Die juristische Presseschau vom 19. März 2021: Gut­achten zu Miss­brauch in der Kirche / BVerfG zu AfD-Flügel / Türkei will pro­kur­di­sche Partei ver­bieten

19.03.2021

Das vom Kölner Kardinal Woelki angeforderte neue Gutachten zu Missbrauchsfällen wurde vorgestellt. Der Verfassungsschutz darf die Anzahl der AfD-Flügel-Anhänger nennen. Die HDP wird vor dem türkischen Verfassungsgericht angeklagt.

Thema des Tages

Missbrauch in der Kirche: Der Strafrechtler Björn Gercke hat sein Gutachten zum Umgang des katholischen Erzbistums Köln mit Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs vorgestellt. In der Untersuchung finden sich Hinweise auf 202 Missbrauchs-Beschuldigte und auf 75 Pflichtverstöße von Kirchenverantwortlichen. Als Reaktion auf die Veröffentlichung hat der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki zwei Mitarbeiter vorläufig von ihren Dienstpflichten entbunden. Der im Gutachten schwer belastete Hamburger Erzbischof Stefan Heße hat zudem einen Amtsverzicht angeboten. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) forderte, dass die katholische Kirche endlich alles dafür tun müsse, damit sich entsetzliche Verbrechen gegen Kinder nicht wiederholten. Es berichten SZ (Annette Zoch), FAZ (Daniel Deckers), taz (Andreas Wyputta), spiegel.de (Felix Bohr/Julia Jüttner) und LTO. In einem getrennten Artikel interviewt spiegel.de (Felix Bohr/Julia Jüttner) die Autoren des Gutachtens Björn Gerke und Kerstin Stirner, die den Entstehungsprozess der Untersuchung darstellen.

Matthias Drobinski (SZ) kommentiert das Gutachten und stellt fest, dass noch ein Perspektivwechsel ausstehe, "weg von den Bedürfnissen der Institution hin zur Sichtweise der Betroffenen". Daniel Deckers (FAZ) stellt fest, dass "Kinderschänder" in der katholischen Kirche in einem System der organisierten Verantwortungslosigkeit sicher sein konnten vor Sanktionen und ein echter Neuanfang in der "missbrauchsverseuchten" Kirche kaum zu erwarten sei. Simone Schmollack (taz) findet, dass das Gutachten bei weitem nicht die Erkenntnisse liefere, die eine umfassende Aufarbeitung brauche. Es sei allenfalls ein Anfang. Christian Geyer (FAZ) hingegen hofft, dass die bereits gezogenen personellen Konsequenzen Schule machen könnten.

Rechtspolitik

Stiftungsunternehmen: Rechtsprofessor Mathias Habersack, der Unternehmensberater Péter Horváth und der Rechtsanwalt Rainer Kirchdörfer erörtern in der FAZ in einem ganzseitigen Beitrag die Frage, ob Deutschland eine neue Rechtsform für verantwortungsvolle Unternehmen braucht. Die Autoren diskutieren zunächst die GmbH in Verantwortungseigentum, die auf einen Systembruch abziele und daher rechtlich sehr problematisch sei. Sie sind der Meinung, dass das bereits vorhandene Stiftungsrecht sowohl Familienunternehmen als auch Start-ups enorme Möglichkeiten biete. Es sei daher eher eine Reform des Stiftungsrechts und nicht die Schaffung einer neuen Rechtsform erforderlich.

Insolvenzrechtstag: In seiner Eröffnungsrede zum diesjährigen Deutschen Insolvenzrechtstag hat Rechtsanwalt Jörn Weitzmann für eine ordnungspolitischen Rahmen geworben, um den in der Pandemie gebeutelten Unternehmen mehr Sicherheit für ihre Zukunft zu geben, wie die FAZ (Marcus Jung) schreibt.  Bundesjustizministerin Christine Lambrecht stellte bei der digitalen Veranstaltung fest, dass die Pandemie das Sanierungs- und Insolvenzrecht ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt habe. Es solle verhindert werden, dass Unternehmen wegen der Pandemie aufgeben müssten, obwohl sie ein funktionierendes Geschäftsmodell hätten.

Justiz

BVerfG zu AfD-Flügel: In einem Eilverfahren hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es vorläufig keinen Bedarf sehe, dem Verfassungsschutz zu untersagen, Angaben über die Zahl der Flügel-Anhänger in der AfD zu machen, wie FAZ (Helene Bubrowski) und LTO berichten. Mit dem Eilantrag wollte die Partei erreichen, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht öffentlich bekanntgeben darf, dass 7000 Parteimitglieder zum inzwischen aufgelösten sogenannten Flügel gehörten. Das Bundesverfassungsgericht hielt den Antrag jedoch für nicht ausreichend begründet, unter anderem sei eine Grundrechtsverletzung nicht hinreichend dargelegt worden.

EuGH – Pipeline Opal: Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs empfahl in seinen Schlussanträgen, dass Deutschland gemäß dem Grundsatz der Energiesolidarität russische Erdgaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream nicht ausweiten dürfe. In dem vor dem Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren geht es um die Pipeline Opal, eine Verlängerung der Ostsee-Pipeline Nord Stream, durch die der russische Konzern Gasprom Gas durch Ostdeutschland weiter nach Tschechien leitet. Polen hatte sich gegen eine stärkere Nutzung der Opal-Pipeline gewandt, da so die Lieferung von Gas über konkurrierende Pipelines in Osteuropa gedrosselt werde, was zu Versorgungsunsicherheit in Polen führe. In seinen Schlussanträgen folgte der Generalanwalt nun der Ansicht Polens zur europäischen Energiesolidarität und empfahl, die Rechtsmittel Deutschlands gegen den entsprechenden Beschluss des Gerichts der Europäischen Union zurückzuweisen, wie die FAZ (Hendrik Kafsack) und LTO schreiben.

BGH zur Modernisierung von Mietwohnungen: Der Bundesgerichtshof hat in der bundesweit ersten mietrechtlichen Musterfeststellungsklage entschieden, dass es nicht rechtsmissbräuchlich war, dass eine Münchner Immobilienfirma kurz vor dem Inkrafttreten einer mieterfreundlichen Neuregelung noch umfangreiche Modernisierungsmaßnahmen und damit einhergehende Mieterhöhungen angekündigt hatte, wie SZ (Wolfgang Janisch/Anna Hoben), FAZ (Marcus Jung), Hbl (Carsten Herz), tagesschau.de (Claudia Kornmeier) und LTO berichten. Vielmehr stellte das Gericht fest, dass kein enger zeitlicher Zusammenhangs zwischen der Modernisierungsankündigung und dem voraussichtlichen Beginn der Modernisierungsmaßnahmen im Sinne einer Höchstfrist oder eines fortgeschrittenen Planungsstandes erforderlich sei. Der klagende Münchner Mieterverein prüft nun weitere juristische Möglichkeiten.

VerfGH Berlin zu Wahlrecht und Corona: Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass die wegen Corona geänderten Regeln zur Teilnahme kleiner Parteien an den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen verfassungswidrig sind, wie LTO berichtet. Die im Berliner Wahlgesetz vorgeschriebene Mindestanzahl von Unterstützungsunterschriften, die nicht im Abgeordnetenhaus vertretene Parteien beibringen müssen, sei angesichts der außergewöhnlichen Bedingungen in der Pandemie immer noch zu hoch.

VerfGH Bayern – Kultur und Corona: Prominente Musikerinnen und Musiker haben eine Popularklage gegen die coronabedingte Schließung von kulturellen Einrichtungen vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof erhoben. Es soll geklärt werden, ob das Verbot von Kulturveranstaltungen mit der Bayerischen Verfassung vereinbar sei, meldet die FAZ.

VGH BaWü zu Impfprivilegien: Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat ein Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg bestätigt, wonach ein Seniorenheim auch gegen das Coronavirus geimpfte oder daran genesene Heimbewohnerinnen und -bewohner nicht gesondert bewirten darf. Es sei wissenschaftlich nicht ausreichend geklärt, ob geimpfte oder genesene Personen das Virus weitergeben könnten, wie swr.de (Christoph Kehlbach) und LTO berichten.

VGH BaWü zur Quarantäne von Kontaktpersonen: Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat eine Vorschrift des Landesrechts vorläufig außer Vollzug gesetzt, wonach auch Kontaktpersonen von Kontaktpersonen von Corona-Infizierten automatisch in Quarantäne müssen, wie swr.de (Christoph Kehlbach) berichtet. Da es sich um einen erheblichen Grundrechtseingriff handele, müsse es eine gesetzliche Grundlage dafür geben, die im Infektionsschutzgesetz aber nicht zu finden sei.

OLG Dresden zu Freital-Anschlägen: Das Oberlandesgericht Dresden hat drei Personen wegen Beihilfe zur rechtsextremen Anschlagserie im sächsischen Freital und Unterstützung der rechtsterroristischen Gruppe Freital zu Bewährungsstrafen zwischen ein und zwei Jahren verurteilt. Im Sommer 2015 wurden in der Stadt bei Dresden Asylunterkünfte mit präparierten Böllern angegriffen und ein Geflüchteter dabei verletzt. Die taz (Konrad Litschko) nimmt dieses Urteil zum Anlass, die bereits erfolgte juristische Aufarbeitung der Anschlagserie Revue passieren zu lassen.

OLG Frankfurt/M. zu Elternstreit über Impfung: Laut FAZ (David Klaubert) und LTO hat das Oberlandesgericht Frankfurt entschieden, dass über eine Schutzimpfung für das gemeinsame Kind der Elternteil entscheiden darf, der sich an den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission orientiert. Das Gericht hat mit dieser Begründung die Beschwerde eines Vaters abgewiesen, der gegen die Impfung seines Kindes vorgehen wollte.

OLG Schleswig – "Stealthing": Wie spiegel.de (Ansgar Siemens) schreibt, wird am heutigen Freitag ein Fall des sogenannten Stealthing vor dem Oberlandesgericht Schleswig verhandelt. Während dem Sex hatte der angeklagte Mann das Kondom abgezogen, dessen Benutzung die Frau jedoch zur Bedingung sexueller Handlungen gemacht hatte, und ejakulierte in ihren Körper. In erster Instanz hatte das Amtsgericht Kiel eine Strafbarkeit der Handlung abgelehnt. In einem ähnlich gelagerten Fall hatte das Kammergericht Berlin gegenteilig entschieden. Sollte nun das Oberlandesgericht in Schleswig das Urteil aus Kiel bestätigen, könnte die Frage den BGH erreichen, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.

LG Fulda zu Flugunfall: Wie die FAZ (Sebastian Eder) in einem ausführlichen Bericht darstellt, hat das Landgericht Fulda einen Mann, der mit einem Kleinflugzeug über die Landebahn eines Flugplatzes hinausschoss und dabei eine Frau mit ihren zwei Kindern tötete, wegen fahrlässiger Tötung in drei Fällen verurteilt.

LG Hamburg zu Spahn-Villa: Wie sich aus einem Beschluss des Landgerichts Hamburg ergibt, will  Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht mehr gegen Medien vorgehen, die über den Kaufpreis seiner Villa in Berlin-Dahlem von rund 4 Millionen Euro berichten, wie der Tsp (Jost Müller-Neuhof) schreibt.

VG Schleswig – Daimler Diesel-Rückruf: Laut FAZ (Martin Gropp) wehrt sich der Autohersteller Daimler in mehreren Klagen vor dem Verwaltungsgericht Schleswig gegen vom Kraftfahrt-Bundesamt in den vergangenen Jahren angeordnete Rückrufe von mehr als einer Million Mercedes-Dieselfahrzeugen. Das Gericht geht davon aus, dass wegen der Komplexität der Verfahren nicht vor Mitte nächsten Jahres mit einer mündlichen Verhandlung zu rechnen sei.

GenStA Bamberg – Anlagebetrug: Die Ermittler der bei der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg angesiedelten Zentralstelle Cybercrime Bayern ließen in der bulgarischen Hauptstadt Sofia Büros und Privatwohnungen durchsuchen und fünf Personen festnehmen, wie die SZ (Uwe Ritzer) berichtet. Sie sollen Trading-Plattformen im Internet betrieben haben, die Menschen dazu animieren, größere Beträge in vermeintliche Anlagen zu investieren, die dann direkt in die Kassen der kriminellen Banden flossen.

StA Saarbrücken - Manipulation bei der Linken: Laut taz (Christoph Schmidt-Lunau) hat die Staatsanwaltschaft Saarbrücken gegen den saarländischen Landesvorsitzenden der Linken, Thomas Lutze, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Urkundenfälschung eingeleitet. Lutze wird von Parteimitgliedern beschuldigt, bei der für ihn erfolgreichen Listenaufstellung im Jahr 2017 Stimmen gekauft zu haben.

Recht in der Welt

Türkei – Oppositionspartei angeklagt: Die prokurdische Partei HDP hat alle demokratischen Kräfte in der Türkei zum Zusammenschluss gegen die Regierung von Präsident Erdogan aufgerufen, nachdem sie vor dem türkischen Verfassungsgericht mit dem Ziel eines Parteiverbots angeklagt wurde, wie SZ (Tomas Avenarius), FAZ (Rainer Hermann) und taz (Wolf Wittenfeld) berichten. In der Anklage werden 687 namhafte prokurdische Politikerinnen und Politiker genannt, ihnen droht ein fünfjähriges Politikverbot.

In einem separaten Kommentar geht Tomas Avenarius (SZ) davon aus, dass Erdogan in der Bevölkerung immer mehr den Rückhalt verliere und es daher für ihn reizvoll sei, "das Feld schon vor dem Wahlgang zu sortieren", der 2023 ansteht.

Dänemark – harte Corona-Strafen: Laut SZ (Kai Strittmatter) haben dänische Gerichte Teilnehmende an Ausschreitungen bei Corona-Demonstrationen härter bestraft als üblich. Nachdem letztes Jahr ein Gesetz verabschiedet worden war, wonach Richter die Strafen für Taten verdoppeln können, die in "einem Zusammenhang mit der Corona-Epidemie" stehen, ist in dem Land eine Diskussion um zu harte Strafen für Protestierende gegen Corona-Maßnahmen entbrannt.

Spanien – Suizidhilfe: Laut FAZ (Hans-Christian Rößler) hat Spanien als viertes Land in der Europäischen Union die Suizidhilfe legalisiert. Das neue Gesetz soll garantieren, dass Patientinnen und Patienten, die unheilbar krank sind oder an schweren Behinderungen leiden, Suizidhilfe erhalten können. Die rechtspopulistische Vox-Partei kündigte an, das Verfassungsgericht zu dem neuen Gesetz anzurufen.

Frankreich – Eheliche Pflichten: Das französische Kassationsgericht hat ein Urteil des Berufungsgerichts in Versailles bestätigt, bei welchem eine Frau in einem Scheidungsprozess für allein schuldig erklärt wurde, da sie ihrem Ehemann über längere Zeit sexuelle Kontakte verweigerte, wie die taz (Rudolf Balmer) berichtet. Verschiedene Frauenrechtsorganisationen äußerten sich bestürzt über das Urteil und bekräftigten, dass die Ehe keine sexuelle Leibeigenschaft sein dürfe. Die betroffene Französin möchte gegen das Urteil nun Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen.

Sonstiges

Corona - Infektionsschutzgesetz: Im Verfassungsblog erläutert der wissenschaftliche Mitarbeiter Johannes Gallon, warum § 28a III Infektionsschutzgesetz die zuständigen Behörden rechtlich dazu verpflichte, die dort genannten Schwellenwerte von 50 und 35 einzuhalten und Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu treffen und zu verschärfen, wenn diese Werte überschritten sind.

Kanzlei-Marketing: Auf LTO beschreiben die Unternehmensberater Barbara Helten und Adrian Raub, wie sich Kanzleien in der Pandemie anpassen. Eine Studie unter englischen und amerikanischen Kanzleien zeige, dass Business-Development- und Marketing-Teams im letzten Jahr stark an Bedeutung gewonnen hätten.

 

Das Letzte zum Schluss

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.

Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ls

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. März 2021: Gutachten zu Missbrauch in der Kirche / BVerfG zu AfD-Flügel / Türkei will prokurdische Partei verbieten . In: Legal Tribune Online, 19.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44538/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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