Die juristische Presseschau vom 12. Oktober 2021: Demos gegen pol­ni­sches Ver­fas­sungs­ge­richt / Par­tei­en­fi­nan­zie­rung vor BVerfG / Befrie­di­gung von Air Berlin-Gläu­bi­gern

12.10.2021

Die Diskussion um das Verhältnis von Polen und EU intensiviert sich. Das BVerfG verhandelt über Klagen gegen die Erhöhung der staatlichen Parteienfinanzierung. Als Spätfolge des Brexit könnten Air Berlin-Gläubiger doch Geld bekommen.

Thema des Tages

Polen – Verfassungsgericht zu EU-Recht: In Polen gab es zahlreiche Demonstrationen mit zehntausenden Teilnehmer:innen gegen das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das in der vergangenen Woche den Anwendungsvorrang des nationalen Verfassungsrechts vor Europarecht erklärte. Die Demonstrant:innen warnten vor einem drohenden Ausscheiden Polens aus der EU. Es berichten u.a. taz (Paul Flückiger) und LTO.

Christian Rath (taz) hält die Diskussion um einen Polexit für ein mobilisierendes Schreckgespenst der polnischen Opposition. Die PiS-Regierung habe kein Interesse, die EU zu verlassen. Es handele sich vielmehr um einen Machtkonflikt zwischen der EU und Polen. Die EU wolle ein Verbund rechtsstaatlicher Staaten bleiben, während die polnische Regierungsmehrheit ohne Einmischung von außen die polnische Justiz gleichschalten wolle. 

Auf dem Verfassungsblog werden (in englischer Sprache) zehn Thesen von 27 pensionierten polnischen Verfassungsrichtern vorgestellt, die es als ihre Pflicht ansehen, zentralen Punkten des Urteils zu widersprechen. So sei es etwa falsch, dass die Anwendung des EU-Rechts durch polnische Gerichte nicht mit der Anwendung der polnischen Verfassung in Einklang gebracht werden könne. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth rief laut StZ alle dazu auf, die Freiheit zu verteidigen und konstatierte: "Freiheit ist nicht denkbar ohne unabhängige Gerichte". Die taz (Eric Bonse) stellt Reaktionsmöglichkeiten der EU auf das Urteil dar. Das wohl wirksamste Mittel seien weitere Finanzsanktionen. Allerdings versuche Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen, den Gesprächsfaden zu Polen nicht abreißen zu lassen, um den "European Green Deal" nicht zu gefährden. Auf LTO erläutert der Anwalt Oscar Szerkus die historischen Hintergründe für das konservativ-nationale Selbstbild, das die polnische Rechtskultur maßgeblich beeinflusse und auch eine Ursache für den Kompetenzstreit sei. 

Polen und EU: Die Assistenzprofessoren Merijn Chamon (Recht) und Tom Theuns (Politik) bringen auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) eine "Verstärkte Zusammenarbeit" der 21 überwiegend liberal-demokratischen Mitgliedsstaaten nach Art. 20 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) in Verbindung mit Art. 326 bis 334 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ins Spiel. Dadurch könnte den sechs anderen Staaten in den meisten Entscheidungsprozessen der Wille der Demokraten aufgezwungen werden. Um dem teils herrschenden Fatalismus im Kompetenzstreit zu entgegnen, solle man sich ferner auch die – gegenwärtig abwegige – Möglichkeit eines kollektiven Austritts der liberalen Demokratien aus der EU nach Art. 50 EUV bewusst machen, um die Zusammenarbeit dann in einer "EU 2.0" fortzusetzen. 

Rechtspolitik

Corona – 3G: Die Gesundheitsminister:innen von Bund und Ländern haben sich am Montag nicht auf eine bundeseinheitliche Linie zu der Frage einigen können, ob Beschäfigte ohne Impf- oder Genesenennachweis, die direkten Kundenkontakt haben, zu Tests verpflichtet werden können. In einem gemeinsamen Beschluss wurde festgehalten, dass das Infektionsschutzgesetz diese Möglichkeit bereits enthalte und entsprechende Regelungen auf Landesebene getroffen werden können. Die Welt berichtet.  

Justiz

BVerfG – Parteienfinanzierung: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt an diesem Dienstag und Mittwoch über die gesetzliche Erhöhung der staatlichen Parteienfinanzierung von gut 165 Millionen Euro auf eine neue "absolute Obergrenze" von 190 Millionen Euro, die 2018 vom Bundestag mit Stimmen von Union und SPD beschlossen wurde. In zwei unterschiedlichen Verfahren, die gemeinsam verhandelt werden, wird der großen Koalition in einem Normenkontrollverfahren von Grünen, Linken und FDP eine Verletzung der Staatsferne der Parteien vorgeworfen. Die Begründung lege nicht die vom BVerfG in früherer Rechtsprechung für eine Erhöhung verlangte "einschneidende" Änderung der Verhältnisse dar. Die AfD macht in einer Organklage geltend, dass ihre Fraktionsrechte durch das eilige Gesetzgebungsverfahren im Schatten der Fußball WM in Russland verletzt wurden. SZ (Wolfgang Janisch) und LTO bringen Vorberichte. 

LG Frankfurt/M. – Air Berlin-Insolvenz: Der Insolvenzverwalter Lucas Flöther hat am Landgericht Frankfurt/M. eine Klage gegen "Clearstream" (eine Tochter der Deutschen Börse) zur Befriedigung der Gläubiger von Air Berlin eingereicht. Air Berlin war als Public Limited Company (PLC) in Großbritannien registriert und hat sich durch den Brexit automatisch zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts gewandelt. Die Aktionärin Clearstream habe nach Flöther daher für alle Forderungen aus der Insolvenztabelle (497,8 Millionen Euro) zu haften. Clearstream weist alle Forderungen von sich. Das Hbl (Volker Votsmeier) berichtet. 

BVerfG – Bundesnotbremse/Befangenheit: Wie die Welt (Tim Röhn) berichtet, erwartet der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bis Dienstag neue Stellungnahmen von zwei Wissenschaftlern, vom Bundesinnenministerium und vom Bundesrat zu den Befangenheitsvorwürfen gegen Präsident Stephan Harbarth. Gegen Harbarth wurde in den Verfahren zur Bundesnotbremse ein Ablehnungsgesuch eingereicht, weil Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) bei einem gemeinsamen Dinner mit dem Bundeskabinett am 30. Juni über Corona-"Entscheidungen unter Unsicherheiten" referiert hatte. 

EuGH – EU-Rechtsstaatlichkeit und Finanzen: Seit diesem Montag verhandelt der Europäische Gerichtshof über eine Klage Polens und Ungarns gegen die im Vorjahr von der EU beschlossene Verordnung, die Finanzsanktionen wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit ermöglicht. Vertreter der beiden Staaten legten zu Beginn dar, dass dieser Konditionalitätsmechanismus aus ihrer Sicht nicht mit den EU-Verträgen vereinbar sei. Polen argumentierte, dass für die Vergabe von Geldern aus dem EU-Haushalt einzig "objektive und konkrete Bedingungen" gelten dürften und kein von der EU definierter Rechtsstaatsbegriff. LTO und zeit.de berichten. 

BVerwG – Fehmarnbelt-Tunnel: Wie die FAZ berichtet, sind beim Bundesverwaltungsgericht mittlerweile drei Klagen gegen das veränderte Baurecht für den geplanten Fehmarnbelt-Tunnel zwischen Deutschland und Dänemark eingegangen. Wie die Gerichtssprecherin mitteilte, haben die Kläger:innen sechs Wochen Zeit für die Klagebegründung. 

LSG Nds-Bremen zu Anspruch auf Elektrorollstuhl: Nach einer Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen hat ein blinder, an Multipler Sklerose (MS) erkrankter Mann einen Anspruch auf einen Elektrorollstuhl. Seine Krankenkasse hatte die Kostenübernahme unter Verweis auf seine Blindheit zu Unrecht verweigert. Aufgabe des Hilfsmittelrechts sei es, beeinträchtigten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, sie von sämtlichen Gefahren des Lebens fernzuhalten und dadurch zu entmündigen. LTO berichtet. 

OLG Braunschweig zu financialright: Das Oberlandesgericht Braunschweig bestätigte eine Klageabweisung der Vorinstanz, wonach die Inkassodienstleisterin "finanzialright GmbH" keine Ansprüche eines Schweizer VW-Kunden im Dieselskandal einklagen darf. Dem Inkassounternehmen fehle die Aktivlegitimation, weil es keine nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) erforderliche Sachkunde im ausländischen Recht habe. LTO berichtet.       

LG Dresden – missbrauchte Kita-Kinder: Vor der Jugendschutzkammer des Landgerichts Dresden hat am Montag ein Prozess gegen einen 28 Jahre alten Erzieher begonnen, der über zwei Jahre hinweg sieben Mädchen mehrfach schwer sexuell missbraucht und die Taten zum Teil auch gefilmt haben soll. Die Opfer waren zwei und drei Jahre alt. Die FAZ (Stefan Locke) und spiegel.de berichten. 

LG München I – Anlagebetrug: Wie spiegel.de berichtet, muss sich ein 44-jähriger Komplize des "Wolf of Sofia" voraussichtlich wegen Online-Anlagebetrugs vor dem Landgericht München I verantworten. Er sei wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in mehr als 300 Fällen mit einem Schaden von etwa 8,7 Millionen Euro angeklagt. Der "Wolf of Sofia" ist der in Österreich verurteilte Kopf einer Bande, die für ihre Machenschaften unter anderem ein Callcenter im bulgarischen Sofia betrieben hatte.     

LG München II – Dreifachmord Starnberger See: Im Prozess zum Tod eines Sohns und seiner Eltern gibt es neue Beweise, die einen der beiden angeklagten Freunde entlasten könnten. Der wegen Mittäterschaft oder Beteiligung am Mord mitangeklagte Samuel V. hatte den Hauptangeklagten Maximilian B.* zum Tatort gefahren. Neue Chat-Nachrichten und DNA-Spuren weisen darauf hin, dass Maximilian B.* und der Sohn eine Beziehung pflegten und in der Tatnacht intim miteinander waren. Dies entlaste nach Auffassung seiner Verteidigung Samuel V. spiegel.de (Julia Jüttner) berichtet.

Recht in der Welt

Österreich – Sebastian Kurz: Auf dem Verfassungsblog führt der österreichische Rechtsprofessor Benjamin Kneihs die aktuellen politischen Vorgänge rund um Sebastian Kurz einer rechtlichen Bewertung zu. Ein mögliches Comeback hänge grundlegend von einer Verurteilung ab. Dabei sei es verfassungsrechtlich kritisch, dass die belastenden Chat-Protokolle überhaupt von der Staatsanwaltschaft ausgewertet worden sind und der Öffentlichkeit bekannt wurden. Ferner sei hier die Wahrung der Unschuldsvermutung fraglich, die nach gefestigter Rechtsprechung auch vor medialen Vorverurteilungen schütze. 

Niederlande – Auftragsmord an Anwalt: Das Bezirksgericht Amsterdam hat die beiden Mörder des Anwalts Derk Wiersum zu zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Der Auftragsmord hatte das Land schockiert und steht vermutlich im Zusammenhang mit der Ermordung des Kriminalreporters Peter R. de Vries im Juli. FAZ (Thomas Gutschker) und spiegel.de berichten.

Burkina Faso – Mord an Thomas Sankara: Nach 34 Jahren wird seit diesem Montag vor einem Gericht in Ouagadougou über den Mord an Thomas Sankara, dem damaligen Präisidenten Burkina Fasos, und zwölf seiner Vertrauten verhandelt. Er gilt als Held der Dekolonisierung und starb 1987 nach vier Jahren an der Macht bei einem Militärputsch. Angeklagt ist sein Nachfolger Blaise Compaoré, der bis 2014 das Land regierte. Verhandelt wird in Abwesenheit des Angeklagten, der im Exil in der Elfenbeinküste lebt. Die taz (Katrin Gänsler) berichtet. 

Sonstiges

Wahlpraxis in Berlin: Zwei Wochen nach den chaotischen Zuständen in Berliner Wahllokalen am 26. September hat der Berliner Landeswahlausschuss festgestellt, dass sich hinsichtlich der Bundestagswahl "gegenüber dem vorläufigen Ergebnis […] nur geringfügige Änderungen ergeben" hätten. Gegen dieses amtliche Ergebnis können Bürger:innen bis zum 26. November Widerspruch beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestags erheben. Das Ergebnis der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, bei der die Unregelmäßigkeiten ein größere Rolle gespielt haben könnten, wird laut SZ (Jan Heidtmann) am Donnerstag veröffentlicht.

Mitgliederentscheide bei Parteien: Die Politikprofessorin Christine Landfried geht im FAZ-Einspruch der Frage nach, ob die im Trend liegenden Mitgliederbefragungen bei Parteien demokratisch sind. Innerparteiliche Entscheidungen seien demokratisch und sinnvoll. Anders jedoch bei Entscheidungen zur Regierungsbildung: Würden nicht die Abgeordneten, sondern die Mitglieder über einen Koalitionsvertrag abstimmen, würde das freie Mandat untergraben und das Gewicht der Wähler:innen werde durch eine überschaubare Zahl von Parteimitgliedern ersetzt.

Europäische Grundrechte: Die FAZ (Michael Gehler) stellt einen Sammelband vor, der elf Länderberichte zur Einhaltung europäischer Grundrechtestandards von Österreich bis zur Türkei enthält. Der Band geht auf ein Symposion in Bonn zurück. 

Das Letzte zum Schluss 

Ungeduldiger Nicht-Mörder: In Steinheim an der Murr hat ein 50-Jähriger am Telefon der Polizei erklärt, er habe seinen Onkel erstochen. Nachdem mehrere Streifenwagen, Notarzt und Rettungswagen am "Tatort" erschienen waren, stellte sich heraus, dass der Mann nur ungeduldig war. Sein Onkel hatte Rückenbeschwerden und die beiden hatten zuvor eine Stunde auf den Arzt gewartet. Nun muss sich der Neffe wegen Vortäuschens einer Straftat verantworten. Die SZ berichtet. 


*Name am 16. 10. korrigiert.

 

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lto/tr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 12. Oktober 2021: Demos gegen polnisches Verfassungsgericht / Parteienfinanzierung vor BVerfG / Befriedigung von Air Berlin-Gläubigern . In: Legal Tribune Online, 12.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46315/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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