Die juristische Presseschau vom 9. Dezember 2020: Erhöhung des Rund­funk­bei­trags gestoppt / EuGH zu Staats­an­walt­schaft / Rodungs-Stopp bei Tesla

09.12.2020

Öffentlich-rechtliche Sender planen Verfassungsbeschwerde für die Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Deutsche Staatsanwaltschaft darf – trotz Weisungsbindung – Europäische Ermittlungsanordnungen erlassen. Rodungs-Stopp bei Tesla angeordnet.

Thema des Tages

Rundfunkbeitrag: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) hat den Gesetzentwurf zur Zustimmung des Landes für eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags kurz vor der abschließenden Beratung im Landtag zurückgezogen. Damit kann der umstrittene "Erste Medienänderungsstaatsvertrag" nicht in Kraft treten, womit es in Deutschland vorerst keine Beitragserhöhung von 86 Cent geben wird. Nun kündigten die Rundfunkanstalten der ARD, das ZDF und der Deutschlandfunk an, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einzureichen. Sie wollen den von der staatsfernen "Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten" (KEF) ermittelten höheren Rundfunkbeitrag einklagen. 2007 waren die Sender in einem ähnlichen Verfahren vor dem BVerfG bereits erfolgreich. Das Gericht stellte damals fest, dass die Ministerpräsidenten die Rechte der öffentlich-rechtlichen Sender verletzten als sie hinter der von der KEF empfohlenen Erhöhung zurückblieben. Laut Gericht gebe es insbesondere zwei legitime Gründe von einer solchen Empfehlung abzuweichen: Die Sicherung des Informationszugangs und die Angemessenheit der Belastung der Bürger. LTO (Christian Rath), FAZ (Reinhard Bingener/Constantin van Lijnden) und SZ (Wolfgang Janisch/Claudia Tieschky) berichten über den Vorgang und analysieren die Erfolgsaussichten einer Klage. Dabei sieht die SZ wegen des Präzedenfalls gute Chancen für den Erfolg der Beschwerde. Die FAZ hingegen hält sie für wenig aussichtsreich. Zum einen sei bereits aus formellen Gründen die Zulässigkeit der Beschwerde ungewiss. Zum anderen könnten die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise als legitimer Grund einer Abweichung erachtet werden. LTO weist darauf hin, dass die Abweichung von den KEF-Empfehlungen stets mit zulässigen Gründen begründet werden müsse, was in Sachsen-Anhalt wegen der abgesetzten Abstimmung im Landtag nicht mehr möglich ist.

Reinhard Müller (FAZ) kann die Entscheidung Sachsen-Anhalts nachvollziehen und meint, es bedarf einer grundsätzlichen Diskussion um die Ausgestaltung eines inzwischen weit über sein Sende-Kerngeschäft hinausgewachsenen öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Anderer Meinung ist Detlef Esslinger (SZ) und sieht in der Verweigerung durch Sachsen-Anhalts regierende Politiker den Versuch, "den öffentlich-rechtlichen Rundfunk dafür [zu] bestrafen, dass ihnen dessen Berichterstattung nicht passt".


Rechtspolitik

Sexueller Missbrauch: Am Montag fand im Rechtsausschuss die Anhörung zum Gesetzentwurf zur "Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder" statt. Der Entwurf enthält weitreichende Strafschärfungen im Bereich Kindesmissbrauch und Kinderpornografie. Nach Darstellung von LTO (Hasso Suliak) ist das Gesetz in der Anhörung ganz überwiegend kritisiert worden. Die neue Terminnologie "sexualisierte Gewalt" statt "sexueller Missbrauch" sei überwiegend unpassend. Vor allem aber seien die hohen Mindeststrafen bei leichteren Begehensformen unverhältnismäßig. Es sei noch unklar, wie die Koalition auf die umfassende Kritik der Sachverständigen reagieren wird.

Justiz

EuGH zu Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft: Die deutsche Staatsanwaltschaft darf Europäische Ermittlungsanordnungen (EEA) erlassen, obwohl sie Einzelweisungen der Exekutive unterworfen werden kann. Dies entschied der Europäische Gerichtshof auf ein Vorabentscheidungsersuchen eines österreichischen Gerichts. Dieses hatte sich mit der Frage zu befassen, ob eine von der Hamburger Staatsanwaltschaft beschlossene EEA in Österreich vollstreckt werden darf, obwohl die Staatsanwaltschaft von Weisungen des Hamburger Justizsenators beeinflusst werden kann. In Hinblick auf den Europäischen Haftbefehl (EHB) hatte der EuGH dies noch verneint, weil deutsche Staatsanwaltschaften wegen des Weisungsrechts nicht unabhängig genug seien, so LTO. Zwischen dem Europäischen Haftbefehl (EHB) und einer EEA bestünden laut jetzigem Urteil aber Unterschiede in Verfahren und Eingriffsintensität, weshalb das Weisungsrecht dem Erlass einer EEA durch die deutsche Staatsanwaltschaft nicht entgegenstehe.

VG Frankfurt/O. zu Rodungs-Stopp bei Tesla: Der US-amerikanische Elektroautohersteller Tesla muss die Rodungen auf dem Gelände seiner zukünftigen Fabrik in Grünheide bei Berlin vorerst stoppen. Das Verwaltungsgericht Frankfurt/O. verhängte am Montagabend einen vorläufigen Rodungsstopp. Der Naturschutzbund (Nabu) Brandenburg und die Grüne Liga hatten den Eilantrag gestellt, da die streng geschützten Schlingnattern und Zauneidechsen durch die Abholzung gefährdet seien. Wie unter anderem der Tsp (Thorsten Metzner), die taz-Berlin (Kai Schöneberg) und die FAZ berichten, soll die Entscheidung in der Sache wohl noch diese Woche folgen.  

EuGH zu EU-Entsenderichtlinie: Die Reform der EU-Entsenderichtlinie ist rechtens. Das entschied der Europäische Gerichtshof und wies damit die Klagen von Ungarn und Polen vollumfänglich ab. Die 2018 reformierte Entsenderichtlinie sieht laut LTO verbesserte Lohn- und Sozialstandards für innerhalb der Europäischen Union entsandte Arbeitnehmende vor. So müssen EU-Bürger, die in einem anderen EU-Land arbeiten den gleichen Lohn erhalten wie Einheimische. Die beiden Mitgliedstaaten klagten unter anderem, da sie die europäischen Dienstleistungsfreiheit durch die Reform verletzt sahen.

LVerfG Sachsen-Anhalt zu "Linksextremismus"-Ausschuss: Ein von der AfD beantragter Untersuchungsausschuss zu "linksextremistischen Strukturen" war zu Recht von Sachsen-Anhalts Landtag abgelehnt worden. So entschied das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt und wies damit einen Antrag von 21 AfD-Fraktionsmitgliedern und einem fraktionslosen Abgeordneten zurück. Der Untersuchungsauftrag überschreite die Kompetenzen des Landesparlaments und widerspreche dem Grundsatz der Gewaltenteilung, urteilte das Gericht laut LTO in dem Organstreit. Zudem sei "Linksextremismus" kein juristisch definierter Begriff.

BGH zu Autokauf nach Dieselskandal: Ersteht ein Käufer einen gebrauchten Audi erst nach Bekanntwerden des sogenannten Diesel-Skandals, hat er keinen Anspruch auf Schadensersatz gegen VW. Dies entschied der Bundesgerichtshof, der damit der Revision von VW statt gab. Im Ausgangsfall kaufte ein Mann im Mai 2016 einen gebrauchten Audi. Allerdings hatte VW schon am 22. September 2015 die Öffentlichkeit über die unzulässige Abgastechnik informiert. SZ und LTO berichten, dass in einem ähnlichen Verfahren der BGH bereits im Sommer geurteilt hatte, dass VW ab dem Zeitpunkt im September 2015 kein sittenwidriges Verhalten mehr vorgeworfen werden könne.

BGH zu RAK-Vorstandswahlen: Ein Großteil der im Jahr 2017 gewählten Vorstandsmitglieder der Düsseldorfer Rechtsanwaltskammer sind mit sofortiger Wirkung nicht mehr im Amt, da ihre Wahl ungültig ist. Das entschied der Anwaltssenat am Bundesgerichtshof am Montagabend und beendete damit einen Kleinkrieg zwischen den Anwälten der RAK, wie LTO (Pia Lorenz) schildert. Auch der Präsident der RAK, Herbert P. Schons, müsse sein Amt niederlegen, da er laut BGH gegen das Neutralitätsgebot verstoßen habe, als er seinen Rechenschaftsbericht von 2016 als Wahlkampfrede genutzt haben soll.

OLG München zu Klarnamenpflicht: Facebook darf die Nutzung von Pseudonymen verbieten und bei Verwendung solcher, die Nutzerkonten sperren. Das entschied das Oberlandesgericht München in zwei Fällen zugunsten des sozialen Netzwerks und befand damit die sogenannte Klarnamenpflicht für rechtens. Facebook hatte mit Hinweis auf die in seinen AGB enthaltene Klarnamenpflicht zwei Konten von unter Fantasienamen registrierten Nutzern gesperrt, berichten SZ und zeit.de. § 13 Absatz 6 Satz 1 des deutschen Telemediengesetz (TMG) schreibt zwar grundsätzlich vor, dass Online-Dienste die pseudonyme oder anonyme Nutzung erlauben müssen. Das Gericht legte diese Regelung jedoch europarechtskonform aus, so LTO. Es sei Facebook nicht zumutbar, Pseudonyme zulassen zu müssen. Die Klarnamenpflicht sei geeignet, Nutzer von rechtswidrigem Verhalten im Internet abzuhalten.

Recht in der Welt

Türkei – Wuppertaler Zahnarzt: Wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und wegen Hetze gegen das türkische Volk ist der Wuppertaler Zahnarzt Kristian B. von einem Gericht im türkischen Antalya zu insgesamt 16 Monaten und 20 Tagen Haft verurteilt worden. Die Strafe wurde aber auf fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Wie die SZ (Tomas Avenarius) angibt, wurde Kristian B. beschuldigt, bei seiner Ankunft am Flughafen in Antalya bei einer Auseinandersetzung mit einer türkischen Frau die Türkei beschimpft und den Staatschef, die Türken und den Islam beleidigt zu haben. Der Urlauber sitzt seitdem in Untersuchungshaft.

Iran – Todesurteil für Blogger: Irans oberstes Gericht bestätigte das Todesurteil gegen den iranischen Blogger und Dissidenten Ruholla Sam. Ihm wird vorgeworfen mit seinem Blog Propaganda gegen Irans Führung betrieben zu haben. Eigentlich war Sam nach Frankreich geflohen. Nach Angaben von SZ lockten ihn jedoch iranische Sicherheitskräfte in den Irak, verhafteten ihn dort und brachten in nach Iran zurück. Dort verurteilte ihn im Juni ein Revolutionsgericht in Teheran zum Tode.

USA – Welfenschatz: In einem Beitrag in der FAZ (Patrick Bahners) wird über einen Prozess zur Raubkunst des Nationalsozialismus berichtet, der gerade vor dem Obersten Gericht der Vereinigten Staaten stattfindet. Dabei geht es um das Eigentum an dem Welfenschatz, den der preußische Staat 1935 einigen jüdischen Kunsthändlern abkaufte, und der sich derzeit im Berliner Kunstgewerbemuseum befindet. Allerdings entscheidet der Supreme Court nur über die Zuständigkeit des amerikanischen Gerichts, das sich dann inhaltlich mit dem Fall befasst würde.

Sonstiges

Polizeistudie: Nach Berichten von taz (Konrad Litschko) und SZ, hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) eine auf drei Jahre angelegte Studie zum Polizeialltag in Auftrag gegeben. Die Studie mit dem Namen "Megavo – Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten" soll die benannten Themenkomplexe untersuchen. Die vielfach geforderte Studie zu Rassismus und Rechtsextremismus in der Polizei wird es nicht geben. Laut Kabinettsbeschluss soll es lediglich eine Studie zu Alltagsrassismus geben, bei der auch öffentliche Institutionen einbezogen werden.

AfD Sachsen: Die SZ (Sebastian Pittelkow/Katja Riedel/Ronen Steinke) schreibt, dass der sächsische Verfassungsschutz nun den Landesverband der AfD zum "Verdachtsfall" für Rechtextremismus hochstufte. Damit wird der Einsatz geheimdienstlicher Mittel wie Telefonüberwachung wahrscheinlicher. Wenn zu Jahresbeginn das Bundesamt für Verfassungsschutz seine Einstufung bekannt gibt, wird damit gerechnet, dass dann alle Verfassungsschutzämter gemeinsam die Bundes- und Landesverbände der AfD als "Verdachtsfall" beobachten. 

Online-Krankschreibungen: Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit per Video ist seit Juli 2020 in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses dauerhaft als Möglichkeit für eine Krankschreibung vorgesehen. Nun sollen laut Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Voraussetzungen für eine Krankschreibung weiter gelockert werden, wie die Rechtsanwälte Maximilian Koschker und Philipp Deuchler in einem Gastbeitrag auf LTO erläutern und kritisieren.

Historische Tonaufnahmen im Gericht: Original Mitschnitte der Prozesse um Auschwitz und Stammheim veröffentlicht der SWR RadioReportRecht (Gigi Deppe). Dabei geht es in der Sendung vor allem um das deutsche Verbot, Tonaufnahmen in Prozessen anzufertigen und die 2018 eingeführte Ausnahme des Verbots für historische Prozesse.

Das Letzte zum Schluss

AG Viersen zu Rapper Kollegah: Der Rapper Kollegah, mit bürgerlichem Namen Felix Blume, wurde vom Amtsgericht Viersen vom Vorwurf des unerlaubten Waffenbesitzes freigesprochen. Er hatte immer wieder beteuert, ihm gehöre die bei ihm im Auto gefundene Schreckschusswaffe nicht und er wissen auch nicht, wer sie dorthin gelegt habe. Das glaubte schließlich sogar die Staatsanwaltschaft und plädierte für Freispruch, wodurch der Skandalrapper wieder "etwas Vertrauen in die deutsche Justiz bekommen" habe, wie er selbst angibt, melden FAZ (Sebastian Eder) und spiegel.de.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ali

(Hinweis für Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

Sie können die tägliche lto-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren. 

 

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 9. Dezember 2020: Erhöhung des Rundfunkbeitrags gestoppt / EuGH zu Staatsanwaltschaft / Rodungs-Stopp bei Tesla . In: Legal Tribune Online, 09.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43677/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen