Die juristische Presseschau vom 3. Dezember 2020: Abmil­de­rung des Poli­zei­auf­ga­ben­ge­setzes / Mehr BVerfG-Belei­di­gungs-Beschlüsse / Sozialthe­rapie für Sexual­täter

03.12.2020

Die Bayerischen Regierungsfraktionen einigen sich auf deutliche Entschärfung des umstrittenen Polizeiaufgabengesetzes. BVerfG führt Beleidigungs-Rechtsprechung fort. Stellvertretende JVA-Leiterin zum Umgang mit Sexualstraftätern.

Thema des Tages

Bayerisches Polizeiaufgabengesetz: Das umstrittene bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG) soll wesentlich abgemildert werden. So sieht es die Novelle vor, auf die sich CSU und Freie Wähler am Dienstag einigten. So soll die Höchstdauer des präventiven Gewahrsams von bisher drei auf längstens einen Monat reduziert werden und das Recht auf einen Rechtsanwalt bei Ingewahrsamnahme eingeführt werden. Der Begriff der "drohenden Gefahr" soll präziser definiert werden. Einige Änderungen basieren dabei auf den Empfehlungen einer 2019 eingerichteten Expertenkommission. Im Februar soll die Gesetzesnovelle laut Regierungsfraktionen in den Landtag eingebracht werden und aller Voraussicht nach Mitte 2021 in Kraft treten. Es berichten die FAZ (Timo Frasch), die SZ (Johann Osel) und LTO.

Rechtspolitik

Jugendhilfe: Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf für die Reform der Kinder- und Jugendhilfe im Sozialgesetzbuch VIII auf den Weg gebracht. Im Kern soll das so genannte "Jugendstärkungsgesetz" einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen in Betreuungseinrichtungen und Heimen gewährleisten. Dieser Vorstoß geht auf die vielen Missbrauchsfälle zurück, in denen Jugendämter zu spät, fehlerhaft oder gar nicht handelten, so FAZ (Heike Schmoll), SZ und zeit.de.

Bundesfinanzhof: Beim Bundesfinanzhof fehlen derzeit sowohl eine Präsidentin als auch ein Vizepräsident. An dessen bereits beschlossenen Neubesetzung entzündet sich derzeit aber ein Streit zwischen dem Justizministerium und den Präsidenten der Bundesgerichte um die allgemeinen Kriterien der Personalauswahl, wie die FAZ (Corinna Budras) ausführlich schreibt. Kritisiert wird von letzteren vor allem, die Auswahl sei zu sehr geleitet von parteipolitischen Machtentscheidungen und gefährde damit den Rechtsstaat. 

Lieferketten und Menschenrechte: Die EU-Mitgliedstaaten haben sich darauf geeinigt, dass die Kommission einen Vorschlag zur Festlegung des EU-Rechtsrahmens für unternehmerische Sorgfaltspflichten in globalen Lieferketten erarbeiten soll, ähnlich dem derzeit auch in Deutschland diskutierten Entwurf eines Lieferkettengesetzes. Den Vorschlag, der laut LTO am Montag verabschiedet wurde, brachte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein.

Der Volksentscheid zur Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz ist knapp gescheitert. Doktorand Leonard Feld erläutert auf LTO, inwiefern die Schweizer Diskussion um ein Lieferkettengesetz auch Auswirkungen auf die Debatte in Deutschland haben könnte.

Weisungsrecht gegenüber Staatsanwaltschaften: Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Abschaffung des ministeriellen Weisungsrechts gegenüber deutschen Staatsanwaltschaften infolge des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen (EuBH), hat sich nun Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) gegenüber der SZ (Wolfgang Janisch) geäußert. Das umstrittene politische Weisungsrecht solle ausgeschlossen werden, wenn es um die EU-Zusammenarbeit in Strafsachen geht, plant Lambrecht laut SZ. Das Weisungsrecht für inländische Strafsachen soll weiterhin bestehen bleiben. Es bleibe abzuwarten, ob dieser Vorstoß wirklich in Einklang mit dem EuGH-Urteil steht, merkt der Autor an. 

Corona – Impfpflicht: Wolfgang Janisch (SZ) diskutiert, warum eine eventuelle Impfpflicht in Deutschland aus seiner Sicht eine Diskriminierung darstellen würde, ein wenig Druck aber nötig sein werde.

Menschenrechtsbericht: Die Bundesregierung hat ihren diesjährigen Menschenrechtsbericht veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass sich durch die Corona-Pandemie die Einschränkungen von Menschenrechten in vielen Ländern drastisch verschlimmern. Laut Hbl (Moritz Koch) und FAZ werden vor allem die schlechte Menschenrechtssituation in China und der Türkei im Bericht dargelegt.

Justiz

BVerfG zu Beleidigung: Zur Feststellung, ob es sich bei einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung um eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Beleidigung handelt oder nicht, müssen Gerichte grundsätzlich eine Güterabwägung im Einzelfall vornehmen. Das entschied das Bundesverfassungsgericht erneut, wie aus zwei am Montag veröffentlichten Beschlüssen hervorgeht. Damit führt das Gericht seine Rechtsprechung zum Spannungsverhältnis der Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten bei ehrverletzenden Äußerungen fort, erläutert LTO und berichtet über die zwei Entscheidungen.

LG Hamburg – G20-Ausschreitungen: Ab dem heutigen Donnerstag müssen sich vor dem Landgericht Hamburg die ersten fünf von insgesamt 76 Angeklagten zum sogenannten Rondenbarg-Komplex unter anderem wegen schwerem Landfriedensbruch verantworten. Dabei geht es um Proteste gegen den G20-Gipfel 2018 in Hamburg. Am Rondenbarg, einer Straße in Hamburg, ist es dabei zu Ausschreitungen gekommen, bei denen Demonstrierende und Polizisten teilweise schwer verletzt wurden. Den fünf damals minderjährigen Angeklagten wird vorgeworfen, dass sie von mitgeführten Steinen wussten und deren Einsatz gegen Polizisten billigten und allein durch das Mitmarschieren in einer geschlossenen Formation zu Tätern geworden seien. Laut ZEIT (Elke Spanner) und FAZ (Matthias Wyssuwa) ist diese Argumentation der Staatsanwaltschaft umstritten. Auswirkungen auf den Ausgang der Prozesse könnte auch ein Urteil des Bundesgerichtshofs zu den Ausschreitungen auf der Elbchaussee haben, sollte dieses in absehbarer Zeit gefällt werden. Im Elbchaussee-Fall argumentierte die Staatsanwaltschaft bereits ähnlich, alle Beteiligten legten jedoch Revision ein. 

EuGH zu subsidiärem Schutz: Im Verfassungsblog erläutert der wissenschaftliche Mitarbeiter Valentin Feneberg ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von Mitte November. Darin sprach sich der EuGH gegen die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und deutscher Oberverwaltungsgerichte aus. Diese sprachen syrischen Männern, die sich durch Flucht dem Militärdienst entzogen, lediglich subsidiären Schutz zu, was der EuGH für unrechtmäßig hielt. Feneberg befürchtet aber, die nun folgende obergerichtliche Rechtsprechung werde das EuGH-Urteil umgehen. 

LG Stuttgart zur "Windreich"-Insolvenz : Weil er die Insolvenz seines Windkraft-Entwicklungs-Unternehmens "Windreich" zu spät anmeldete, verurteilte das Landgericht Stuttgart den Unternehmer Willi Balz unter anderem wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung, Betrug und Insiderhandel zu viereinhalb Jahren Haft. "Windreich" war auf den Bau von Windkraftanlagen an Land und auf dem Meer spezialisiert und hatte 2013 Insolvenz angemeldet – über ein Jahr zu spät befand nun das Gericht. In dem 2019 begonnenen Prozess waren nach Berichten von Hbl (Martin Buchenau), FAZ (Oliver Schmale) und LTO ursprünglich acht Personen angeklagt, wobei gegen sieben von ihnen das Verfahren inzwischen eingestellt wurde.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Das Oberlandesgericht Frankfurt hat Akten des früheren Verteidigers des Hauptangeklagten Stephan Ernst sicherstellen lassen. Was mit den Akten passiert, soll am heutigen Donnerstag in der Verhandlung erläutert werden. Rechtsanwalt Frank Hannig war im Juli als Verteidiger von Ernst abberufen worden, nachdem er für Ernst Geständnisteile erfunden haben soll, schreibt LTO. Die Staatsanwaltschaft Kassel ermittelt deshalb gegen Hannig.

OLG Naumburg – Anschlag auf Synagoge: Im Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag auf eine Synagoge in Halle haben die Nebenkläger ihre Schlussvorträge fortgesetzt. Laut spiegel.de machte Anwältin Assia Lewin darin auch die Familie des Angeklagten Stephan Balliet für die Tat mitverantwortlich. Durch Wegsehen und Schweigen ließen die Eltern die Radikalisierung ihres Sohnes zu, wird die Anwältin zitiert.

ArbG Stuttgart zu Kurzarbeit: Auf LTO erläutern die Rechtsanwältinnen Olga Morasch und Ann-Kathrin Pongratz unter anderem, welche Voraussetzungen das Stuttgarter Arbeitsgericht zur Einführung von Kurzarbeit für betriebsratlose Unternehmen definiert hat. Das ArbG hatte mit seinem Urteil Ende Oktober zu Erleichterungen für Unternehmer bei der Einführung der Kurzarbeit geführt.

Recht in der Welt

Hongkong – Joshua Wong: Am gestrigen Mittwoch hat ein Hongkonger Gericht den 24 Jahre alten Demokratie-Aktivisten Joshua Wong wegen der Organisation unerlaubter Protestkundgebungen zu dreizehneinhalb Monaten Haft verurteilt. Die SZ (Lea Deuber), taz (Fabian Kretschmer) und FAZ (Friederike Böge) berichten, dies sei bereits die dritte Gefängnisstrafe für den Aktivisten Wong, der immer wieder Proteste gegen den wachsenden Einfluss Chinas in der Sonderverwaltungszone organisiert. Die mitangeklagten Aktivisten Agnes Chow und Ivan Lam wurden zu 10 und 7 Monaten Haft verurteilt.

Anstatt diese Verurteilungen zu kritisieren und China für sein trotz entgegenstehender internationaler Abkommen erlassenes Sicherheitsgesetz zu rügen, halte die EU weiter an den Plänen für ein gemeinsames Investitionsabkommen fest, bemängelt Lea Deuber (SZ).

China – MeToo-Bewegung: Ermutigt durch die MeToo-Bewegung reichte die inzwischen 27-jährige Zhou Xiaoxuan vor zwei Jahren wegen sexueller Belästigung Klage gegen einen der bekanntesten Moderatoren des chinesischen Staatsfernsehen ein. Sie stieß damit eine Diskussion an, die inzwischen sogar zur Einführung eines eigenständigen Straftatbestands der sexuellen Belästigung führte. Nun beginnt der Prozess gegen den Moderator vor einem Gericht in Peking. Es berichten die taz (Fabian Kretschmer) und die FAZ (Friederike Böge).

Slowakei – Mord an Kuciak: Das Oberste Gericht der Slowakei hat den Mörder des Investigativ-Journalisten Jan Kuciak und dessen Verlobter Martina Kusnirova zu 25 Jahren Haft verurteilt. Der 37-jährige Ex-Soldat Miroslav Marček soll den Mord mutmaßlich für den Unternehmer Marian Kocner ausgeführt haben, dem der Journalist bei zwielichtigen Geschäften auf die Schliche gekommen war. Über Kocners Verurteilung entscheidet die Berufungsinstanz Mitte Dezember, so taz (Alexandra Mostyn), deutschlandfunk.de und die FAZ (Stephan Löwenstein).

USA – Präsidentschaftswahl: Der US-Justizminister William Barr teilte Dienstagabend mit, es gebe keine Beweise auf einen systematischen Betrug bei den Präsidentschaftswahlen in den USA. Die Anwälte des noch amtierenden US-Präsidenten Trump wiesen laut Tsp Barrs Aussagen zurück und behaupteten das Gegenteil. Die FAZ (Majid Sattar) führt aus, wie Barr dennoch Trump den Rücken stärkt und die Untersuchungen in der Russland-Affäre für zukünftige Nachfolger im Justizministerium erschwert.

Annett Meiritz (Hbl) kommentiert, die Äußerung Barrs sei kein so starker Bruch mit Trump, wie es vielleicht wirken mag. Barr selbst sei es schließlich gewesen, der über Monate die Bedingungen der Wahl anzweifelte.

Sonstiges

Sexualstraftäter im Gefängnis: Wie Strafvollzug und Sozialtherapie zusammen funktionieren und warum es nötig sei dies auch zusammen zu denken beschreibt Jennifer Rybarczyk, stellvertretende Leiterin der Justizvollzugsanstalt (JVA) Siegburg in der ZEIT. Sexualstraftäter könnten nicht einfach weggesperrt werden, damit sei weder der Gesellschaft noch den Gefangenen geholfen, so Rybarczyk.

Englischer BGB-Kommentar: Zum Erscheinen der ersten englischsprachigen Kommentierung des Bürgerlichen Gesetzbuches interviewt beck.community (Tobias Fülbeck) die Herausgeber Gerhard Dannemann und Reiner Schulze zu ihrer Motivation und den Herausforderungen bei der Übersetzung.

Staat und Nation: In einem Interview in der temporären SZ-Rubrik "Werkstatt Demokratie" (Thomas Kirchner) spricht Verfassungsrechtler Alexander Thiele über den Staat als politische Ordnung, dessen Stärken und Schwächen und über die Kopplung von Nation und Staat, und begründet, warum er den Nationalstaat als gescheitert betrachtet.


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lto/ali

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 3. Dezember 2020: Abmilderung des Polizeiaufgabengesetzes / Mehr BVerfG-Beleidigungs-Beschlüsse / Sozialtherapie für Sexualtäter . In: Legal Tribune Online, 03.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43614/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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