Die juristische Presseschau vom 26. Oktober 2021: IS-Rück­keh­rerin ver­ur­teilt / Kohl-Ent­schä­di­gungs­an­spruch ver­erb­lich? / Bit­coin-Auk­tion der NRW-Justiz

26.10.2021

Das OLG München verurteilte IS-Rückkehrerin Jennifer W. zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren. Die Witwe von Altkanzler Helmut Kohl erbt eine ihm zugesprochene Entschädigung wohl nicht. Die NRW-Justiz versteigert sichergestellte Bitcoins.

Thema des Tages

OLG München zu IS-Rückkehrerin Jennifer W.: Das Oberlandesgericht München verurteilte die IS-Rückkehrerin Jennifer W. u.a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, Beihilfe zum versuchten Mord sowie zum versuchten Kriegsverbrechen und wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Die heute 30-jährige Jennifer W. hatte sich im Irak dem Islamischen Staat (IS) angeschlossen. Als ihr damaliger Ehemann ein jesidisches Mädchen bei starker Hitze in einem Hof ankettete und verdursten ließ, schritt sie nicht ein. Dafür hatte die Bundesanwaltschaft eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes gefordert. In der Urteilsbegründung des OLG hieß es nun, es wäre Jennifer W. "möglich und zumutbar gewesen, das Kind zu befreien". Über das Urteil berichten SZ (Annette Ramelsberger/Susi Wimmer), FAZ (Karin Truscheit), taz (Dominik Baur) und LTO.

Nach Einschätzung von Reinhard Müller (FAZ) sei Jennifer W. zwar nicht "zum Objekt eines Schauprozesses geworden", das Urteil setze aber dennoch ein über den Fall hinausgehendes Signal und habe Abschreckungswirkung für deutsche Nachahmer:innen, die planen sich im Ausland dem IS anzuschließen. Ronen Steinke (SZ) hält den Fall für einen "winzigen Ausschnitt eines riesigen Geschehens", namentlich dem Genozid an mehr als 5000 Jesid:innen durch den Islamischen Staat. Es ginge zwar auch um einen Einzelfall, jedoch zeige er, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht immer auf tätlicher aktiver Gewalt, sondern auf Gleichgültigkeit beruhen können. Damit formuliert Steinke auch eine Kritik an der "westlichen Politik", die den verfolgten Jesid:innen in der Vergangenheit nicht genügend Schutz und Beachtung schenkte.

Der Bezug des Prozesses zum Genozid an den Jesid:innen wird auch im Interview der taz (Marilena Piesker) mit dem Politologen Thomas Mücke hervorgehoben.

Rechtspolitik

Corona – Beschränkungen: beck-community (Martin Biebl) setzt sich damit auseinander, mit welchen rechtlichen Mitteln den steigenden Corona-Infektionszahlen in den kommenden Herbst- und Wintermonaten begegnet werden könnte. Nach seiner Einschätzung sei nicht eine Impfpflicht, sondern ein vom Gesetzgeber geschaffenes, bundesweit geltendes und verbindliches 3G-Konzept am Arbeitsplatz wie in Österreich ein effektives Mittel, um die pandemische Lage bestmöglich einzudämmen.

Gesetzgebung: Hbl (Heike Anger) stellt die Ergebnisse einer von Digital- und Transformationsexperten angestellten Analyse von Gesetzgebungsverfahren vor. Laut der Expertengruppe werden Verbände und Wissenschaft erst in einem zu späten Stadium des Gesetzgebungsprozess angehört. Die Gruppe rate zudem, keine Details in Koalitionsverträgen festzulegen, sondern nur politische Ziele zu formulieren, weil "Umsetzungsalternativen durch die Verwaltung häufig im Gesetzgebungsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden könnten".

Justiz

BGH – Kohl-Entschädigung: Maike Kohl-Richter, die Witwe von Altkanzler Helmut Kohl, wird wohl eine ihm zu Lebzeiten zugesprochene Entschädigung in Millionenhöhe nicht erben. Das zeichnete sich in der mündlichen Verhandlung des Bundesgerichtshofs ab, so SZ (Wolfgang Janisch), spiegel.de und LTO. Der Ghostwriter Heribert Schwan hatte entgegen Kohls Willen die mit ihm geführten Memoirengespräche teilweise veröffentlicht. Im Jahr 2017 wurde Helmut Kohl deshalb durch das Landgericht Köln eine Million Euro Entschädigung wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugesprochen. "Ein derartiger Anspruch" sei jedoch laut dem Vorsitzenden BGH-Richter Stephan Seiters "grundsätzlich nicht vererblich".

NRW – Bitcoin-Auktion: Die nordrhein-westfälische Justiz versteigert 215 Bitcoin, die laut Staatsanwaltschaft Köln überwiegend aus dem Drogenhandel im Darknet stammen und bei Kriminellen sichergestellt worden seien. Bei der am Montag gestarteten Versteigerung handelt es sich um die erste Versteigerung von beschlagnahmten Beständen der Kryptowährung über das bundesweit einzigartige Online-Auktionsportal der NRW-Justiz. Der Erlös aus den Versteigerungen, der elf Millionen Euro übersteigen werde, solle in die Landeskasse fließen. Es berichten SZ (Benjamin Emonts/Benedikt Müller), Hbl (Felix Holtermann/Mareike Müller) und LTO.

BVerfG – Parteienfinanzierung: Marlene Grunert (FAZ) resümiert im Leitartikel die mündliche Verhandlung des BVerfG vor zwei Wochen zur Ausweitung der Parteienfinanzierung. Die Klage durch das Bündnis von FDP, Grüne und Linke, die gegen ihre eigenen materiellen Interessen gerichtet ist, zeige, dass die Parteiendemokratie funktioniert. Das BVerfG werde nun dem Gesetzgeber bei der Parteienfinanzierung weitere Zügel anlegen. Welche es sein werden, sei aber noch ungewiss. Die Autorin fordert zudem eine gesetzliche Regelung zur Finanzierung parteinaher Stiftungen. Die Politik sollte nicht auf Karlsruhe warten.

BGH zur Haftung für Arbeitsmaschinen: Ein Landwirt ist nicht verpflichtet, Schadensersatz wegen einer Verletzung zu leisten, die durch einen von seiner Mähmaschine hochgeschleuderten Stein hervorgerufen wurde. Beim Mähen auf dem Weideland im Sommer 2016 war ein Stein derart in die Luft geschleudert worden, dass ein Mann auf einem 50 Meter entfernten benachbarten Grundstück verletzt wurde. Ein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflichten durch den Landwirt liege nicht vor, denn die gefährdungsunabhängige Haftung für Arbeitsmaschinen greife nicht, wenn der Arbeitseinsatz bei dem Unfall nicht in örtlicher Nähe zu Straßenverkehrsflächen stattfindet, entschied der Bundesgerichtshof laut LTO

BFH zu Gemeinnützigkeit von NGO: Auf JuWissBlog wendet sich der wissenschaftliche Mitarbeiter Noah Zimmermann gegen Kritiker das Attac-Urteils des Bundesfinanzhofs aus dem Jahr 2019. Die Verwehrung der Gemeinnützigkeit stelle gar keinen Grundrechtseingriff dar. "Es handle sich hierbei nicht um eine eigenständige Belastung, sondern nur um die Verweigerung einer Entlastung von der allgemeinen Steuerlast".

OLG Oldenburg zu Tierhalterhaftung: Einer klagenden Reiterin aus Nordhorn steht laut Oberlandesgericht Oldenburg kein Schmerzensgeld wegen eines bei einem Sturz zugezogenen Schädel-Hirn-Traumas zu. Es konnte nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass sich bei dem Sturz eine Tiergefahr verwirklicht habe, so LTO. Die Reiterin sei laut einer Zeugin besonders unsicher gewesen und habe wohl dem Pferd durch ängstliches Anpressen der Beine versehentlich den Befehl zum Galopp gegeben.

VG Wiesbaden – Scoring: Das Verwaltungsgericht Wiesbaden will vom Europäischen Gerichtshof klären lassen, ob das Erstellen von Score-Werten durch die private Auskunftei Schufa und deren Übermittlung an Banken unter Artikel 22 der Datenschutz-Grundordnung falle, wonach Betroffene keinen Entscheidungen unterwerfen werden dürfen, die ausschließlich auf einer "automatisierten Verarbeitung" basieren. Die Schufa wolle die Algorithmen, mit denen sie ihre Score-Werte ermittelt, nicht preisgeben, so die FAZ.

ArbG Stuttgart zu Regisseur Joachim A. Lang: Laut Arbeitsgericht Stuttgart muss der Sender SWR den Regisseur Joachim A. Lang nicht mehr als Abteilungsleiter beschäftigen, weil er nur einen befristeten Vertrag hatte. Eine Zusage des SWR für jährliche oder zweijährliche Filmproduktionen gelte nach Feststellung des Gerichts jedoch unabhängig von der Position als Abteilungsleiter fort, womit Lang einen Teilerfolg verbuchte. Der Regisseur, dessen Stelle als Abteilungsleiter 2019 nicht mehr verlängert wurde und der seit 2012 nur einen einzigen Film realisieren konnte, fühlte sich gemaßregelt, weil er sich für eine Kollegin einsetzte, die von einem SWR-Vorgesetzten sexuell belästigt worden war. Eine Klage wegen Verstoßes gegen das Maßregelungsverbot erhob Lang aber nicht, weshalb der Belästigungsvorwurf vor dem ArbG nicht weiter thematisiert wurde. Die taz (Christian Rath) berichtet.

LG Dortmund antisemitische Parolen: In einer Dortmunder Veranstaltungshalle begann der Prozess gegen zehn rechtsextreme Angeklagte wegen Volksverhetzung. Sie sollen bei Aufmärschen der Partei "Die Rechte" im September 2018 antisemitische Parolen wie "Wer Deutschland liebt, ist Antisemit" skandiert haben. Jedoch musste die Hauptverhandlung direkt wieder ausgesetzt werden, weil die Verteidiger aufgrund einer Gerichtspanne Videomaterial aus der Prozessakte nicht erhalten haben, berichten taz und spiegel.de.

AG Neustadt a. d. Aisch zum "Drachenlord": Die Staatsanwaltschaft hat Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Neustadt an der Aisch von voriger Woche eingelegt. Die gegen den Youtuber "Drachenlord" verhängte zweijährige Freiheitsstrafe ist der Staatsanwaltschaft zu niedrig, wie LTO berichtet.

StA Dresden – Gil Ofarim: Jost Müller-Neuhof (Tsp) hält den Fall um den jüdischen Musiker Gil Ofarim, der im Leipziger Hotel Westin aufgefordert worden sein soll, seine Kette mit Davidstern abzulegen, für sehr undurchsichtig. Zur sachlichen Diskussion um Antisemitismus könne der Fall wenig beitragen.

MFK gegen Sparkassen: Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) bereitet Musterfeststellungklagen gegen die Berliner Sparkasse und die Sparkasse KölnBonn vor. Die zwei Sparkassen verweigerten, laut vzbv, ihren Kund:innen Bankgebühren rückzuerstatten, die der BGH im April für unrechtmäßig erklärt hatte, so taz (Svenja Bergt) und Hbl (Frank Matthias Drost).

Patentklagen: Anders als in den USA, wo im Vorjahr 3739 neue Patentverletzungsklagen bei den US District Courts erhoben wurden, ist in Europa ein stetiger Rückgang von Patentverletzungsklagen zu verzeichnen. Ein Grund für diesen Rückgang sei bis jetzt nicht erkennbar. Zu einer Trendwende könnte es kommen, sobald das Einheitliche EU-Patentgericht seine Arbeit aufnimmt, so das Hbl (Christian Harmsen).

Recht in der Welt

Niederlande – Kindergeldaffäre: Rechtsprofessorin Ingrid Leijten beschäftigt sich auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) mit der von der Venedig-Kommission verfassten Stellungnahme zur "Toeslagenaffaire" (der niederländischen Kindergeldaffäre) bei der der niederländische Staat zu Unrecht Familien, hauptsächlich migrantischer Herkunft, wegen Sozialbetrugs beschuldigt hatte und Beihilfe für die Kinderbetreuung zurückgefordert hatte.

Israel – Kindesentziehung: Der sechsjährige Junge Eitan Biran soll nach Italien zurückkehren, entschied das Familiengericht in Tel Aviv. Der Minderjährige hatte bei einem Unfall seine Eltern verloren und wurde von seinem Großvater mütterlicherseits heimlich nach Israel gebracht, wogegen die Tante des Waisen väterlicherseits gerichtlich vorging und eine Rückkehr des Jungen nach Italien forderte. Bei dem Verfahren wurde allein über den aktuellen Aufenthaltsort entschieden, die Frage wer das Sorgerecht innehabe, sei damit noch nicht geklärt, so FAZ und spiegel.de.

DR Kongo – Mobile Gerichte: Bei den Kämpfen im Osten der Demokratischen Republik Kongo ereignen sich zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Gewalttaten von Rebellengruppen, die meist nicht gerichtlich sanktioniert werden. Deshalb wurden durch die die kongolesische Justiz "mobile Gerichte" ins Leben gerufen, um auch in abgelegenen Dörfern und Siedlungen Recht zu sprechen. Die Effektivität solcher Gerichte stellt der Autor und Jurist Patrick Hönig in dem neu erschienen Buch: "Ein Ende der Straflosigkeit? Mobile Gerichte im Osten der Demokratischen Republik Kongo" in Frage. Das Buch wird ausführlich in der FAZ (Franca Wittenbrink) besprochen und vorgestellt.

Sonstiges

Versorgungswerk für Anwält:innen: Auf LTO berichtet Martin W. Huff, dass das Versorgungswerk für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Baden-Württemberg die Altersgrenze von 45 Jahren für die Pflichtmitgliedschaft aufgehoben hat. Dies sei längst überfällig gewesen, denn die Altersgrenze habe es verhindert, dass Personen, die ihren Versorgungssitz im Alter von über 45 Jahren nach Baden-Württemberg verlegen wollten, von der gesetzlichen Krankenversicherung freigestellt werden können, was einen verminderten Zuzug von Kanzleien und diverse verwaltungsrechtliche Klagen zur Folge hatte.

Impfschutz am Arbeitsplatz: spiegel.de (Florian Gontek/Matthias Kaufmann) erklären anlässlich der Kimmich-Affäre, dass es durchaus möglich sei, an Zuschauer in Fußballstadien andere Anforderungen zu stellen (2G) als an Arbeitnehmer eines Fußball-Vereins (3G). Grund sei, dass es in Deutschland keine Impfpflicht gebe. 

 

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lto/mr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 26. Oktober 2021: IS-Rückkehrerin verurteilt / Kohl-Entschädigungsanspruch vererblich? / Bitcoin-Auktion der NRW-Justiz . In: Legal Tribune Online, 26.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46456/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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