Die juristische Presseschau vom 23. September 2021: Grimm und Voßk­uhle im Dop­pel­in­ter­view / neue Straf­kammer für das LG Leipzig / Radi­ka­li­sie­rung der Quer­denker-Szene

23.09.2021

Grimm und Voßkuhle zum 70-jährigen Bestehen des BVerfG. Das LG Leipzig richtet eine neue Große Strafkammer zur Bewältigung der Encro-Chat-Verfahren ein. Nach Mord wegen Maskenpflicht wird über Gefährlichkeit der Querdenker-Szene diskutiert.

Thema des Tages

70 Jahre BVerfG: Anlässlich des 70-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts sprechen die ehemaligen Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm und Andreas Voßkuhle im Interview mit der FAZ (Marlene Grunert/Reinhard Müller) unter anderem über den Klimabeschluss, die Eilentscheidungen im Zusammenhang mit der Coronapandemie und das EZB-Urteil. Zum EZB-Urteil sagt Voßkuhle, dass es sich hierbei um einen "absoluten Ausnahmefall" handle, denn der Vorrang des Europarechts sei doch "im Grundsatz von niemandem bestritten". Grimm fügt an, dass deshalb auch die Schaffung eines "Konfliktgerichtshofs", wie er nun teilweise gefordert wird, abzulehnen sei.

deutschlandfunkkultur.de (Annette Wilmes) zeichnet die bewegte Geschichte des Bundesverfassungsgerichts als "Bürgergericht" nach und diskutiert den immer wiederkehrenden Vorwurf, das höchste Gericht Deutschlands habe zu viel Macht und beeinflusse das Handeln der Politik durch seine Entscheidungen zu stark. Juniorprofessorin Jelena von Achenbach beispielsweise hält die Aussage "das Gericht macht Politik" für zu einseitig und erläutert, dass sich vielmehr Verfassung und Gesellschaft gegenseitig beeinflussen.

Rechtspolitik

Sozialisierung von Wohnungsunternehmen: Am Sonntag wird in Berlin parallel zur Bundestagwahl auch der von der Initiative "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" erzwungene Volksentscheid durchgeführt. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Anna-Katharina König erörtert auf dem Verfassungsblog die juristischen Folgen, sollte der Volksentscheid Erfolg haben und große Wohnungsunternehmen sozialisiert werden müssen. Es werde Streit um die Höhe der Entschädigung und um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme geben. Artikel 15 Grundgesetz sehe aber ausdrücklich die Möglichkeit vor, "Verteilungskonflikte […] innerhalb der Verfassung auszutragen und das Ergebnis für den demokratischen Willensbildungsprozess offenzuhalten", eine Interpretation die nicht allzu schnell untergraben werden dürfe.

Erscheinungsbild von Beamt:innen: Auf LTO stellt Rechtsprofessor Andreas Nitschke den wesentlichen Inhalt der seit einigen Wochen geltenden neuen Regelungen im Bundesbeamtengesetz sowie dem Beamtenstatusgesetz vor. Mit den Neuregelungen soll das äußere Erscheinungsbild von Beamt:innen mit der erforderlichen Neutralität und dem damit einhergehenden Vertrauen in das Amt ins Verhältnis gesetzt werden. Allerdings steht in Frage, ob die Neuregelung eventuell gegen die Religionsfreiheit des Artikel 4 Absatz 1, Absatz 2 Grundgesetz verstößt. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Kopftuch-Beschluss von 2015 noch ein pauschales Kopftuchverbot für verfassungswidrig erklärt.

Justiz

LG Leipzig – Encro-Chat-Verfahren: Aufgrund der Vielzahl von Encro-Chat-Verfahren richtet das Landgericht Leipzig eine neue große Strafkammer ein, die ab dem 1. Oktober personell vollständig besetzt sein soll. Encro-Chat war ein vermeintlich sicherer Chat-Anbieter, den Kriminelle zur Kommunikation nutzten. Französischen und belgischen Ermittlerinnen und Ermittlern gelang es dann im vergangenen Frühjahr, viele Chats zu entschlüsseln, was allein in Deutschland zu über 2.200 Ermittlungsverfahren führte, berichtet LTO.

BAG zu Betriebsrentenanspruch: Beschäftigten, die erst nach dem 55. Lebensjahr ihren Job beginnen, dürfen Unternehmen eine Betriebsrente verweigern. Das entschied das Bundesarbeitsgericht am vergangenen Dienstag und wies damit die Klage einer Frau gegen ihren Arbeitgeber, die Gewerkschaft Ver.di, ab. Die Frau sah in der Verweigerung einer Betriebsrente eine Alters- und Frauendiskriminierung, schreibt beck-aktuell (Joachim Jahn).

VGH Hessen zu Wahlumfrage: Meinungsforschungsinstitute dürfen in ihren Umfragen zum Wahlverhalten auch die Angaben über schon abgegebene Briefwahl-Stimmen miteinfließen lassen, entschied der Hessische Verwaltungsgerichtshof. Der VGH bestätigte damit die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wiesbaden und wies die Beschwerde des Bundeswahlleiters zurück, schreiben FAZ und LTO (Markus Sehl). Die Praxis der Institute verstoße nicht gegen das wahlgesetzliche Verbot, wonach die Veröffentlichung der Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig ist. 

OVG NRW zu Corona-Distanzunterricht: Es gibt keinen generellen Anspruch auf Distanzunterricht statt Präsenzunterricht. Distanzunterricht komme nur bei einer individuellen gesundheitlichen Gefährdung des Schülers oder einer Gefährdung von Personen aus dessen Haushaltsgemeinschaft in Betracht. Mit dieser Entscheidung wies das Oberverwaltungsgericht NRW die Beschwerde eines Achtklässlers gegen einen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf zurück. Laut spiegel.de und LTO hatte der Schüler argumentiert, dass während der Coronapandemie sein Recht auf körperliche Unversehrtheit Vorrang vor der Schulbesuchspflicht habe.

OLG Dresden – militante Antifa/Lina E.: Vor dem Oberlandesgericht Dresden sagte der Rechtsextremist Enrico B. aus, der im Oktober 2018 von vier Vermummten schwer verletzt worden war. Bei den Angreifern habe es sich der Statur nach um Männer gehandelt, sagte B., der damit die Hauptangeklagte Lina E. entlastete. Es berichten taz (Konrad Litschko) und spiegel.de (Wiebke Ramm).

LG Frankfurt/M. – Insiderhandel: Vor dem Landgericht Frankfurt am Main begann der Prozess gegen einen ehemaligen Fondsmanager der Union Investment und einen Investmentbanker.* Ihnen wird Insiderhandel in 55 Fällen vorgeworfen. Laut FAZ (Alexander Jürgs) gesteht der Fondsmanager im Prozess vollumfänglich, erläutert seine Motive und beschreibt, wie das Tätigen der Deals mehr und mehr zu einer Sucht wurde.

LG Itzehoe – KZ-Sekretärin Stutthof: Vor dem Landgericht Itzehoe beginnt in der nächsten Woche der Prozess gegen die ehemalige Schreibkraft aus dem Konzentrationslager Stutthof Irmgar Furchner. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord in 11.142 Fällen vor. Vertreten wird Furchner von dem linken Strafverteidiger Wolf Molkentin, der im Interview mit spiegel.de (Julia Jüttner) über das Mandat und das bevorstehende Verfahren spricht. Molkentin begrüßt, dass derartige Prozesse trotz des hohen Alters der Angeklagten noch geführt werden.

ArbG Berlin zu Tarifeinheitsgesetz/GDL: Nun berichtet auch LTO über die Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin, wonach die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) keinen Anspruch darauf hat, dass der Arbeitgeberverband MOVE ihren alten, aber derzeit noch geltenden Tarifvertrag bei der Deutschen Bahn anwendet. Aufgrund des Tarifeinheitsgesetzes gilt bei mehreren Tarifen nur der Tarif, der von der mitgliedstärksten Gewerkschaft ausgehandelt wurde, eine Regelung, die die GDL für verfassungswidrig hält, das Arbeitsgericht aber nicht. 

StA Bremen – BAMF-Affäre/Polizisten: Wie die FR (Eckhard Stengel) weiß, wurde das Ermittlungsverfahren gegen die Mitglieder der Polizei-Ermittlungsgruppe "EG-Antrag" wegen mutmaßlicher Unterdrückung entlastender Beweismittel in der sogenannten Bremer Bamf-Affäre nun eingestellt. Laut der Staatsanwaltschaft Bremen haben die bis zu 44 Mitglieder nicht einseitig zulasten der Beschuldigten ermittelt. Die Ermittlungsgruppe ging 2018/2019 dem Verdacht nach, die ehemalige Bremer Außenstellenleiterin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge habe reihenweise Asylanträge durchgewunken.

StA Schweinfurt – Wählertäuschung: Die Staatsanwaltschaft Schweinfurt lehnt die Aufnahme von Ermittlungen gegen Markus Söder (CSU) wegen Aufforderung zur Wählertäuschung ab. Bei Söders Äußerung habe es sich erkennbar um einen Witz gehandelt. Ronen Steinke (SZ) kommentiert, die Strafbarkeit einiger "flapsiger Sätze" hänge denn eben auch von deren Ernstlichkeit ab.

StA Frankfurt/M. – NSU 2.0: Der Verdacht gegen den 53-jährigen Alexander M., die Drohschreiben mit der Unterschrift NSU 2.0 unter anderem an die Linken-Politikerin Janine Wissler und die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız versendet zu haben, erhärtet sich. Auf beschlagnahmten Datenträgern fanden sich Dateien, die den Drohschreiben ähnelten, berichtet die SZ (Florian Fade/Ronen Steinke). Der polizeibekannte M. war wohl über Polizeidienststellen und Bürgerämter an die Adressen gekommen, indem er sich am Telefon als Kollege ausgab. 

Recht in der Welt

Polen – Rechtsstaatlichkeit/Corona-Hilfen: Auch am gestrigen Mittwoch vertagte das polnische Verfassungsgericht erneut die mit Spannung erwartete Verhandlung zur Prüfung des Rangverhältnisses von polnischem Verfassungsrecht und europäischem Recht. Auch die EU-Kommission ist inzwischen überzeugt, dass die Verzögerung nicht auf die vorgebrachten formalen und inhaltlichen Gründe zurückzuführen sei, sondern lediglich aus politischem Kalkül noch kein Urteil gefällt worden ist. Denn sollte das Verfassungsgericht nicht den grundsätzlichen Vorrang europäischen Rechts anerkennen, würden Milliarden Euro an Corona-Hilfen von der EU nicht an Polen überwiesen. Es berichten FAZ (Reinhard Veser/Thomas Gutschker), die taz und LTO (Markus Sehl).

Im Zusammenhang mit der zu erwartenden Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts portraitiert die FAZ (Reinhard Veser) dessen Präsidentin Julia Przyłębska. Die enge Freundin des Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei PiS Jaroslaw Kaczynski war früher noch mit ihrer parteiischen und ruppigen Arbeitsweise am damals divers besetzten Verfassungsgericht negativ aufgefallen, während sie heute ein Verfassungsgericht leitet, dessen Richterinnen und Richter ausschließlich von der rechtskonservativen PiS berufen sind.

Sonstiges

Mord wegen Maskenpflicht: Nach dem mutmaßlichen Mord eines jungen Mannes in einer Tankstelle im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein wird der Täter in Telegram-Foren von anderen Nutzerinnen und Nutzern für seine Tat gefeiert. Ermittlerinnen und Ermittler versuchen unterdessen zu klären, woher der Schütze Mario N. die illegale Waffe beschaffen konnte. Außerdem ist nicht klar, inwieweit der 49-Jährige aktiv in der Querdenker-Szene vernetzt war. Den Sicherheitsbehörden war er bisher nicht bekannt, schreibt die SZ (Gianna Niewel/Ronen Steinke) zum aktuellen Stand der Ermittlungen.

Im Interview mit der SZ (Gökalp Babayiğit/Ronen Steinke) spricht Thorsten Voß, Leiter des Hamburger Landesamts für Verfassungsschutz und Sprecher aller 16 Verfassungsschutzbehörden der Länder, über die steigende Aggressivität und Gewaltbereitschaft von sogenanten Querdenkern und wie sich Mitglieder der Szene radikalisieren. Viele Querdenker reisten in die Flutgebiete in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, um sich dort als Fluthelfer:innen und "Kümmerer", "gegen einen angeblich versagenden Staat" zu inszenieren und Anhänger:innen zu radikalisieren, aber auch um neue Leute zu rekrutieren.

Trojaner Pegasus: Die Gesellschaft für Freiheitsrecht (GFF) hat beim Bundesdatenschutzbeauftragen Ulrich Kelber Beschwerde gegen den Einsatz des Trojaners Pegasus in Deutschland eingereicht. Die Spähsoftware der israelischen Firma NSO Group nutzt das Bundeskriminalamt (BKA) nach eigenen Angaben nur in einer abgespeckten Version. Allerdings bezweifelt die GFF, dass die eingeschränktere Software den deutschen rechtlichen Anforderungen an den Einsatz von Staatstrojanern genügt, erklärt netzpolitik.org (Chris Köver).

Generationengerechtigkeit: Laut einer vom Institut für Wirtschaft- und Steuerrecht der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg könnte der Staat zukünftig nicht nur beim Klimaschutz verpflichtet sein, vorausschauender zu planen, sondern auch in vielen weiteren Bereichen speziell bei Schulden und überlasteten Rentenkassen. Das folge aus dem neuen Grundrecht auf Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, das die Karlsruher Richter:innen angeblich mit dem Klima-Beschluss geschaffen haben. Es gebe bereits "demografische Kipppunkte", die lange erreicht worden sind und nun schnelles Handeln verlangen, zitiert die FAZ (Corinna Budras/Heike Göbel) die Studie weiter.

 

* Anm. d. Red.: geändert am 07.10.2021, 12.44 Uhr, Namensnennung entfernt.

 

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lto/ali

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 23. September 2021: Grimm und Voßkuhle im Doppelinterview / neue Strafkammer für das LG Leipzig / Radikalisierung der Querdenker-Szene . In: Legal Tribune Online, 23.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46091/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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