Die juristische Presseschau vom 27. November 2020: Gesetz gegen Hass­kri­mi­na­lität im Netz / US-Drohnen und Ram­stein / Put­schis­ten­pro­zess in der Türkei

27.11.2020

Ein Reparaturgesetz soll Hatespeech-Gesetz und Bestandsdatenauskunft so ändern, dass sie verfassungskonform werden. Das Urteil zu US-Drohneneinsätzen ruft Kritik hervor. In der Türkei werden Hunderte Putschisten lebenslang eingesperrt.  

Thema des Tages

Hasskriminalität im Internet – Reparaturgesetz: Das Bundesinnenministerium (BMI) hat laut LTO (Annelie Kaufmann/Hasso Suliak) einen Gesetzentwurf vorgelegt, um die Bestandsdatenauskunft neu zu regeln und an einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von Mai dieses Jahres anzupassen. Dabei geht es um Kundendaten, deren Abfrage bei Telekommunikationsanbietern verschiedenen Sicherheitsbehörden des Bundes erlaubt werden soll. Mit dem Gesetz könnte auch der Weg frei werden für das bereits verabschiedete, aber noch nicht ausgefertigte Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität. Es baut auf die Regelungen zur Übermittlung und Abfrage von Bestandsdaten auf. Dem Entwurf des BMI zufolge soll auch das Hasskriminalitäts-Gesetz geändert werden, das noch gar nicht in Kraft getreten ist. Noch im Dezember soll das Gesetz durch den Bundestag gebracht werden, damit das Hasskriminalitäts-Gesetz zum 1. Januar 2021 in Kraft treten kann. 

Rechtspolitik

TKÜ und Verschlüsselung: zeit.de (Kai Biermann) berichtet über Pläne des Rates der Europäischen Union, Polizei und Geheimdiensten künftig Zugriff auf jede verschlüsselte Kommunikation von Messengerdiensten zu ermöglichen. Dazu könnten Kommunikationsdienstleister gezwungen werden, Spionageschnittstellen in ihre Messengerdienste und Kurznachrichtenapps einzubauen. Entsprechende Entschließungsanträge könnten vom Rat im Dezember angenommen werden. 

Verantwortungseigentum: In einem Gastbeitrag für die FAZ erläutert u.a. die Rechtsprofessorin Anne Sanders die Vorzüge des Verantwortungseigentums, einer neuen Form von Eigentum an Unternehmen, zu deren Einführung die Autorin einen Gesetzentwurf mitformuliert hat. Institutionalisiert würden mit dem Verantwortungseigentum fortwährende Selbständigkeit und ein treuhänderisches Eigentumsverständnis. Bislang seien Unternehmer auf komplexe gemeinnützige Stiftungsstrukturen angewiesen, obwohl die Stiftung für viele schlicht das falsche Instrument sei. 

Staatsangehörigkeit: In ihrem neuen Grundsatzprogramm setzen sich die Grünen dafür ein, die "vielfältige Einwanderungsgesellschaft als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern". Zudem setzen sie sich dafür ein, dass die Staatsangehörigkeit künftig durch Geburt im Inland erworben werden kann, wenn ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Diejenigen, die in Deutschland dauerhaft ihren Lebensmittelpunkt haben, sollen unter anderem die Möglichkeit erhalten, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen. Die Welt (Marcel Leubecher) stellt die Pläne vor. 

Personengesellschaften: Hbl-Rechtsboard (Ulrich Noack) stellt ausführlich den Referentenentwurf des Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts vor. 

Corona – Quarantäne bei Einreise: Die Welt (Kaja Klapsa/Ricarda Breyton) fragt nach den politischen Konsequenzen eines Urteils des Oberverwaltungsgerichts Münster aus der letzten Woche. Das Gericht hatte entschieden, dass eine generelle Quarantäne für Reiserückkehrer unverhältnismäßig ist, wenn in den Gebieten des jeweiligen Aufenthalts kein höheres Ansteckungsrisiko als hierzulande besteht. Das Bundesinnenministerium prüft nun, ob "das Verfahren zur Ausweisung von Risikogebieten angepasst werden sollte". Gegebenenfalls soll die Musterquarantäneverordnung angepasst werden.

Justiz

BVerwG zu US-Drohnen und Ramstein: Nun schreiben auch taz (Christian Rath) und LTO über das am Mittwoch ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu Schutzpflichten der Bundesrepublik im Zusammenhang mit Drohneneinsätzen der US-Armee, die über die Airbase Ramstein gesteuert werden. Das BVerwG hatte die Klage dreier Jemeniten gegen die Bundesregierung abgewiesen und das anderslautende Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster abgeändert.

In der taz kritisiert Rechtsanwalt Andreas Schüller vom European Center for Constitutional and Human Rights, das Urteil verkenne die Bedeutung der Grundrechte, insbesondere des Rechts auf Leben. Das Gericht trage nicht dazu bei, eine fortschreitende Erosion des Völkerrechts zu bremsen. Auch Rechtsanwalt Sebastian Runschke kritisiert auf verfassungsblog die Entscheidung. Das Gericht habe mit einer rechtlich fragwürdigen Begründung vermieden, in die Verlegenheit zu kommen, Völkerrecht entgegen den außenpolitischen Interessen der Bundesregierung durchsetzen zu müssen. 

BAG zu Entgelttransparenz: Rechtsanwalt Alexander Willemsen kritisiert auf LTO die Urteilsgründe eines im Juni ergangenen Urteils des Bundesarbeitsgerichts, wonach auch arbeitnehmerähnliche Personen in den Anwendungsbereich des Entgelttransparenzgesetzes fallen, obwohl der Wortlaut ausschließlich auf "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" Bezug nimmt. Dadurch werde – gestützt auf Unionsrecht – die Entwicklung hin zu einer "Begriffspluralität" im Arbeitsrecht fortgesetzt. Dieselben Begriffe hätten je nach Gesetzeskontext unterschiedliche Bedeutung. Dies erschwere die Rechtsanwendung. 

BSG zu Sperma-Konservierung: Einem Urteil des Bundessozialgerichts zufolge müssen Jobcenter nicht für die Konservierung von Sperma bei drohender Unfruchtbarkeit zahlen. Die Kosten stellten keinen Härtefall-Mehrbedarf darf, auch wenn sie nicht im Hartz-IV-Regelsatz berücksichtigt seien, so das Gericht laut spiegel.de

BFH zu Wohnungskauf: Der Bundesfinanzhof hat laut LTO entschieden, dass die Finanzgerichte nicht mehr die Arbeitshilfe des Bundesfinanzministeriums heranziehen dürfen, wenn es zwischen dem Finanzamt und dem Steuerzahlenden nach dem Wohnungskauf zum Streit darüber kommt, wie viel des Kaufpreises auf das Grundstück bzw. auf das Gebäude entfallen. Mit der Arbeitshilfe könnten die realen Verkehrswerte von Grund und Gebäude nicht ermittelt werden. 

OLG Hamm zu Unterlassungsstrafbarkeit: Der Vereinsvorsitzende eines Jugendhauses macht sich einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm zufolge nicht dadurch strafbar, dass er eine verbotene kurdische Abbildung an einem Rolladen des Vereinsgebäudes aus politischen Gründen nicht entfernt. Dem Vorstand komme generell keine Garantenstellung im Rahmen des ihm vorgeworfenen Unterlassungsdelikts zu. Dabei komme es nicht darauf an, ob er mit der Abbildung sympathisiere, denn die politische Haltung dürfe nicht über eine Unterlassungsstrafbarkeit entscheiden, so das Gericht laut LTO

OLG Düsseldorf zu VW-Dieselskandal: Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat eine Klage gegen VW wegen der Verwendung eines sog. Thermofensters bei Dieselfahrzeugen abgewiesen. Das Thermofenster, also eine Technik, durch die die Abgasreinigung nur innerhalb eines bestimmten Temperaturfensters funktioniert, begründe nicht ohne Weiteres ein sittenwidriges Handeln. Dazu müsse zumindest festgestellt werden, dass VW einen Verstoß gegen das Verbot einer Abschalteinrichtung billigend in Kauf genommen habe. Es berichtet LTO

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Im Verfahren um die Ermordung von Walter Lübcke hat am gestrigen Donnerstag ein Gehilfe des ehemaligen Anwalts des Angeklagten Stephan E. ausgesagt. Dabei ging es um die Rolle des Mitangeklagten Markus H. Sein Chef habe ihm im August 2019 mitgeteilt, dass E. nach eigener Aussage nicht alleine am Tatort gewesen sei. Er habe ihn beauftragt zu überprüfen, ob diese Angaben stimmen könnten. Der Name Markus H. sei immer mehr in den Fokus gerückt. Der ehemalige Verteidiger selbst war am Mittwoch offenbar krankenhausreif geschlagen worden, schreibt spiegel.de (Julia Jüttner). In Bezug auf die Messerattacke auf einen Iraker könnte der Verteidigung indessen die Entlastung gelungen sein, wie die FAZ (Marlene Grunert) zudem berichtet. Der Kaufbeleg eines Messers stammte von einem Zeitpunkt nach der Tat.

LG Düsseldorf – Patentstreit: Im Patentstreit zwischen Nokia und Daimler vor dem Düsseldorfer Landgericht hat das Gericht entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof einige Fragen zur Lizenzierung von sog. standardessentiellen Patenten innerhalb von mehrstufigen Zulieferketten vorzulegen. Es berichten Hbl (Franz Hubik) und LTO.

LG Aachen – erfundenes NSU-Opfer: Im Prozess um das erfundene NSU-Opfer hat die Verteidigung am gestrigen Donnerstag vor dem Landgericht Aachen Freispruch beantragt. Niemand habe es für möglich gehalten, dass eine Nebenklägerin erfunden werde, um Geld zu verdienen, auch der Angeklagte nicht. Dieser sei getäuscht worden. Auch in zwei weiteren Fällen der Anklage, die das Loveparade-Verfahren vor dem Landgericht Duisburg betreffen, habe der Angeklagte nicht in der Absicht gehandelt, zu betrügen. Über den Prozesstag schreiben spiegel.de (Wiebke Ramm) und LTO.

Recht in der Welt

Türkei – Putschversuch 2016: Nach dem Putschversuch in der Türkei hat ein Gericht nun Urteile gegen Hunderte Beteiligte gefällt. Insgesamt waren 475 Personen angeklagt. Das Gericht sprach unter anderem wegen "Umsturzversuchs", "Attentats auf den Präsidenten" und "vorsätzlicher Tötung" Strafen von bis zu 79-facher lebenslänglicher Haft unter erschwerten Bedingungen aus. 337 Angeklagte müssen in eine verschärfte lebenslange Haft, die jede Entlassung ausschließt. 75 Angeklagte wurden freigesprochen. Es berichten taz (Jürgen Gottschlich) und LTO

In einem gesonderten Kommentar meint Jürgen Gottschlich (taz), von vornherein sei klar gewesen, dass in diesem Verfahren niemand mit Gnade rechnen können würde. Mit einer unabhängigen Justiz habe es nichts zu tun gehabt. Seit dem Putschversuch seien neben der Justiz auch Legislative und Medien praktisch gleichgeschaltet worden. Nichts sei seitdem mehr wie es einmal war. 

Belgien – Terrorprozess gegen Iranischen Botschaftsrat: Die SZ (Ronen Steinke u.a.) schreibt über den am heutigen Freitag beginnenden Prozess gegen einen iranischen Botschaftsrat. Ihm wird zur Last gelegt, von Wien aus einen Anschlag in Frankreich geplant und Sprengstoff nach Europa geschafft zu haben. 

Norwegen/Slowakei – Justizreformen: In einem (englischsprachigen) Beitrag auf  dem Verfassungsblog schreiben die Juraprofessoren Peter Čuroš und Hans Petter Graver über Justizreformen in Norwegen und der Slowakei und ihren politischen Kontext. In beiden Ländern würde die Anzahl der erstinstanzlichen Gerichte künftig drastisch reduziert. Die Reformen seien jedoch mit denjenigen etwa in Ungarn oder Polen nicht vergleichbar, die die richterliche Unabhängigkeit zu untergraben suchten.

Sonstiges

AfD: Die SZ (Ronen Steinke) erläutert, welche Konsequenzen sich aus einer möglicherweise bevorstehenden Hochstufung der AfD zum sogenannten Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz ergeben würden. Die Partei dürfte dann mit heimlicher Überwachung und mit V-Leuten ausgeforscht werden. Alternativ könnte ein Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht angestrebt werden.

Deals im Strafprozess: swr.de (Elena Raddatz/Kolja Schwartz) befasst sich mit der Verständigung im Strafverfahren und stellt nun auch eine neue Studie vor. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass es weiterhin informelle Absprachen gebe. Richterinnen und Richter begründeten dies damit, dass die Regeln zu kompliziert seien und die Arbeitsbelastung zu groß.

Wissenschaft in der Corona-Pandemie: Der emeritierte Rechtsprofessor Horst Dreier erläutert in der FAZ den Einfluss der Wissenschaft in der Corona-Pandemie anhand der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Demokratie erfordere, dass Exekutive und Legislative nicht einfach Vollstrecker vermeintlicher Sachzwänge oder wissenschaftlicher Evidenzen seien. Auf der Stufe der Geeignetheit komme es nicht auf politische oder sonstige Wertungsfragen an, sondern allein auf Fachwissen und Expertise. Auch bei der Erforderlichkeit seien naturwissenschaftliche Erkenntnisse entscheidend, der Anteil politisch und gesellschaftlich wertender Aspekte nehme jedoch zu. Erst bei der Angemessenheit komme es zu einer Abwägung von Rechtsgütern. Dafür verfügten Virologie und Epidemiologie über keine wissenschaftliche Expertise und kein abrufbares Verfügungswissen. 

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/jng

(Hinweis für Journalisten)  

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 27. November 2020: Gesetz gegen Hasskriminalität im Netz / US-Drohnen und Ramstein / Putschistenprozess in der Türkei . In: Legal Tribune Online, 27.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43560/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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