de berichten. 

Corona – Triage: Im Interview mit der taz (Manuela Heim) kritisiert der niedersächsische Landtagsabgeordnete Constantin Grosch (SPD) die am Donnerstag im Bundestag beschlossene Regelung zur Verteilung zu knapper intensivmedizinischer Ressourcen im Pandemiefall. Das entscheidende Kriterium, die "aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit", gehe zu Lasten von Behinderten, entweder weil diese aufgrund von Begleiterkrankungen tatsächlich eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit haben oder weil Ärzt:innen dies aufgrund von Vorurteilen falsch prognostizieren. Grosch hält den "utilitaristischen Ansatz, dass die Menge der Überlebenden wichtiger sei als der einzelne Fall" für falsch. 

Geldwäsche/Bargeldobergrenze: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will Bargeldzahlungen auf 10.000 Euro begrenzen. Sie will damit eine Empfehlung der bei der OECD angesiedelten Financial Action Task Force zur Bekämpfung der Geldwäsche umsetzen. Die FDP spricht sich gegen eine Bargeldobergrenze aus, um die Privatsphäre der Bürger:innen zu schützen. Auch Bayerns Finanzminister Albert Füracker (CSU) hält eine Bargeldobergrenze für verfassungswidrig, so die SZ (Markus Balser/Meike Schreiber)

Mietrecht/CO2-Abgabe: Das vorige Woche im Bundestag beschlossene Kohlendioxidaufteilungsgesetz sieht vor, dass die sukzessiv steigende CO2-Abgabe für Gas- und Ölheizungen ab dem 1. Januar 2023 zwischen Vermieter:innen und Mieter:innen aufgeteilt wird. Im Interview mit der Welt (Michael Höfling) erläutert der baupolitische Sprecher der FDP, Daniel Föst, die neue Regelung.

Justiz

BVerfG – Neutralitätspflicht Kanzler Scholz: Die AfD hat beim Bundesverfassungsgericht eine Organklage gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eingereicht, wie FAZ und spiegel.de schreiben. Zum einen sehe die AfD die staatliche Neutralitätspflicht von Exekutivorganen verletzt, weil der Bundeskanzler die AfD im Juli während einer Regierungsfragestunde als "die Partei Russlands" bezeichnete. Zum anderen sieht sich die Partei in ihrem Fragerecht aus Art. 38 GG verletzt, weil Scholz die Frage eines AfD-Abgeordneten zu Nord Stream 2 nicht sachlich beantwortet habe.

AG Flensburg zu Klimaprotest/rechtfertigender Notstand: Das Amtsgericht Flensburg sprach vor einer Woche einen Baumbesetzer vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs frei, da ein rechtfertigender Notstand (§ 34 Strafgesetzbuch) vorliege. Die Richterin entschied in der Interessenabwägung zugunsten des Aktivisten, der gegen die Zerstörung städtischen Waldes durch ein Hotelprojeit protestiert hatte. Sein Ziel, diesen Wald zu schützen, wiege schwerer als das Interesse der Investoren. Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil bereits Sprungrevision eingelegt. Die Doktorandin Jana Wolf bespricht auf dem Verfassungsblog das "überraschende Urteil", mit dem erstmals in Deutschland Klima-Aktivismus als Rechtfertigungsgrund anerkannt worden sei. Sie hält das Flensburger Urteil für richtig.

BGH zu Schweigerecht: Der Rechtsreferendar Lukas Zeyher setzt sich auf LTO mit einer Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf aus dem Sommer 2021 und der erfolglosen Revision vor dem Bundesgerichtshof im Dezember 2021 auseinander, in der es um die Verwertbarkeit von Aussagen von Angeklagten geht. Zeyher kritisiert, dass das "teilweise Schweigen" von Angeklagten auch zu ihrem Nachteil gewertet werden darf. Insbesondere in Hinblick auf den im Strafrecht geltenden nemo-tenetur-Grundsatz sei dies problematisch, so Zeyher.

OLG Düsseldorf zu Rossmann/Kaffeekartell: Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte die Dirk Rossmann GmbH wegen Beteiligung an einem Kaffeekartell zu einer Geldbuße in Höhe von 20 Millionen Euro, so spiegel.de und focus.de. Zunächst hatte das Bundeskartellamt eine Geldbuße in Höhe von knapp fünf Millionen Euro gegen Rossmann verhängt, woraufhin die Drogeriekette Klage erhob. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

VG Gießen zu Waffenbörse: Die Waffenbörse "WBK International" darf in Gießen stattfinden, so das Verwaltungsgericht Gießen in einem Beschluss vom 11. November. Die Stadt Gießen hatte die Durchführung zunächst untersagt, weil sie den Verkauf von illegalen Waffen und von NS-Devotionalien befürchtete. Dagegen ging der Veranstaltung per Eilrechtsschutz vor. Wie LTO berichtet, entschied das Verwaltungsgericht Gießen nun zugunsten des Veranstalters, dass aufgrund der in § 1 Gewerbeordnung und Art. 12 GG geschützten Gewerbefreiheit ein Anspruch auf Durchführung der Waffenbörse bestehe.

AG Berlin-Tiergarten zu Dieter Wedels Ex-Freundin: Der Regisseur Dieter Wedel, gegen den vor seinem Tod wegen Vergewaltigung einer Schauspielerin ermittelt wurde, hatte noch zu Lebzeiten seine Ex-Freundin Dominique Voland wegen versuchter Erpressung angezeigt. Nun sprach das Amtsgericht Berlin-Tiergarten Voland frei. Wedel habe die vermeintliche Erpressung mit zwei Mittäter:innen erfunden. spiegel.de (Julia Jüttner) und Bild (Stephan Kürthy) berichten. 

AG München zu Klimaprotest/Präventivhaft: Das AG München hat bekanntgegeben, dass es bisher in 33 Fällen den von der Polizei verhängten Gewahrsam von bis zu 30 Tagen nach Art. 17 des bayrischen Polizeiaufgabengesetzes gegen Klima-Aktivist:innen bestätigt hat. LTO berichtet. 

AfD-Beobachtung vor Gericht: Nachdem Verwaltungsgerichte in Hessen und Bayern im Oktober die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz vorerst gestoppt hatten, um die Chancengleichheit im Landtagswahlkampf sicherzustellen, erinnert die SZ (Ronen Steinke) an die Begründung des Verwaltungsgerichts Köln, das im März dem Bundesamt für Verfassungsschutz erlaubte, die AfD als "Verdachtsfall" einzustufen und zu beobachten. Danach verstößt die Verwendung eines  "völkisch-abstammungsmäßigen Volksbegriffs" durch die AfD gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung. Mitte nächsten Jahres sei die zweitinstanzliche Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster zu erwarten.

BVerfG – Pressearbeit: Nun schreiben auch Welt (Frederik Schindler) und LTO (Hasso Suliak) über die Kritik des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages an der Vorabinformation für Mitglieder des Vereins Justizpressekonferenz (JPK) durch das Bundesverfassungsgericht. Eine Klage der AfD gegen die Vorabinformation vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe wurde bereits im August mangels Klagebefugnis abgewiesen. Inzwischen hat die AfD jedoch beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Auf eine parlamentarische Anfrage der AfD hin lehnte die Bundesregierung eine Bewertung der Pressepolitik des BVerfG ab, das Gericht unterliege keiner Aufsicht durch die Bundesregierung.

BVerwG-Präsident Andreas Korbmacher im Interview: Im Interview mit beck-aktuell (Joachim Jahn) spricht der neue Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Andreas Korbmacher, unter anderem über die Belastung der Gerichte, Gesetzesreformen zur Verfahrensbeschleunigung und die Streitkultur in Deutschland.

Recht in der Welt

Iran – Prozesse gegen Demonstrierende: Im Iran wurde das erste Todesurteil gegen einen Demonstranten gesprochen, wie LTO berichtet. Bislang wurden fast 15.000 Demonstrierende im Laufe der aktuellen Proteste - ausgelöst durch den Tod der iranischen Kurdin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam - festgenommen, so spiegel.de. Weitere mehr als 1.000 Demonstrierende wurden seither vor den Revolutionsgerichten angeklagt. Die taz (Lotte Laloire) schreibt über die Verhaftung iranischer Journalistinnen, die über den Tod Mahsa Aminis berichtet hatten und denen nun auch die Todesstrafe droht.

Niederlande – Abschuss Flug MH17: Am Donnerstag wird ein Amsterdamer Strafgericht ein Urteil im Fall der 2014 im ukrainischen Luftraum abgeschossenen Boeing 777 sprechen, die unter der Flugnummer MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur fliegen sollte. Angeklagt sind drei russische und ein ukrainischer Staatsbürger. Die taz (Tobias Müller) beschreibt den bisherigen Prozessverlauf.  

Bahamas – Kryptobörse FTX: Nachdem die Kryptobörse FTX Insolvenz anmeldete, nimmt nun die Polizei der Bahamas Ermittlungen auf. Im Raum steht der Verdacht der Veruntreuung von Kundengeldern, so spiegel.de.
In Reaktion auf den Absturz der Kryptobörse FTX forderte Bafin-Chef Mark Branson entweder härtere Regulierungen der Krypto-Anbieter oder einen "sehr, sehr starken Schutzwall", wie das Hbl (Philipp Sandner) berichtet.

Juristische Ausbildung

Jumiko – Jura-Bachelor: LTO-Karriere (Pauline Dietrich) beschreibt die Reaktionen der rechtswissenschaftlichen Fachschaften auf die weitgehend ergebnislose Diskussion der Justizministerkonferenz über die Einführung eines integrierten Jura-Bachelors. Der Bundesverband rechtswissenschaftlicher Fachschaften (BRF) kritisiert, dass bislang nichts eingeführt wurde und sieht die Gefahr eines "Standortkampfes der Fakultäten", sollten die Länder nicht gemeinsam Reformvorschläge angehen. Indes begrüßen der BRF und die Landesfachschaft NRW, dass die Justizministerkonferenz die Relevanz der Reform des Jurastudiums erkannt habe. 

Sonstiges

Klimaproteste/Nötigung im Amt: Rechtsanwalt Patrick Heinemann schlüsselt auf LTO auf, welches polizeiliche Handeln gegen Klimaaktivist:innen polizeirechtlich rechtmäßig ist. Anlass ist die Drohung eines Berliner Polizisten gegenüber einer Straßenblockiererin der Gruppe "Letzte Generation", er werde einen "Handbeugehebel" anwenden, der "unfassbare Schmerzen" auslöse. Zwar ist ein durch die Polizei ausgesprochener Platzverweis zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit grundsätzlich rechtmäßig, so Heinemann. Probleme ergäben sich jedoch bei der Vollstreckung des Platzverweises durch unmittelbaren Zwang, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt wird. Im vorliegenden Fall wäre es verhältnismäßig gewesen, die Aktivistin wegzutragen, anstatt ihr die Anwendung schmerzhafter Gewalt anzudrohen. Denkbar sei daher nach Heinemann sogar eine Strafbarkeit des Berliner Polizisten wegen (versuchter) Nötigung im Amt gemäß § 240 Abs. 1 und 4 Nr. 2 Strafgesetzbuch.

BKartA zu Amazon: Das BKartA möchte zwei laufende Verfahren gegen Amazon nach § 19a des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen erweitern, so LTO.  Im ersten Verfahren geht es um den Einsatz von Algorithmen, die auf der Marketplace-Plattform von Amazon zur Kontrolle der Preissetzung durch Dritthändler:innen verwendet werden. Das zweite Verfahren betrifft das sogenannte Brandgating, also die mögliche Benachteiligung von Händler:innen durch Vereinbarungen zwischen Amazon und (Marken-)Herstellern.

 

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LTO/lh

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 15. November 2022: Buschmann vs. Referatsleiterin / Neue Organklage der AfD / Freispruch für Klimaaktivist . In: Legal Tribune Online, 15.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50173/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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