Die juristische Presseschau vom 14. Januar 2021: Pro­zess­be­ginn Stutt­garter Kra­wall­nacht / Gesch­lech­ter­ge­rechtes Völ­ker­straf­recht? / Klage gegen EY

14.01.2021

Stuttgarter Prozess gegen zwei Jugendliche wegen Beteiligung in der Krawallnacht beginnt. Völkerrechtler argumentieren für ein geschlechtergerechtes Völkerstrafrecht. Erste Klage gegen die Wirecard-Wirtschaftsprüfer EY eingereicht. 

Thema des Tages

LG Stuttgart – "Krawallnacht": Vor der Jugendkammer des Stuttgarter Landgerichts begann der Prozess gegen zwei mutmaßliche Beteiligte der Ausschreitungen in der Stuttgarter Innenstadt vom Juni letzten Jahres. Den beiden zur Tatzeit 19- und 16-jährigen Deutschen wird insbesondere gemeinsamer versuchter Totschlag vorgeworfen. Sie sollen im Verlauf der Ausschreitungen einen Mann zu Boden geschlagen und anschließend gegen dessen Kopf getreten haben; sie hätten so dessen Tod zumindest billigend in Kauf genommen. Im Zusammenhang mit der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht wurden inzwischen circa 120 Tatverdächtige ermittelt, ein Großteil davon ist 21 Jahre oder jünger. Es berichten spiegel.de und die SZ (Claudia Henzel), die sich schwerpunktmäßig auch mit der Öffentlichkeit des Verfahrens befasst. Zu Beginn der Verhandlung wurde erörtert, dass die Verhandlung auf Wunsch der Anwälte eines der minderjährigen Angeklagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden wird. Der Vorsitzende Richter Christian Klotz und die Staatsanwältin hielten den Ausschluss der Öffentlichkeit jedoch wohl grundsätzlich für abdingbar. Im Zusammenhang mit der Stuttgarter Krawallnacht seien jugendstrafrechtliche Prinzipien bereits von Politikern und der Deutschen Polizeigewerkschaft infrage gestellt und harte Urteile begrüßt worden.

Rechtspolitik

Verfassungsschutz MV: Wie die SZ, FAZ und taz melden, hat Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Torsten Renz (CDU) den Leiter des Landesverfassungsschutzes, Reinhard Müller, in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Müller hatte zugegeben, dass der Landesverfassungsschutz Informationen über den islamistischen Terroristen Anis Amri Anfang 2017 zu spät an die zuständigen Ermittler in Berlin und im Bund weiterleitete. Das Verhalten war im Bundestag scharf kritisiert worden. Amri tötete am 19. Dezember 2016 in Berlin mit einem Lastwagen elf Menschen.

Umsetzung EU-Urheberrecht: Carsten Knop (FAZ) plädiert in einem Seite-Eins-Kommentar für die ersatzlose Streichung der Bagatellschranke im Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums zur Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform. Der im Oktober letzten Jahres veröffentlichte Referentenentwurf enthält eine sogenannte Bagatellschranke, die kleinere Werke zur freien Verwendung für jedermann zulässt, sofern keine kommerziellen Ziele verfolgt werden, obwohl es sich dabei auch um urheberrechtlich geschützte Werke handelt. Diese Schranke aber verkehre den Zweck der EU-Richtlinie ins Gegenteil und spiele großen Medienplattformen wie Twitter und Co. in die Hände, meint Knop.

Fraktionsgelder: Nun schreibt auch die FAZ (Peter Carstens) über den Bericht des Bundesrechnungshofs, wonach die Bundestagsfraktionen ihre zweckgebundenen Mittel zur Parteienwerbung missbrauchen. Dieser Missstand sei laut dem Bericht aber keine Neuheit, der Bundestag gehe dennoch nicht dagegen vor.

Digitaler Raum: Wenn der Staat den digitalen Raum amerikanischen und chinesischen Plattformbetreibern überlässt, verliere er seine Gestaltungskraft. Das betreffe sowohl das Sozialstaats-, das Rechtsstaats- und auch das Demokratieprinzip, meint der scheidende Intendant des Bayrischen Rundfunks Ulrich Wilhelm im Gespräch mit der FAZ (Reinhard Müller). Europa müsse deshalb die Plattformen nicht nur regulieren, sondern "eine eigene Infrastruktur aufbauen", damit Kernelemente wie die digitale Identität in öffentlicher Hand bleiben.

Suizidhilfe/Sterbehilfe: In der FAZ-Rubrik Staat und Recht plädiert der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof für eine neue Beurteilung des geltenden Rechts zur Sterbehilfe. Dies sei ethisch geboten und die Trennung zwischen strafloser Beihilfe zur Selbsttötung und strafbarer Tötung auf Verlangen sei konstruiert und bedürfe angesichts "der modernen Medizin einer neuen Auslegung".

Justiz

EuGH – Zuständigkeit für Facebook: Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ist in der Regel nur die Datenschutzbehörde am Sitz des Unternehmens zuständig. Im Fall von Facebook ist dies die irische Datenschutzbehörde. Nur in Ausnahmefällen könne eine Datenschutzbehörde aus einem anderen EU-Mitgliedstaat ein Verfahren einleiten, etwa bei großer Dringlichkeit. Diese Empfehlung zur Auslegung der Datenschutzgrundverordnung sprach der zuständige Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs Michal Bobek in seinen Schlussanträgen für das Vorabentscheidungsverfahren eines belgischen Gerichts aus. Nach Auffassung Bobeks konnte die belgische Datenschutzbehörde kein Verfahren gegen Facebook einleiten, weil keine Ausnahme vorlag. Es berichten die taz (Christian Rath) und LTO. Das EuGH-Urteil wird in wenigen Wochen erwartet.

BVerfG – EU-Einheitspatent: Das Bundesverfassungsgericht bat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, mit der Unterzeichnung des für die Einführung des europäischen Einheitspatents notwendigen Gesetzes zu warten, bis das Gericht über einen Eilantrag entschieden habe. Steinmeier erklärte, dieser Bitte nachzukommen. Das EU-Einheitspatent soll schon lange eingeführt werden, so LTO. Allerdings ist die dafür notwendige Einrichtung eines Einheitlichen Patentgerichts (EPG) seit Jahren aufgrund der fehlenden Zustimmung Deutschlands blockiert. Nun liegen erneut zwei Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz vor.  

BGH – Eltern lassen Kind sterben: Der Bundesgerichtshof prüft die Verurteilung eines Elternpaars wegen fahrlässiger Tötung ihrer Tochter. Die Eltern und die größere Schwester sollen der damals 20-Jährigen zwei Tage lang beim Sterben zugesehen haben. Die Frau, die das Down-Syndrom aufwies, war von Geburt an an Diabetes und einem Herzklappenfehler erkrankt, die Eltern hatten die Blutzuckerwerte aber bis zu den letzten Tagen im Griff. Das Landgericht Limburg glaubte den Eltern, dass sie die Lage zuletzt nur falsch eingeschätzt hatten und verurteilte sie Ende 2019 wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren auf Bewährung und sprach die ältere Tochter frei. Nun könnte der BGH das Limburger Urteil wegen eines durchgreifenden formalen Fehlers kippen, berichtet die SZ (Wolfgang Janisch). So fehle in dem Urteil eine "Gesamtwürdigung der fahrlässigen Tötung". Möglicherweise hätten die Berufsrichter des LG-Spruchkörper dies als Sollbruchstelle eingefügt, weil die Entscheidung mit drei zu zwei Stimmen ergangen war, und für eine Verurteilung wegen vorsätzlichem Totschlag eine Vier-zu-eins Mehrheit erforderlich gewesen wäre. 

OLG Frankfurt/M. – Völkermord an Jesidinnen: Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main wird derzeit der weltweit erste Prozess wegen Völkermordes an Jesidinnen geführt. Als Mitglied des sogenannten Islamischen Staates (IS) soll der angeklagte Iraker Taha A.-J. eine jesidische Frau und ihre kleine Tochter gekauft und versklavt haben, und anschließend das Mädchen vor den Augen der Mutter verdurstet haben lassen. Ihm werden daher unter anderem Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) vorgeworfen. Im Dezember stellte die Nebenklage zudem den Antrag, "geschlechts- und religionsbezogene Verfolgung" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7 Abs. 1 Nr. 10 VStGB in die Anklage mitaufzunehmen. In einem Gastbeitrag auf LTO erörtern der Akademische Assistent Alexander Schwarz und die Völkerstrafrechtlerin Alexandra Lily Kather den Tatbestand der geschlechtsbezogenen Verfolgung und kritisieren, dass dieser bisher im Völkerstrafrecht allgemein nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

OLG Celle – zwei Mütter: Das Oberlandesgericht Celle verhandelte den Fall zweier Ehepartnerinnen, die vom Standesamt als gleichberechtigte Mütter ihrer Tochter Paula in der Geburtsurkunde eingetragen werden wollen. Während bei heterosexuellen Ehepaaren der Vater automatisch in die Geburtsurkunde eingetragen wird, ist dies bei Ehepartnerinnen in gleichgeschlechtlichen Ehen nicht der Fall. Dies gehe nach Angaben der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Klägerinnen unterstützt, vor allem zulasten des Kindes, da es keinerlei Ansprüche gegenüber seine Zweitmutter habe. Laut spiegel.de arbeitet das Bundesjustizministerium derzeit an einer Reform des Abstammungsrechts. Denn bereits 2018 deutete der BGH in einem ähnlich gelagerten Fall auf die Notwendigkeit einer solchen Reform hin. Das Urteil des OLG wird in einigen Wochen schriftlich mitgeteilt.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Annette Ramelsberger (SZ) portraitiert Mustafa Kaplan, den Anwalt von Stephan E., der als Haupttäter angeklagt ist. Kaplan war bereits Anwalt eines Geschädigten im NSU-Verfahren und vertrat auch schon den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Streit gegen Jan Böhmermann. Im Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/Main hält Kaplan am heutigen Donnerstag seinen Schlussvortrag.

LG Stuttgart – Wirecard-Anleger/EY: Nach Berichten des Hbl (Bert Fröndorff/Felix Holtermann) legte die Berliner Investmentgesellschaft "Invivo Capital" Klage beim Stuttgarter Landgericht gegen Wirecards langjährigen Bilanzprüfer Ernst & Young (EY) ein. Sie verlangt von EY Schadensersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach Paragraf 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Zwar haften Abschlussprüfer gegenüber Mandanten grundsätzlich nur bis zu einer gesetzlichen Höhe, bei vorsätzlichem sittenwidrigem Verhalten wird diese Beschränkung jedoch aufgehoben. EY soll Wirecards Treuhandkonten in Asien nicht ordnungsgemäß geprüft haben. Der Fall könnte damit als "Blaupause für Tausende andere Anlegerklagen" dienen, die EY drohen, vermutet das Hbl.

LG Berlin – Abou Chaker/Bushido: Das Berliner Landgericht verhandelte erneut im Fall Arafat Abou-Chaker, dessen Hauptbelastungszeuge der Rapper Bushido ist. Die Details zum Verhandlungstag bringen spiegel.de (Wiebke Ramm), die SZ (Verena Mayer) und FAZ (Swaantje Marten). Aufgrund der Coronapandemie wird allerdings nicht mehr bis Nachmittags verhandelt, sondern nur bis mittags.

Ärztliche Atteste: In seiner Reihe "Meine Urteile" in der Zeit schreibt Richter Thomas Melzer diesmal über unwahre ärztliche Atteste und den Schaden, den solche falsch ausgestellte Atteste nicht nur für das Vertrauen in die Ärzteschaft haben können.

Recht in der Welt

Italien – 'Ndrangheta: Der erste Verhandlungstag im Mammut-Prozess gegen den Mancuso-Clan der kalabrischen Mafiaorganisation 'Ndrangheta begann am gestrigen Mittwoch mit der Verlesung der Namen der 355 Angeklagten. Wie nun auch die FAZ (Matthias Rüb) berichtet, wurde eigens für den Prozess eine Lagerhalle umgebaut. Zudem portraitiert nun auch die FAZ (Matthias Rüb) in einem separaten Text den Chefstaatsanwalt Nicola Gratteri.

USA – Abtreibungspille: Frauen, die eine Abtreibungspille erhalten möchten, müssen trotz der Coronapandemie eine Klinik oder Arztpraxis persönlich aufsuchen. Dies entschied der Oberste Gerichtshof der USA in seiner ersten Entscheidung zu Schwangerschaftsabbrüchen mit der konservativen Richterin Amy Coney Barrett. Eine untere Instanz, so LTO, hatte zuvor erlaubt, dass aufgrund der Pandemie Abtreibungstabletten in den ersten Schwangerschaftswochen per Post verschickt werden dürfen. Diese Anordnung hob der Supreme Court jetzt wieder auf.

USA – Insurrection Act: In einem Interview mit der FAZ (Reinhard Müller) diskutiert der US-amerikanische Rechtsprofessor Russell Miller die juristische Möglichkeiten eines Putsches des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump mit Hilfe des Militärs durch einen sogenannten "Insurrection Act", also einem Einsatz der Streitkräfte am Kongress vorbei.

Polen – Rechtsstaat: Fünf Jahre nachdem die EU-Kommission das Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Polen einleitete, rekapitulieren und kritisieren der Rechtsprofessor Laurent Pech, Jurist Patryk Wachowiec und Richter Dariusz Mazur auf verfassungsblog.de (in englischer Sprache) in einem ersten von zwei Beiträgen die letzten zwölf Monate gerichtlicher Entscheidungen in Polen und der Passivität der EU-Kommission und des EU-Rats trotz der nicht mehr existenten gerichtlichen Unabhängigkeit in Polen.

Ägypten – Influencerinnen: Zwei ägyptische Influencerinnen sind von einem Berufungsgericht in Ägypten freigesprochen worden, berichtet spiegel.de. Die vorherige Instanz hatte die zwei Frauen auf Grundlage eines 2018 eingeführten Gesetzes zu Kriminalität im Internet noch wegen "Verletzung von Familienwerten" zu Haft- und Geldstrafen verurteilt. Die Frauen hatten Videos von sich beim Singen und Tanzen beim sozialen Netzwerk Tiktok hochgeladen.

Sonstiges

Brexit/Arbeitsrecht: Zwar verhindere das Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU im Arbeitsrecht den Bruch mit der über Jahrzehnte entstandenen EU-Gesetzgebung, allerdings werden die Parteien langsam auseinanderdriften, meinen die Rechtsanwältin Annabelle Marceau und die Rechtsanwälte Alexander Willemsen und Wolfgang Kotzur auf LTO. Außerdem erörtern sie, welche Änderungen die neuen Regelungen für Kanzleien beider Seiten mit sich bringe.

Das Letzte zum Schluss

Corona – Hundefriseure: Das derzeitige Verbot von Friseurdienstleistungen umfasst nicht das Frisieren und Krallenschneiden von Hunden in Hundefrisiersalons, sondern beziehe sich nur auf solche Arbeiten am Menschen. Das entschied das Landgericht Münster in einem Eilverfahren und gab einer Hundesalon-Betreiberin Recht, wie die SZ und taz melden.

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lto/ali

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 14. Januar 2021: Prozessbeginn Stuttgarter Krawallnacht / Geschlechtergerechtes Völkerstrafrecht? / Klage gegen EY . In: Legal Tribune Online, 14.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43985/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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