Die juristische Presseschau vom 2. Dezember 2021: Impfpf­licht ab Anfang März? / Ver­schärftes EU-Asyl­recht? / Kippt "Roe vs. Wade"?

02.12.2021

Kanzler in spe Olaf Scholz hält eine Impfpflicht für wahrscheinlich. Die EU-Kommission schlägt eine Aufweichung des EU-Asylrechts an der Belarus-Grenze vor. Am US-Supreme Court hat die Verhandlung zum Recht auf Abtreibungen begonnen.

Thema des Tages

Corona – Impfpflicht: Bis spätestens Anfang März 2022 dürfte es in Deutschland eine Impfpflicht gegen das Coronavirus geben, kündigte Kanzler in spe Olaf Scholz an. Im Bundestag werde die Abstimmung über ein entsprechendes Gesetz wahrscheinlich als Gewissensentscheidung freigegeben. Wie genau diese Verpflichtung ausgestaltet werden soll, ist noch offen. Noch im Dezember werde zudem eine einrichtungsbezogene Impfpflicht, etwa für Beschäftigte von Pflegeeinrichtungen, im Bundestag beschlossen, berichtet die SZ (Werner Bartens/Wolfgang Janisch u.a.).

Die FAZ (Rüdiger Soldt) berichtet über ein vom Stuttgarter Staatsministerium in Auftrag gegebenes Gutachten der Anwaltskanzlei Oppenländer, das eine Impfpflicht grundsätzlich für verfassungskonform hält. Es müsse aber Ausnahmen, z.B. für Jugendliche, geben. In einem Gastbeitrag für die FAZ erläutert Rechtsprofessor Ralf Poscher die Vorteile der Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht. "Indem die notwendige Entscheidung in das Recht verlagert wird, werden die anderen Diskurse entlastet. Die Politik müsste Impfskeptiker nicht weiter in die moralische Ecke drängen und versuchen, sie durch Ausgrenzung vom öffentlichen Leben zu stigmatisieren." 

Die FAZ (Reinhard Müller) widmet sich zudem ausführlich der sogenannten Gewissensfrage bei Abstimmungen im Bundestag. 

Corona – 2G: Der Handelsverband Deutschland wehrt sich gegen die diskutierte Einführung der 2G-Regeln für große Teile des Einzelhandels. Eine solche Regelung sei aus Sicht des Verbands rechtswidrig, da sie gegen die Berufsfreiheit der Einzelhändler:innen sowie den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstoße, wie SZ, FAZ (Corinna Budras) und Hbl (Jürgen Klöckner) schreiben.

Rechtspolitik

EU-Asylrecht: Die Europäische Kommission hat angesichts der Lage an der Grenze zu Belarus einen Vorschlag präsentiert, der die Anforderungen an Asylverfahren in Polen, Lettland und Litauen zunächst für sechs Monate reduziert. So solle die Zeit, um einen Asylantrag zu registrieren, von maximal zehn Tage auf vier Wochen verlängert werden. Die Zeit bis zur Entscheidung über einen Asylantrag an der Grenze soll auf 16 Wochen verlängert werden. Solange können Antragsteller:innen in Auffangzentren an der Grenze untergebracht werden. Außerdem sollen Abschiebungen erleichtert werden. Pro Asyl nannte den Vorschlag "zutiefst beunruhigend", auch in der Kommission sei der Vorschlag sehr umstritten gewesen. Es berichten SZ (Florian Hassel/Josef Kelnberger), FAZ (Thomas Gutschker) und LTO.

Straftaten gegen LSBTI und Frauen: Die Innenminister:innenkonferenz wird sich auf Initiative des Berliner Innensenators Geisel mit queer- und frauenfeindlichen Straftaten beschäftigen, wie die taz (Konrad Litschko) schreibt. Geisel fordert unter anderem eine genauere Erfassung von Straftaten gegen Menschen, die zur LSBTI-Community gehören. Auch bei der Erfassung von Straftaten gegen Frauen wollen die Innenminister:innen eine Verbesserung anstreben, etwa durch die Einführung von bundeseinheitlichen Definitionen für Begriffe wie "häusliche Gewalt".

Corona – Triage: In einem Gastbeitrag für die Zeit fordert Rechtsprofessor Tonio Walter eine sofortige gesetzliche Regelung für den Fall, dass zuviele Menschen wegen einer Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt werden müssen. Es müsse ein Kriterium für die Auswahl der zu behandelnden Patient:innen festgelegt werden. Der einzig wirklich gerechte Entscheidungsmechanismus sei dabei ein Losverfahren.

Justiz

BVerfG zur Bundesnotbremse: Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof befasst sich in einem Gastbeitrag für FAZ-Einspruch mit den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse. Aus seiner Sicht hat das Gericht die Struktur eines Grundrechtsschutzes in extremen Notlagen entwickelt. Das Gericht trage durch die Entscheidungen "ein Stück Rechtssicherheit in einen Prozess der Ungewissheit". Dagegen meint die wissenschaftliche Mitarbeiterin Lamia Amhaouach auf dem JuWissBlog, dass die Beschlüsse jegliche Hoffnungen enttäuscht haben. Sie seien vor allem ein klares Signal zur Stärkung der Einschätzungsprärogative der Legislative. Die Zeit (Heinrich Wefing) stellt ebenfalls fest, dass die Richter in Karlsruhe die Freiheit der Politik in den Mittelpunkt ihrer Beschlüsse gestellt hätten.

In einem Gastbeitrag auf LTO erläutert Rechtsprofessor Sebastian Piecha den BVerfG-Beschluss zu Schulschließungen und Distanzunterricht. Das Verfassungsgericht habe aus Art. 2 I i.V.m. Art. 7 des Grundgesetzes ein neues "Recht auf schulische Bildung" entwickelt, dessen Dimensionen und Grenzen der Autor beschreibt.

BGH – Gewerbemiete und Corona: Der Bundesgerichtshof hat über die Frage verhandelt, ob die volle Gewerbemiete gezahlt werden müsse, wenn wegen einer Geschäftsschließung in der Pandemie die Einnahmen eines Einzelhandelsgeschäfts eingebrochen sind. Es zeichne sich ab, dass Einzelhändler:innen nicht auf eine pauschale Halbe/Halbe-Regelung hoffen können, sondern dass wahrscheinlich alle Fälle vor Gericht einzeln genau geprüft werden müssen. Das Urteil soll am 12. Januar verkündet werden. Es berichten SZ, FAZ (Marcus Jung), Hbl (Carsten Herz)tagesschau.de (Kerstin Anabah) und LTO.

BGH – NSU-Helfer Eminger: Am heutigen Donnerstag verhandelt der Bundesgerichtshof über die Revisionen gegen die Verurteilung des NSU-Helfers André Eminger, den das Oberlandesgericht München zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt hatte. Gegen das Urteil hatte nicht nur Eminger, sondern auch die Bundesanwaltschaft, die einst zwölf Jahre angestrebt hatte, Revision eingelegt. Die taz (Konrad Litschko) schildert Emingers Verwicklungen ausführlich. Es ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass umfangreich über den Terror des "Nationalsozialistischen Untergrunds" verhandelt wird. Die Revisionen von Beate Zschäpe und anderen hatte der BGH im August im schriflichten Verfahren abgelehnt.

OLG Hamburg – Parship: Der Verbraucherzentrale Bundesverband hat am Hanseatischen Oberlandesgericht eine Musterfeststellungsklage gegen die Betreiberin der Online-Beziehungsvermittlungsplattform Parship erhoben, da er Vertragsklauseln der Plattform für unwirksam hält, wie LTO (Stefan Schmidbauer) schreibt. Insbesondere verfolge Parship mit den kritisierten Klauseln das Ziel, Kund:innen langfristig in kostenpflichtigen Verträgen zu halten, etwa durch eine zwölfwöchige Kündigungsfrist und automatische Vertragsverlängerungen um ein Jahr. Bei offline erfolgender klassischer Beziehungsvermittlung sei ein jederzeitiges Kündigungsrecht bereits gerichtlich anerkannt.

LG Köln zu Steuerhinterziehung/Felix Sturm: Das Landgericht Köln hat laut spiegel.de die ursprüngliche Strafe des Profiboxers Felix Sturm von drei Jahren Haft auf zwei Jahre und vier Monate verringert. Sturm wurde Steuerhinterziehung, versuchte Steuerhinterziehung und ein Verstoß gegen das Dopinggesetz mit vorsätzlicher Körperverletzung vorgeworfen. Die Strafe fällt geringer aus, da die Höhe des von Sturm verursachten Steuerschadens nach unten korrigiert wurde.

LG Hamburg zu Geldwäsche: Das Landgericht Hamburg hat laut spiegel.de teils lange Haftstrafen für acht Angeklagte in einem Prozess um Geldwäsche in Höhe von knapp acht Millionen Euro verhängt. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass die Angeklagten kleine Scheine aus Drogengeschäften in große Noten umtauschten und das Geld in speziell präparierten Koffern ins Ausland flogen.

VG Berlin zu Maskenpflicht auf Versammlungen: Das Verwaltungsgericht Berlin hat laut spiegel.de entschieden, dass die Polizei bei einer Versammlung einen Platzverweis gegen Personen aussprechen darf, die trotz entsprechender Infektionsschutzregeln keine Maske tragen. Der Kläger hatte Anfang April ohne Maske an einer öffentlichen Versammlung gegen die Coronapolitik vor dem Brandenburger Tor teilgenommen und sich geweigert, eine Maske zu tragen. 

VG Düsseldorf zu Porno-Portalen: Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat einen Verstoß gegen das Jugendmedienschutzgesetz durch mehrere große Pornografie-Portale festgestellt, wie LTO schreibt. Die Webseiten dürften nur mit Altersverifikation zugänglich gemacht werden. Das Gericht wies damit die Anträge von mehreren Gesellschafen mit Sitz in Zypern auf vorläufigen Rechtsschutz gegen ein Verbreitungsverbot durch die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen zurück. Insbesondere sei der deutsche Jugendmedienschutz anwendbar, auch wenn die Internetseiten in einem anderen Staat der Europäischen Union betrieben werden.

StA München I – Cum-Ex/Avana: Laut Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier) steht mehr als sieben Jahre nach dem Beginn der Ermittlungen in der Cum-Ex-Steueraffäre eine Anklage im Fall der Finanzfirma Avana unmittelbar bevor. Die ermittelnde Münchner Staatsanwaltschaft ließ wissen, dass "in einem Fall 89 natürliche Personen als Beschuldigte geführt" werden, ohne jedoch den Namen Avana zu nennen. Ungefähr 220 Millionen Euro Steuern sollen im Rahmen von illegalen Cum-Ex-Geschäften an Avana-Fonds ausgeschüttet worden sein.

Recht in der Welt

USA – Abtreibungen: Das Oberste Gericht der USA befasste sich am gestrigen Mittwoch mit einem Gesetz aus dem Bundesstaat Mississippi, das fast alle Schwangerschaftsabbrüche nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet, wie taz (Dorothea Hahn) und LTO berichten. Da der Supreme Court durch Personalentscheidungen des ehemaligen US-Präsidenten Trump deutlich nach rechts gerückt wurde, scheine die Gefahr, dass das bisher geltende Recht auf Abtreibung ausgehöhlt wird, so groß wie selten zuvor. So könnte der Supreme Court seine Entscheidung Roe v. Wade von 1973 kippen, wonach ein Schwangerschaftsabbruch in den USA bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt ist, also etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche.

Dorothea Hahn (taz) stellt in einem separaten Kommentar fest, dass die Heuchelei der Abtreibungsgegner:innen bis zum Himmel stinke, da sie zugleich "Freiheiten" verteidigten, die nichts mit dem Schutz von Leben zu tun hätten, wie etwa das Recht auf Schusswaffen oder die Todesstrafe. Auch kämpften sie nicht gegen extreme Armut oder eine Krankenversicherung.

Neben dem vom Supreme Court erwarteten Urteil widmet sich die SZ (Karoline Meta Beisel/Oliver Meiler) der unterschiedlichen rechtlichen Lage von Schwangerschaftsabbrüchen in Ländern wie Polen, Malta, Deutschland, China und Frankreich und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Debatten.

Chile – Abtreibungen: Das chilenische Abgeordnetenhaus hat laut taz (Jürgen Vogt) überraschend mit knapper Mehrheit gegen die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gestimmt. Durch das Gesetz sollte der freiwillige Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen legalisiert werden. Die Abstimmung scheiterte unter anderem, da einige Abgeordnete der oppositionellen Mitte-Links-Koalition, unter ihnen der linke Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric, nicht erschienen.

Österreich – Impfpflicht: Mitte November hat die österreichische Regierung verkündet, Anfang Februar 2022 eine allgemeine Covid-Impfpflicht einzuführen, wie die SZ (Cathrin Kahlweit) berichtet. Die österreichische Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte, die Pflicht sei zum allgemeinen Gesundheitsschutz gerechtfertigt. Die FPÖ hat bereits eine Verfassungsklage gegen die Impfpflicht angekündigt, notfalls werde sie auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen.

Österreich – Ischgl/Schadensersatz: Das Landgericht Wien hat Schadensersatzklagen von deutschen Corona-Erkrankten abgewiesen, die sich im März 2020 im Skiort Ischgl angestreckt hatten und dafür das schlechte Corona-Management der österreichischen Regierung verantwortlich machten. Das Gericht argumentierte, dass das österreichische Epidemiegesetz nur die allgemeine Volksgesundheit, nicht aber konkrete Personen schütze, meldet die SZ.

Polen – Justizreform: In einem Gastbeitrag vergleicht der Richter Jan-Robert von Renesse in der FAZ die Regelungen der aktuellen umstrittenen Justizreform in Polen mit der geltenden Rechtslage in Deutschland. Dabei stimmt er mit der Analyse der polnischen PiS-Partei überein, dass es gerade in Bezug auf das politische Weisungsrecht an die Staatsanwaltschaften Überschneidungen mit deutschem Recht gäbe. Dies sei aber vielmehr Anlass für Kritik an der deutschen Rechtslage als Rechtfertigung für die polnischen Reformen.

In einem Interview mit der FAZ (Gerhard Gnauck) äußert sich der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro unter anderem zu seiner Skepsis gegenüber der Europäischen Union, zu seiner Ablehnung einer weitergehenden europäischen Integration, zu den vom Europäischen Gerichtshof gegen Polen verhängten Zwangsgeldern und zur Rechtsstaatlichkeit.

Der Rechtsstudent Lukas Märtin widmet sich auf dem Verfassungsblog der mündlichen Verhandlung des Europäischen Gerichtshofs von Mitte November zum europäischen Haftbefehl. Ein niederländisches Gericht hatte sich im Fall eines in Polen ausgestellten europäischen Haftbefehls, mit dem ein polnischer Staatsbürger aus den Niederlanden ausgeliefert werden sollte, wegen systematischer Mängel in der polnischen Justiz an den Gerichtshof gewandt.

Juristische Ausbildung

Anwalt im Markenrecht: LTO-Karriere (Annelie Kaufmann) interviewt den Rechtsanwalt für Markenrecht Ulrich Hildebrandt zu seinem Beruf. Er rät vor allem Juristen, die von Jura genervt sind, sich auf das Markenrecht zu spezialisieren.

 

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lto/ls

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 2. Dezember 2021: Impfpflicht ab Anfang März? / Verschärftes EU-Asylrecht? / Kippt "Roe vs. Wade"? . In: Legal Tribune Online, 02.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46813/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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