Die juristische Presseschau vom 2. November 2021: Maul­wurf für Hild­mann in Justiz / Koen Len­na­erts zu EU-Rechts­staat­lich­keit / Fehl­ge­burt als Tot­schlag

02.11.2021

Der Verschwörungserzähler Attila Hildmann bekam wohl Hinweise aus der Berliner GenStA. EuGH-Präsident Koen Lennaerts betont Spielraum bei Gestaltung der nationalen Justiz. US-Gericht verurteilt Frau wegen Fehlgeburt nach Drogenkonsum.

Thema des Tages

StA Berlin – Attila Hildmann: Attila Hildmann soll von einer damaligen IT-Mitarbeiterin der Berliner Generalstaatsanwaltschaft interne Informationen zu Ermittlungen gegen ihn erhalten haben. Gegen die bereits im Mai entlassene Frau wird nun wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen und versuchter Strafvereitelung ermittelt. Seit längerem ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft bereits gegen den rechtsradikalen Verschwörungserzähler Hildmann wegen Volksverhetzung, öffentlicher Aufforderung zu Straftaten und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Da er sich in der Türkei aufhält, kann ein Haftbefehl gegen ihn nicht vollstreckt werden. Es berichten FAZ (Helene Bubrowski) und LTOspiegel.de (Wolf Wiedmann-Schmid u.a.) beleuchtet zudem den Fall Hildmann ausführlich.

Reinhard Müller (FAZ) fragt sich, ob es auch Diener:innen des Staates gebe, die ihn eigentlich abschaffen wollen. Er hofft, dass deutsche Staatsdiener:innen, die einem wie Attila Hildmann huldigen oder helfen wollen, die absolute Ausnahme bilden.

Rechtspolitik

Umweltrecht und Wirtschaft: Das Hbl (Heike Anger) beschreibt die juristischen Hürden für Unternehmen, die umweltfreundlicher wirtschaften wollen. Die Umweltrechtsprofessorin Sabine Schlacke zeige sich dabei zwar optimistisch mit Blick auf den grünen Umbau der Wirtschaft. Sie sei aber auch der Ansicht, dass Änderungen im Umweltrecht, um wirtschaftliche Innovationen zu begünstigen, schwierig seien. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier warne dagegen in diesem Zusammenhang vor einer "Überforderung des Rechts".

Hochschulgesetz Berlin: Wie die FAZ (Heike Schmoll) schreibt, hat der Berliner Verfassungsrechtsprofessor Matthias Ruffert festgestellt, dass dem Land Berlin für sein neues Hochschulgesetz die Gesetzgebungskompetenz fehle. In der neuen Regelung geht es um die Entfristung von Postdoktorand:innen, die aber bundesrechtlich im Wissenschaftszeitvertragsgesetz geregelt sei. Das Grundgesetz ordne die Gesetzgebungskompetenz für Arbeitsrecht dem Bund als Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung zu. Gegen die Regelung könnte nun eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht durch die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag eingelegt werden.

Justiz

EuGH – EU-Rechtsstaatlichkeit: Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs Koen Lenaerts erklärt im Interview mit der SZ (Wolfgang Janisch/Thomas Kirchner) die Rechtsstaatlichkeit zur Voraussetzung für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit werde vom EuGH aber eng verstanden: "Sie garantiert einen Kernbereich und lässt im größtmöglichen Maß Raum für Vielfalt." Der EuGH lasse den Mitgliedstaaten große Gestaltungsfreiheit, wie sie die Unabhängigkeit ihrer Gerichte sicherstellen. Man müsse den Zusammenhang der Vorschriften betrachten, und wie sie sich in der Praxis auswirken. Zum Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht sagt Lennaerts: "Im europäischen Rechtsraum gibt es keine Hierarchie von Ordnungen." Es gehe nur um eine Kollisionsregel. "Das gemeinsame Recht hat im Konfliktfall den Vortritt." 

BGH – Korruption in Regensburg: Der Bundesgerichtshof wird am Donnerstag über die Revision im Strafverfahren gegen den früheren Regensburger Oberbürgermeister Joachim Wolbergs verhandeln, wodurch der Prozess nochmal neu aufgerollt werden könnte, wie die SZ (Andreas Glas) berichtet. Es werde eine Grundsatzentscheidung in Sachen Parteispenden erwartet, insbesondere zu der Frage, ob Spender politische Amtsträger schon vor der Amtsübernahme mit Wahlkampfspenden gewogen machen dürfen. Laut der Staatsanwaltschaft hat ein Bauträger im OB-Wahlkampf Geld auf Wolbergs Wahlkampfkonto überwiesen, als dieser noch Sozial-Bürgermeister war und keine Zuständigkeit für Bau-Angelegenheiten hatte.

LG Wuppertal – Tötung von fünf Kindern: Das Landgericht Wuppertal wird nach fünfmonatigem Prozess bald über den Fall einer Mutter entscheiden, die fünf ihrer sechs Kinder getötet haben soll, nachdem ihr Ehemann sie verließ. Die SZ (Sabine Maguire) beleuchtet die Hintergründe der Taten und mögliche Motive wie Rache oder eine narzisstische Kränkung der Frau.

LG Berlin zu Aufbau-Verlag: Das Landgericht Berlin hat eine Schadensersatzklage von Bernd Lunkewitz abgewiesen, der 1991 von der Treuhandanstalt eine "vermögenslose Hülle" anstatt wie von ihm beabsichtigt den Aufbau Verlag, das Flaggschiff der DDR-Literaturszene, kaufte. Laut dem Gericht seien die Vorgänge um den Verkauf so verworren und schwer aufzuklären, dass keine Gewissheit über den tatsächlichen Ablauf habe hergestellt werden können. Die FAZ (Norbert Pötzl) stellt auch die historischen Hintergründe des Verfahrens dar.

LG Berlin – Kfz-Unfall nach epileptischem Anfall: Im Prozess vor dem Landgericht Berlin gegen einen 44-Jährigen, der im September 2019 aufgrund eines epileptischen Anfalls in seinem SUV einen Verkehrsunfall mit vier Todesopfern verursacht hatte, hat der Angeklagte eingeräumt, gegen ärztlichen Rat Auto gefahren zu sein, wie die taz und spiegel.de schreiben.

AG Berlin-Tiergarten zu Missbrauch durch Arzt: Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten hat einen auf sexuell übertragbare Krankheiten spezialisierten Arzt zu einer Geldstrafe von 45.000 Euro wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses verurteilt, da dieser die Untersuchung an einem Patienten dazu ausgenutzt habe, um sich sexuell zu erregen, wie die SZ und spiegel.de (Wiebke Ramm) berichten. In drei weiteren Fällen konnte der Vorwurf nicht bewiesen werden. Der verurteilte Arzt ist ein weltweit anerkannter HIV-Experte, seine von ihm selbst so bezeichnete "schwule Kiezpraxis" ist auch über Berlin hinaus bekannt.

AG Berlin-Köpenick zu Beleidigung als Kündigungsgrund: Das Amtsgericht Berlin-Köpenick hat laut spiegel.de eine Wohnungsräumungsklage abgewiesen, da es befand, dass es für eine außerordentliche Kündigung eines Mietvertrages nicht ausreiche, dass der beklagte Mieter dem Hausverwalter gegenüber den Ausdruck "fuck you" benutzt hatte. Die SZ kommentiert im "Streiflicht" den Fall. In Berlin werde eine Beleidigung wohl deshalb weniger streng bewertet als in anderen Städten, da Berliner:innen dafür geliebt und bewundert würden, sich möglichst ungehobelt auszudrücken.

AG Neustadt an der Aisch zu "Drachenlord": Die taz (Matthias Kreienbrink) nimmt die Verurteilung von Rainer Winkler alias "Drachenlord" zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung wegen gefährlicher Körperverletzung nun auch zum Anlass, die Hintergründe und Vorgeschichte des Prozesses zu beleuchten. Dabei wird der bisherige Umgang der Medien mit dem Fall kritisiert, da diese sich vor allem die Frage gestellt hatten, wie viel Schuld Winkler selbst an dem Hass trägt, den er auf sich gezogen hat. Die zentrale Frage sei jedoch die nach den Hassenden. Es sei wichtig, das gesellschaftliche Feingespür für die Lust am Hass zu schärfen. Diese Dimension der Gewalt um Winkler sei in dem jüngsten Gerichtsurteil gegen ihn nicht genügend beachtet worden. Mittlerweile hat er Berufung gegen das Urteil eingelegt.
    
StA Kassel – angefahrene Schulkinder: Die Staatsanwaltschaft Kassel hat Ermittlungen wegen Heimtückemordes, versuchten Heimtückemordes, vollendeter gefährlicher Körperverletzung und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gegen einen 30-jährigen Autofahrer aufgenommen, der am Freitag eine Gruppe von Schulkindern mit seinem Fahrzeug erfasst haben soll, wie FAZ und spiegel.de schreiben. Ein Unfallzeuge habe geschildert, dass der Mann eine "aktive Lenkbewegung in Richtung der Grundschüler" getätigt habe. Bei dem Vorfall erlitten drei Mädchen schwere Verletzungen, eine Achtjährige starb wenig später im Krankenhaus. Auch der Fahrer wurde schwer verletzt und auf Antrag der Staatsanwaltschaft am Samstag in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.

Klimaschutz vor Gericht: Die SZ (Wolfgang Janisch) gibt einen Überblick über wichtige Klima-Urteile und anhängige Klagen in Deutschland und weltweit. Der Richter am Bundesverfassungsgericht Ulrich Maidowski behauptet, dass im jüngsten Beschluss des Verfassungsgerichts zum Klimaschutz lediglich geschriebenes Recht verfassungsrechtlich stark gemacht worden sei. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist eine Klimaklage der Schweizer "Klimaseniorinnen" anhängig, die im Falle ihres Erfolgs wie ein Multiplikator wirken könnte. Auch Klagen gegen Unternehmen mehren sich, so wie die Klage des peruanischen Bauern Saúl Lliuyas am OLG Hamm gegen RWE auf Kostenbeteiligung für Schutz gegen einen schmelzenden Gletscher. Die größten Erfolgaussichten gebe es bei Klagen vor niederländischen Gerichten.

Recht in der Welt

USA – Haftstrafe nach Fehlgeburt: In den USA wurde eine 20-jährige zu vier Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt, nachdem sie in der 16. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt erlitt. Die Frau gab im Krankenhaus an, während der Schwangerschaft Marihuana und Methamphetamin konsumiert zu haben. Das Gericht nahm an, dass sie durch den Drogenkonsum den Tod des Fötus verschuldet habe, obwohl ein Obduktionsbericht andere Gründe für die Fehlgeburt ebenfalls für möglich hielt. Die FAZ (Christiane Heil) nimmt dieses Urteil zum Anlass, an andere ähnlich gelagerte Urteile der letzten Jahre in den USA zu erinnern, die ebenfalls Frauen für erlittene Fehlgeburten strafrechtlich zur Rechenschaft zogen, sowie an die strikten Regelungen zur Abtreibung in den Bundesstaaten Texas und Oklahoma.

Polen – Justizreform: Laut SZ (Florian Hassel) will die EU-Kommission die für Polen bestimmten Milliarden Euro aus dem Corona-Aufbaufonds erst freigeben, wenn Polen u.a. die vom EuGH beanstandete Disziplinarkammer für Richter abschafft. Die polnische Regierung will stattdessen dem Obersten Gericht Polens, an dem noch viele unabhängige Richter tätig sind, Zuständigkeiten entziehen

In Freiburg hat Malgorzata Gersdorf, die Ex-Präsidentin des Obersten Gerichts Polens, als Anerkennung für ihren Widerstand gegen die Justizreform den Kant-Weltbürgerpreis erhalten, berichtet die BadZ (Christian Rath). Die zweite Preisträgerin, Ex-Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, beschrieb die Strategie der polnischen Regierung, sich bei ihren Justizreformen auf Regelungen in anderen Staaten zu berufen. "Man wird in der Justizorganisation aller Staaten Schwächen finden, die missbraucht werden können", so Lübbe-Wolff, entscheidend sei aber die Praxis.

Sri Lanka/Mexiko/Syrien – Morde an Journalist:innen: Drei internationale Pressefreiheitsorganisationen (Reporter ohne Grenzen, das Komitee zum Schutz von Journalisten und Free Press Unlimited) haben ein "Völkertribunal" ins Leben gerufen, um mithilfe von Recherchen und juristischer Expertise Staatsregierungen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn Verbrechen an Journalist:innen nicht geahndet werden, wie die FAZ meldet. In den kommenden sechs Monaten soll es Anhörungen zu den drei Schwerpunktländern Sri Lanka, Mexiko und Syrien geben.

Sonstiges

Gewalttaten von Querdenker:innen: Die SZ (Georg Mascolo/Ronen Steinke) nimmt den tödlichen Schuss eines Masken-Verweigerers auf einen Tankstellenangestellten in Idar-Oberstein zum Anlass, andere Vorfälle von körperlicher Gewalt, Bedrohungen und Beleidigungen durch Menschen, die Corona-Maßnahmen ablehnen, zu thematisieren. Es sei auffällig, dass keine systematische, bundesweite Erfassung dieser Taten stattfinde und keine Auswertung, ob es bestimmte Muster gebe, regionale Schwerpunkte oder besonders betroffene Orte wie etwa Bahnen oder Busse. Obwohl der Verfassungsschutz die Strukturen der "Querdenker" seit Monaten im Visier habe, tue sich die Polizei in den Bundesländern oft schwer, Straftaten eindeutig diesem Milieu zuzuordnen.

Organisierte Kriminalität: Aus dem Bundeslagebild Organisierte Kriminalität des Bundeskriminalamts geht laut FAZ (Helene Bubrowski) hervor, dass die Organisierte Kriminalität im vergangenen Jahr einen wirtschaftlichen Schaden von mehr als 800 Millionen Euro in Deutschland angerichtet hat und sich das von den Täter:innen erbeutete Vermögen auf mehr als eine Milliarde Euro beläuft, ein Zuwachs von fast 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Bundeskriminalamt kommt in dem Lagebild zudem zu dem Schluss, dass kriminelle Gruppierungen zunehmend bereit seien, eigene Mitglieder, verfeindete Gruppierungen, aber auch Beamt:innen einzuschüchtern und Gewalt gegen sie anzuwenden.
 

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lto/ls

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 2. November 2021: Maulwurf für Hildmann in Justiz / Koen Lennaerts zu EU-Rechtsstaatlichkeit / Fehlgeburt als Totschlag . In: Legal Tribune Online, 02.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46523/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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