Die juristische Presseschau vom 18. Dezember 2020: BGH: Die­sel­klagen aus 2019 ver­jährt / Diesel-Kla­ge­welle nach EuGH-Urteil? / Ungarns Flücht­lings­po­litik rechts­widrig

18.12.2020

Der BGH traf eine Entscheidung zur Verjährung von Dieselklagen. Ermöglichte der EuGH eine neue Diesel-Klagewelle? Der EuGH urteilte zudem u.a. zu Ungarns Flüchtlingspolitik, Auslieferungen nach Polen und französischem Käse.

Thema des Tages

BGH zu VW-Dieselskandal: Wer bereits 2015 um den Dieselskandal wusste, kann 2019 oder später nicht mehr auf Kaufpreisrückzahlung Zug-um-Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs klagen. In einem Musterfall hatte sich VW auf Verjährung berufen, was nun vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde. Wer damals nachweislich wusste, dass auch sein Auto betroffen ist, hätte demnach bis spätestens Ende 2018 klagen müssen. Laut VW sind noch rund 9.000 Verfahren offen, in denen erst 2019 oder 2020 geklagt wurde. VW-Anwältin Martina van Wijngaarden wies daraufhin, dass in vielen dieser Fälle noch streitig sei, ob Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis schon 2015 vorlag. Die FAZ (Marcus Jung) berichtet. LTO und spiegel.de berichten zudem über weitere, bereits terminierte Verhandlungen vor dem BGH in Sachen VW-Dieselskandal.

EuGH zu Abschalteinrichtungen: Die Abgasreduzierung im Motor darf nur dann abgeschaltet werden, wenn am Motor plötzliche unmittelbare Schäden drohen, die zu einer konkreten Gefahr beim Fahren führen. Das entschied der Europäische Gerichtshof nach einer Vorlagefrage aus Frankreich. In dem Verfahren hatte sich VW auf eine deutlich weitere Auslegung der betroffenen EU-Verordnung berufen, die eine Abschaltung der Abgasreduzierung bereits bei drohender Verschmutzung des Motors erlaubt. Vermutlich sind damit so genannte "Thermofenster", die die Abgasminderung bei kalten Temperaturen ausschalten, unzulässig. taz (Christian Rath), FAZ (Martin Gropp/Marcus Jung) und swr.de (Gigi Deppe) geben einen Überblick. In der SZ (Markus Balser u.a.) kommt Rechtsprofessor Michael Heese zu Wort, demzufolge Verbraucher kaum von der Entscheidung profitieren könnten. Die Autohersteller beriefen sich bisher erfolgreich darauf, dass die Reichweite der Motorschutzausnahme früher nicht absehbar gewesen sei. Laut LTO (Felix W. Zimmermann) plane die Deutsche Umwelthilfe, eine Rückrufaktion des Kraftfahrtbundesamtes ggf. gerichtlich erzwingen zu wollen.

Rechtspolitik

BMJV Lambrecht – Zwischenbilanz: Auf LTO (Annelie Kaufmann/Markus Sehl) gibt es einen Überblick über die Gesetzgebung unter der derzeitigen Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). Einer aktuellen Auflistung zufolge sind es für diese Legislaturperiode rund 80 abgeschlossene Gesetze und Verordnungen. Der Beitrag geht u.a. auf die Schwierigkeiten in Lambrechts Prestige-Projekt, der Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz, sowie auf das aktuelle Verhältnis des Bundesjustizministeriums zum Bundesinnenministerium ein.

Personenkennziffer: netzpolitik.org (Serafin Dinges) präsentiert Lob und Kritik aus der Expertenanhörung im Bundestag zur geplanten Nutzung der Steuer-ID als bundesweite Personenkennziffer. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber etwa befürchtet die Einführung eines aus seiner Sicht verfassungswidrigen einheitlichen Personenkennzeichens. Stattdessen sprach er sich für eine Alternative mit sogenannten bereichsspezifischen Ziffern aus.

Sanierungs- und Insolvenzrecht: Der Bundestag hat die umfassende Reform des Sanierungs- und Insolvenzrechts beschlossen. Künftig benötigen etwa angeschlagene Unternehmen nicht mehr die Zustimmung sämtlicher Gläubiger, um sich ohne Insolvenzverfahren zu sanieren. Die SZ (Katharina Kutschke) gibt einen Überblick im Frage-und-Antwort-Format. In der taz kann man über die Auswirkungen für überschuldete Verbraucher lesen.

Insolvenzantragspflicht: Wie spiegel.de berichtet, wurde zudem die Insolvenzantragspflicht für Unternehmen, die coronabedingt überschuldet, aber nicht zahlungsunfähig sind, auch für den kommenden Januar ausgesetzt.

Corona – Verdienstausfall von Eltern: Auch Eltern, bei deren Kindern kein Präsenzunterricht mehr in der Schule stattfindet oder wo die Schulferien verlängert wurden, können eine Verdienstausfallentschädigung von maximal 2016 Euro pro Monat erhalten. Über diese nunmehr beschlossene Ergänzung des § 56 Ia Infektionsschutzgesetz berichten LTO (Hasso Suliak) und taz (Barbara Dribbusch). Weiterhin ausgeschlossen ist der Anspruch, wenn in den Kitas eine Notbetreuung angeboten wird.

Corona – Gewerbemieten: Sind Geschäftsräume infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erheblicher Einschränkung verwendbar, so kann nunmehr leichter auf eine Vertragsanpassung im Rahmen der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch) zurückgegriffen werden. Diese und weitere Änderungen im Gewerbemietrecht hat der Bundestag wegen der Corona-Pandemie beschlossen. Rechtsanwalt Marvin Rochner stellt die Einzelheiten auf LTO vor.

Corona – Impfung: Die FDP hat einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, mit dem die Reihenfolge der Impfungen gegen Corona geregelt werden soll. Die von der Bundesregierung geplante Rechtsverordnung reiche dafür nicht aus, argumentierten die Freidemokraten laut FAZ (Kim Björn Becker/Eckart Lohse) und erhielten dabei Unterstützung von Linkspartei und Grünen. CDU-Gesundheitspolitiker Rudolf Henke wies die Kritik zurück unter Verweis auf das kürzlich beschlossene dritte Bevölkerungsschutzgesetz, welches eine entsprechende Verordnungsermächtigung enthalte.

Bafin: Die Bundesregierung will die Finanzaufsicht Bafin als Konsequenz aus dem Wirecard-Skandal deutlich umfassender regulieren. Ein entsprechendes Gesetz, das für Bafin-Beschäftigte ein weitgehendes Verbot privater Wertpapiergeschäfte vorsieht, ist laut Hbl (Yasmin Osman u.a.) bereits auf dem Weg. Das Finanzministerium fordere zudem ein umfassendes Meldewesen für private Geschäfte in Finanzinstrumenten.

Lieferketten und Menschenrechte: Wie die taz berichtet, hält der Streit um ein Lieferkettengesetz weiter an. Da es auf Ministerebene bisher keine Einigung gab, soll es nun laut Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Januar ein Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) geben, das endlich eine Klärung bringen soll.

Justiz

EuGH zu Ungarns Flüchtlingspolitik: Zahlreiche ungarische Regelungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht sind europarechtswidrig, entschied der Europäische Gerichtshof. Betroffen sind u.a. sogenannte Transitzonen an den Außengrenzen, in denen Asylbewerber ihre Anträge bisher stellen mussten, haftähnliche Zustände während der Verfahren und Abschiebungen, bei denen abgelehnten Asylbewerbern das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren genommen wurde, wie LTO (Tanja Podolski), SZ (Cathrin Kahlweit), tagesschau.de (Klaus Hempel) und taz (Christian Rath) berichten.

EuGH zu Auslieferungen nach Polen: EU-Staaten dürfen ungeachtet wachsender Zweifel an der Unabhängigkeit der polnischen Justiz kein generelles Auslieferungsverbot verhängen. Der Europäische Gerichtshof entschied laut LTO und FAZ, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls weiterhin nur dann verweigert werden darf, wenn der betroffenen Person tatsächlich ein unfaires Verfahren droht. Dies muss im Einzelfall geprüft werden.

EuGH zu geschützter Ursprungsbezeichnung: Geschützte Ursprungsbezeichnungen (g.U.) können auch das visuelle Erscheinungsbild von Lebensmitteln erfassen. Dies entschied der Europäische Gerichtshof laut LTO und SZ (Michael Kläsgen) und verwies einen Streit um die Käsesorte "Morbier" zurück nach Frankreich.

EuGH zum Schächten: EU-Staaten dürfen nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs auch für rituelle Schlachtungen eine Betäubung des Tieres vorschreiben. Derartige Vorschriften verstießen nicht grundsätzlich gegen das Recht auf Religionsfreiheit, befanden die Richter in Luxemburg. Jüdische und muslimische Vereinigungen waren gegen ein Verbot der Schlachtung ohne Betäubung in der Region Flandern in Belgien gerichtlich vorgegangen. Es berichten LTO und tagesschau.de (Bernd Wolf).

Reinhard Müller (FAZ) lobt die Entscheidung und insbesondere die darin enthaltene Erinnerung an den "weiten Wertungsspielraum", den jeder Mitgliedstaat in solch sensiblen Abwägungsfragen habe.

EuGH zur Beschlagnahme in slowenischer Zentralbank: Slowenien hat mit der einseitigen Beschlagnahme von Dokumenten der Europäischen Zentralbank gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union und die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit gegenüber der Union verstoßen. Zu diesem Urteil kam der EuGH laut LTO.

Nationale Behörden sollten in Ermittlungen gegen nationale Zentralbanken deutlich vorsichtiger vorgehen und sich besser mit den zuständigen EU-Behörden abstimmen. Zu diesem Ergebnis kommt Rechtsprofessor Graham Butler in seiner (englischsprachigen) Analyse des Urteils für den Verfassungsblog.

BVerwG zur Überwachung von Rolf Gössner: Der mittlerweile 72-jährige Verfassungsschutzkritiker Rolf Gössner wurde 38 Jahre lang zu Unrecht vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Zu diesem Ergebnis kam das Bundesverwaltungsgericht nach insgesamt 15 Jahren Verfahrensdauer. taz (Klaus Wolschner) schreibt über das Verfahren sowie den möglichen Anlass der Überwachung.

BAG – Zeitarbeit: Das Bundesarbeitsgericht hat dem Europäischen Gerichtshof eine Frage vorgelegt, mit der geklärt werden soll, inwieweit durch Tarifverträge in der Zeitarbeitsbranche vom Grundsatz der Gleichbehandlung abgewichen werden kann. Für LTO erläutern die Rechtsanwälte Katja Häferer und Benedict Seiwerth die derzeitige Rechtslage auch vor dem Hintergrund des Europarechts.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Nach 39 Verhandlungstagen ist die Beweisaufnahme zum Mord an Walter Lübcke geschlossen, sodass nur noch die Schlussanträge ausstehen, bevor der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. sein Urteil verkünden kann. FAZ (Marlene Grunert) und zeit.de befassen sich mit den verbliebenden Ungewissheiten, insbesondere der Rolle des neben Stephan E. angeklagten Markus H.

OLG Köln zu Tina-Turner-Doppelgängerin: Wie das Oberlandesgericht Köln unter Verweis auf die Kunstfreiheit entschied, durfte ein bayerischer Tour-Veranstalter mit einem Plakat Werbung machen, auf dem eine Tina-Turner-Doppelgängerin zu sehen war. Die echte Turner hatte sich gegen die Darstellung gewehrt, da nicht unmissverständlich klar gemacht worden sei, dass sie in der umworbenen Show "Simply The Best - Die Tina Turner Story" gar nicht auftrete. Wie sowohl LTO als auch spiegel.de schreiben, hat das OLG die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen.

LG Köln zum Versicherungsschutz bei Corona-Schließungen: Versicherungen müssen den Betreibern von Lokalen und Gaststätten keine Entschädigung für die Schließungen im ersten Shutdown zahlen, wenn das Coronavirus eindeutig nicht in den Versicherungsbedingungen enthalten ist. Das hat das Landgericht Köln LTO zufolge in mehreren Verfahren entschieden. In zwei Fällen ging dies zulasten der versicherten Gastronomiebetriebe aus, einmal zulasten der Versicherung.

AG Augsburg – Verstöße gegen Corona-Maßnahmen: Die SZ (Marcel Laskus) widmet ihre Seite 3 dem Amtsgericht Augsburg und dessen Umgang mit Verstößen gegen die Corona-Maßnahmen. Fast 300 Verfahren seien bereits geführt worden, wobei es vorwiegend um Ordnungswidrigkeiten ging. Corona-Leugner seien dort noch nicht vor Gericht gelandet.

Recht in der Welt

CAS/Russland – Sperre wegen Doping : Das Internationale Sportgericht (CAS) reduzierte die ursprünglich von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) verhängte Vier-Jahres-Sperre gegen den russischen Sport auf zwei Jahre. Zugleich bestätigte es zahlreiche vorgesehene Ausnahmen und fügte weitere hinzu. Auslöser für den Bann war, dass Russland eingeforderte Dopingdaten aus dem Moskauer Labor aus den Jahren 2012 bis 2015 vor der Übergabe an die Wada manipuliert und gefälscht haben soll. SZ (Johannes Aumüller), spiegel.de (Jens Weinreich) und LTO berichten.

USA – Facebook und Google: In den USA startet ein weiteres Wettbewerbsverfahren gegen Google. Dem Konzern wird vorgeworfen, den Markt für Werbeanzeigen im Netz mit unfairen Taktiken zu dominieren und dabei auch geheime Absprachen mit Konkurrent Facebook getroffen zu haben. SZ (Jannis Brühl), netzpolitik.org (Alexander Fanta) und Hbl (Thomas Jahn) berichten.

Polen/Ungarn – EU-Rechtsstaatsverfahren: In der SZ spricht sich der emeritierte Rechtsprofessor Christoph Vedder dafür aus, Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn und Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrages bis zum Ende, also dem Entzug des Stimmrechts des Mitgliedsstaates, durchzuführen, anstatt auf den kürzlich beschlossenen finanziellen Sanktions-Mechanismus zu setzen.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/jpw

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. Dezember 2020: BGH: Dieselklagen aus 2019 verjährt / Diesel-Klagewelle nach EuGH-Urteil? / Ungarns Flüchtlingspolitik rechtswidrig . In: Legal Tribune Online, 18.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43778/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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