Die juristische Presseschau vom 15. September 2022: EGMR zu IS-Rück­holpf­licht / EuG zu Google-Buß­geld / Pro­zess­be­ginn zu "Boys­town"

15.09.2022

Französische IS-Frauen haben keinen Anspruch darauf, dass sie aus Syrien zurückgeholt werden. Google hat Herstellern von Android-Geräten wettbewerbswidrige Beschränkungen auferlegt. LG Frankfurt/M. verhandelt über Kinderporno-Plattform.

Thema des Tages

EGMR/Frankreich - Rückholung von IS-Anhänger:innen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass Frankreich nicht verpflichtet ist, französische IS-Anhänger:innen aus Syrien zurückzuholen. Allerdings muss Frankreich die Ablehnung von Rückholungen begründen und eine unabhängige Überprüfung der Entscheidungen sicherstellen, um Willkür auszuschließen. Zwei Großelternpaare hatten geklagt und gefordert, dass ihre Töchter und Enkelkinder aus einem kurdischen Camp in Nordsyrien zurückgeholt werden sollen, wo sie seit der Niederlage des IS interniert sind. Der EGMR hat die Entscheidung mit Artikel 3 Absatz 2 Zusatzprotokoll Nr. 4 begründet, wonach niemand daran gehindert werden darf, in das Hoheitsgebiet seines Heimatlandes einzureisen. Frankreich muss die Anträge der Großeltern nun neu bescheiden. Es berichten taz (Christian Rath), LTO (Markus Sehl) und spiegel.de.

Rechtspolitik

Sanktionen: Die SZ (Jan Diesteldorf/Meike Schreiber/Markus Zyndra) berichtet über einen noch nicht final abgestimmten Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein zweites Sanktionsdurchsetzungsgesetz (SDG II), das den Sanktionen gegen russische Oligarchen wegen Unterstützung des Angriffs auf die Ukraine mehr Durschlagskraft geben soll. Geplant sind unter anderem eine neue Zentralstelle für die Sanktionsdurchsetzung, ein Register verdächtiger Vermögen und ein neues Verwaltungsverfahren, das das Auffinden sanktionierter Personen erleichtern soll.

Justiz

EuG zu Google/Android: Das Gericht der Europäischen Union hat entschieden, dass Google eine Wettbewerbsbuße in Höhe von 4,1 Milliarden Euro zahlen muss. Das EuG hat damit die bereits 2018 durch die EU-Kommission verhängte Geldbuße nur leicht gemindert. Es bleibt aber das höchste je verhängte Bußgeld in einem Wettbewerbsfall. Dem Konzern sei zurecht vorgeworfen worden, den Herstellern von Android-Geräten und den Betreibern von Mobilfunknetzen rechtswidrige Beschränkungen auferlegt zu haben. Unter anderem wurden die Hersteller, die Google-Dienste einbinden wollten, gezwungen, immer ein komplettes Paket aus Google-Apps, Suchmaschinen und Webbrowser vorzuinstallieren. Auf diese Weise habe Google seine beherrschende Marktstellung bei lizenzierbaren Betriebssystemen missbraucht. Es berichten SZ (Björn Finke), FAZ (Werner Mussler), taz, Hbl (Nadine Schimroszik), LTO, zdf.de (Max Kolter) und spiegel.de.

LG Frankfurt/M. - Kinderporno-Plattform "Boystown": Am Landgericht Frankfurt/M. hat der Prozess gegen vier Männer begonnen, die die Kinderporno-Plattform "Boystown" betrieben haben sollen. Ihnen wird Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und die Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen. Die Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft umfasst 400 Seiten, für deren Vortrag bereits über fünf Stunden benötigt wurden. Es berichten FAZ (Anna-Sophia Lang) und spiegel.de.

BVerfG – Illegalen-Meldepflicht von Sozialbehörden: Ein 52-jähriger Kosovare, der ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland lebt, hat Verfassungsbeschwerde gegen die in § 87 Aufenthaltsgesetz normierte Meldepflicht von Sozialbehörden eingelegt. Diese müssen illegale Ausländer der Ausländerbehörde melden, wenn sie die Kostenübernahme für eine medizinische Behandlung beantragen. Diese Meldepflicht hindere den Kosovaren an einer notwendigen Herzoperation, weil er bei Beantragung eines Behandlungsscheins mit seiner Abschiebung rechnen müsste. Die Meldepflicht verstoße gegen seine Grundrechte auf das "gesundheitliche Existenzminimum" und auf informationelle Selbstbestimmung. Die hessischen Verwaltungsgerichte hatten sich bisher nicht inhaltlich mit seiner Klage befasst, weil er dort aus ähnlichen Gründen seinen Namen nicht angeben wollte. Vor dem BVerfG rügt er deshalb auch eine Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz. Es schreibt die taz (Christian Rath).

BAG zu Arbeitszeiterfassung: Nun berichten auch SZ (Benedikt Peters), taz (Christian Rath) und LTO über die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, wonach Unternehmen verpflichtet sind, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden zu erfassen. Laut der Arbeitgebervereinigung BDA habe das Gericht den Anwendungsbereich des Arbeitsschutzgesetzes "überdehnt" und eine überstürzte und nicht durchdachte Entscheidung getroffen. Beschäftigte und Unternehmen würden ohne gesetzliche Konkretisierung überfordert werden, so der BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) begrüßt hingegen die Entscheidung und fordert, dass das Urteil "rasch umgesetzt" werden müsse. Eine genaue Erfassung "stärke die Rechte von Arbeitnehmer:innen". Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) prüft das Urteil noch, arbeitet aber schon an einem Gesetzentwurf.

FAZ (Nadine Bös/Corinna Budras/Tillmann Neuscheler) und Hbl (Ben Mendelson/Frank Specht) geben in Frage-Antwort-Form einen Überblick zu praxisrelevante Folgen, die mit der Entscheidung einhergehen. In einem Interview mit spiegel.de (Florian Gontek) erläutert Rechtsprofessor Michael Fuhlrott, dass bisher nur eine "dünne" Pressemitteilung des BAG vorliege, aus der sich noch nicht ergebe, was die Entscheidung konkret für Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen bedeutet.

Benedikt Peters (SZ) befürchtet, die Entscheidung könne viele Unternehmen in "große Unsicherheit" stürzen. Gleichzeitig appelliert er an Arbeitgeber:innen den "Ärger" nicht auf das Bundesarbeitsgericht, sondern die Bundesregierung zu richten. Durch deren Untätigkeit sei es erst zu einem solchen "Schlamassel" gekommen. So seien drei Jahre vergangen, seitdem der EuGH im Mai 2019 feststellte, dass sich aus der EU-Arbeitszeit-Richtlinie eine Zeiterfassungspflicht ergebe, die die EU-Staaten umzusetzen und auszugestalten haben.

BAG zu Leiharbeit: Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass in einem Tarifvertrag eine Überlassungszeit für Leiharbeiter vereinbart werden kann, die von der gesetzlich zulässigen Höchstdauer von 18 Monaten abweicht. Sie gilt dann ebenso für Leiharbeiter und Verleiher, die nicht tarifgebunden sind. Das Festlegen einer branchenspezifischen Überlassungszeit sei sowohl mit dem Grundgesetz als auch mit EU-Recht vereinbar, so das Gericht. Dies schreibt die FAZ (Katja Gelinsky).

BGH zu Luke Mockridge: Nun berichtet auch zdf.de (Anne Stein) über die erfolglose Klage des Comedian Luke Mockridge gegen öffentliche Spekulationen im Jahr 2018 über eine Beziehung mit seiner Kollegin Ines Anioli.

OLG Hamburg zu Rapper Gzuz: Das Oberlandesgericht Hamburg hat die Revision des Rappers GZUZ gegen ein Urteil des Landgerichts Hamburg verworfen, es gebe keine Rechtsfehler zu seinem Nachteil. Das Landgericht Hamburg hatte den 33 Jahre alten Frontmann der Hip-Hop-Gruppe "187 Strassenbande" wegen Körperverletzung, einem Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz und zweimaliger Verletzung des Waffengesetzes zu acht Monaten und zwei Wochen Haft sowie der Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 414.000 Euro verurteilt. Dies meldet LTO.

OVG SH zu Protestcamp auf Sylt: Nun berichtet auch die SZ über die Entscheidung des schleswig-holsteinischen Oberverwaltungsgerichts, die Verfügung zur Auflösung eines Sylter Protestcamps von Punks nicht zu beanstanden.

VG Berlin – Corona-Pandemiepolitik/Protokolle: Die Bundesregierung muss die Protokolle der Bund-Länder-Treffen aus der Lockdown-Zeit im Frühjahr 2020 herausgeben. Das Bundeskanzleramt hat seine Berufung gegen ein entsprechendes Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zurückgenommen, wie der Tsp (Jost Müller-Neuhof) berichtet. Der Tagesspiegel hatte unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) auf Herausgabe der Protokolle geklagt. Die Bundesregierung hatte die Befürchtung geäußert, das Bekanntwerden der Protokolle in der Öffentlichkeit könne zu einer "ungewollten Dynamik" führen. Das VG Berlin argumentierte, es habe sich nicht um einen "Dauer-Beratungsprozess" gehandelt, der besonderen Schutz erfordert hätte.

LG Berlin zu nackten Brüsten im Schwimmbad: Das Landgericht Berlin hat im Streit um den nackten Oberkörper einer Frau im Berliner Schwimmbad "Plansche" entschieden, dass die 38-jährige Französin keinen Anspruch auf eine Entschädigung hat und damit ihre, auf das Landesantidiskriminierungsgesetz Berlin gestützte, Klage abgewiesen. Die schriftlichen Gründe der Entscheidung liegen noch nicht vor. Es berichten SZ (Verena Mayer), LTO und spiegel.de (Wiebke Ramm).

LG Düsseldorf zur Tötung eines Coronapatienten: Das Landgericht Düsseldorf hat eine 41-jährige Krankenschwester wegen versuchten Totschlags zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt und ihr ein Berufsverbot von vier Jahren auferlegt. Ihr wurde vorgeworfen, die Medikamentendosis eines Coronapatienten halbiert zu haben, um das Leiden des 52-jährigen Intensivpatienten zu verkürzen, der später starb. Zwar habe sie aus Mitleid gehandelt, sich aber gleichzeitig über die klare Weisung des Oberarztes hinweggesetzt, so das Gericht. spiegel.de berichtet.

LG Köln – Serienmorde mit Thallium: Am 19. September beginnt vor dem Landgericht Köln der Prozess gegen einen Krankenpfleger wegen zweifachen Mordes, eines Mordversuchs und versuchten Schwangerschaftsabbruchs. Ihm wird vorgeworfen, seine Ehefrau, seine nachfolgende Lebenspartnerin sowie deren Großmutter mit Thallium vergiftet zu haben. Die Zeit (Hariett Drack) berichtet ausführlich über den Fall.

GBA - NSU-Helfer:innen: Der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen gegen fünf Personen eingestellt, die verdächtigt wurden, der rechten Terrorgruppe NSU geholfen zu haben. Nun laufen noch Ermittlungen gegen vier weitere mögliche NSU-Helfer:innen. Es berichten taz (Konrad Litschko) und spiegel.de. 

Anwaltskosten des BVerfG: Felix W. Zimmermann (LTO) kommentiert die bekannt gewordenen Anwaltskosten in Höhe von 35.528 Euro, die das Bundesverfassungsgericht im Rechtsstreit mit der Bild-Journalistin Lydia Rosenfelder ausgegeben hatte. Seiner Meinung nach sei die Investition in die Abwehr einer Journalistenanfrage in dieser Höhe "vergeblich, teuer und blamabel". Der Anwalt der Journalistin habe nur ein Siebtel dieser Summe erhalten. Der bisher bekannte Aufwand für den Rechtsstreit mit der Journalistin sei überschaubar gewesen. Die Begründung des Gerichts, man habe am Bundesverfassunsgericht keine Ressourcen für eine Eigenvertretung vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe gehabt, sei fragwürdig. Laut Zimmermann hätte der klar bestehende Auskunftsanspruch einfach erfüllt werden sollen.

Recht in der Welt

EU/Ungarn - Rechtsstaatlichkeit: Nach Informationen von spiegel.de (Markus Becker) wird die EU-Kommission dem EU-Ministerrat vorschlagen, Ungarn im Rahmen des neuen finanziellen Sanktionsmechanismus für Rechtsstaatsverstöße rund ein Fünftel der zustehenden EU-Fördergelder zu streichen. Haushaltskommissar Johannes Hahn hatte ursprünglich eine 70-prozentige Kürzung angedroht, aber Ungarn habe seit Juli Reformen zur Rechtsstaatslage versprochen. 

Ungarn – Abtreibungsrecht: Nun berichten auch FAZ (Stephan Löwenstein) und taz (Ralf Leonhard) darüber, dass in Ungarn Ärzte im Rahmen der Beratungspflicht für abtreibungswillige Frauen diesen "die Lebensfunktionen des Embryos" zur Kenntnis bringen müssen.

USA – Abtreibungsrecht: Wie LTO und spiegel.de berichten, möchten die US-Republikaner Abtreibungen in den gesamten USA per Gesetz beschränken. Hierzu hat der Senator Lindsey Graham kurz vor den Kongresswahlen einen Gesetzentwurf vorgestellt, der Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Bislang fehlen den Republikanern im Kongress genügend Stimmen für den Vorstoß. Dies könnte sich jedoch nach den Wahlen im November ändern.

Thailand – The Beach: Das oberste Gericht in Bangkok hat das Forstministerium angewiesen, dass der aus dem Film "The Beach" bekannte Strand "Maya Bay", wieder in seinen Originalzustand versetzt werden muss. Dieser musste nach Beendigung der Dreharbeiten des Films wegen sogenanntem "Overtourismus" im Jahr 2018 geschlossen werden, so meldet die SZ (David Pfeifer).

Sonstiges

Energiekrise und Arbeitsrecht: Auf spiegel.de (Florian Gontek) erklärt Rechtsanwalt Ulrich Sittard, welche Folgen die Energiekrise für Unternehmen aus arbeitsrechtlicher Sicht haben kann und was dies für Arbeitnehmer:innen bedeutet. So würden Beschäftigte weiter ihren Lohn erhalten, wenn Unternehmen wegen fehlender Gaslieferungen nicht mehr produzieren können.

Juristischer Arbeitsmarkt: In einem Interview mit LTO-Karriere (Franziska Kring) erläutert Cora Heckelmann, die das Legal Team eines Personalberatungs-Unternehmens leitet, wie sich der Arbeitsmarkt für Jurist:innen unter anderem aufgrund der Corona-Pandemie verändert hat und wie Kanzleien und Unternehmen hiermit umgehen.

Das Letzte zum Schluss

Misslungener Trickbetrug: Wie die SZ berichtet, hat ein 66-Jähriger einen Trickbetrüger dazu veranlasst, ihm 2.000 Euro zu überweisen. Damit legte das eigentlich auserkorene Opfer den Gauner selbst herein. Der Trickbetrüger versprach dem Münchner 80.000 Euro, wenn er einen vierstelligen Betrag für Notarkosten begleiche. Statt das Geld zu überweisen gab dieser jedoch an, nicht so viel zu besitzen. Der Trickbetrüger überwies ihm daher 2.000 Euro als Vorschuss mit der Aufforderung, das Geld in einem Moneyshop an eine bestimmte Anschrift zu überweisen. Der Mann ging stattdessen zur Polizei und erstattete Anzeige.

 

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LTO/ok

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 15. September 2022: EGMR zu IS-Rückholpflicht / EuG zu Google-Bußgeld / Prozessbeginn zu "Boystown" . In: Legal Tribune Online, 15.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49625/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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