Die juristische Presseschau vom 30. Oktober 2020: Ber­liner Mie­ten­sen­kung tritt zunächst in Kraft / Mehr Ver­ur­tei­lungen in Straf­ver­fahren / Neue Corona-Maß­nahmen

30.10.2020

BVerfG wies Eilantrag gegen die 2. Stufe des Berliner Mietendeckels ab. Erstmals seit Einführung der Strafverfolgungsstatistik wurden mehr Personen als im Vorjahr verurteilt. Die neuen Corona-Maßnahmen werden rechtlich eingeordnet.

Thema des Tages

BVerfG zu Mietendeckel Berlin: Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag gegen das Inkrafttreten der zweiten Stufe des Berliner Mietendeckels abgewiesen. Seit dem 23. Februar sind die Mieten von 1,5 Millionen Wohnungen in Berlin auf dem Stand von Juni 2019 eingefroren. Die Regelung ist zum einen umstritten, da unklar ist, ob sie per Landesgesetz eingeführt werden konnte. Zum anderen halten Vermieter sie für einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Eigentum. In der zweiten Stufe ab dem 23. November sollen überhöhte Mieten sogar abgesenkt werden. Eine Immobiliengesellschaft hatte dagegem beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Das Bundesverfassungsgericht konnte in Rahmen einer Folgenabwägung jedoch keine existenzbedrohenden Nachteile für die Berliner Vermieter erkennen, die eine Aussetzung des Gesetzes rechtfertigen könnten. Auch der Verwaltungsaufwand sei nicht besonders hoch. Sollte der Mietendeckel letztlich als verfassungswidrig eingestuft werden, könnten die abgesenkten Mietanteile nachgefordert werden. Es berichten taz.de (Christian Rath), FAZ, sueddeutsche.de und LTO.

Rechtspolitik

EU-Rechtsstaatlichkeit: Die FAZ (Thomas Gutschker) widmet sich den Verhandlungen zwischen dem Rat der EU und dem EU-Parlament zur Regelung eines Mechanismus, der Zahlungen an Mitgliedsstaaten einschränken soll, wenn diese gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Das im Sommer beschlossene EU-Finanzpaket von 1,8 Billionen Euro bleibt blockiert, solange die Frage der Rechtsstaatlichkeit noch offen ist. Es zeichnet sich nun ab, dass der Sanktionsmechanismus auch präventiv angewendet werden kann, nicht erst wenn es schon zur Verletzung finanzieller Interessen der EU gekommen ist. Außerdem soll eine Liste mit Tatbeständen eingeführt werden, die als Bruch der Rechtsstaatlichkeit gelten. Finanzielle Sanktionen sollen jedoch nur möglich sein, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten diesen aktiv zustimmt. Ungarn und Polen haben bereits angekündigt, diesen sich abzeichnenden Kompromiss abzulehnen. Eine weitere Verhandlungsrunde wird in den nächsten Wochen stattfinden.

Corona-Maßnahmen: Bundeskanzlerin Merkel hat in einer Regierungserklärung die neuen Anti-Corona-Maßnahmen verteidigt, die nach Umsetzung durch die Länder ab Montag gelten sollen. Auf spiegel.de (Alexander Preker) ist dazu ein Interview mit dem Jurist Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, zu lesen. Da momentan in 75 Prozent der Corona-Fälle nicht mehr nachvollziehbar sei, wo eine Ansteckung stattgefunden habe, könne die Politik freier entscheiden, an welche Adressaten sich die neuen einschränkenden Maßnahmen richteten. Buermeyer hält daher die vorgesehenen Maßnahmen für "gerade noch zu rechtfertigen". SZ (Wolfgang Janisch) und FAZ (Corinna Budras/Julia Löhr) warnen, dass die verschärften Corona-Regeln eine Klagewelle vor den Gerichten auslösen könnten. Der nun beschlossene breitflächige Ansatz zur Corona-Bekämpfung könnte jedoch leichter vor Gericht zu verteidigen sein als die schlecht begründeten Beherbergungsverbote. Dies liege vor allem daran, dass Merkels Regierungserklärung ein klar umrissenes Ziel und ein Gesamtkonzept präsentiere. Dies mache es Gerichten in zukünftigen Verfahren einfacher, auf die Einschätzungsprärogative der Exekutive zu verweisen. Wie Richter über die neuen Maßnahmen urteilen sollen, wenn keiner allein verantwortlich ist, "alle zusammen aber irgendwie schon", fragt sich auch Privatdozent Alexander Thiele bei LTO, der in dieser Unsicherheit signifikante verfassungsrechtliche Probleme sieht. Er rät zu mehr Begründung und Zieldefinitionen bei Erlass der Maßnahmen, am besten per Gesetz, und den Gerichten dazu, eine vertretbare Einschätzung des Gesetzgebers nicht durch eine eigene, ebenfalls vertretbare, zu ersetzen.*   

Corona – Infektionsschutzgesetz: Der Rechtsprofessor Christoph Degenhart kritisiert auf beck-aktuell den vom Bundesgesundheitsministerium vorgelegten Referentenentwurf für ein Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung, mit dem das Infektionsschutzgesetz geändert werden soll. Insbesondere dürfe es nicht zu einer unangemessenen Verstetigung der ursprünglich befristeten Sonder-Verordnungsbefugnisse des Bundesgesundheitsministeriums kommen. Zudem fehle eine Regelung der Voraussetzungen für eingriffsintensive Maßnahmen der Länder.

Virtuelle Hauptversammlungen: Das Bundesjustizministerium hat eine Regelung verlängert, die es Unternehmen ermöglicht, Hauptversammlungen ausschließlich virtuell abzuhalten, wie LTO berichtet. Die Regelung war ursprünglich bis Ende 2020 befristet. Nun wird es auch im nächsten Jahr für Unternehmen möglich sein, während der andauernden Corona-Pandemie auch ohne Versammlungsmöglichkeit Beschlussfassungen vorzunehmen.

Medienstaatsvertrag: Am Mittwoch hat Mecklenburg-Vorpommern als letztes Bundesland den Medienstaatsvertrag ratifiziert. Das Gesetz kann somit in Kraft treten. Die taz (Peter Weissenburger) beantwortet verschiedene Fragen rund um die neue Regelung, etwa was sich für private Nutzer, Content Creators, Start-up-Inhaber und barrierefreie Medien ändert.

Whistleblower: Auf dem Verfassungsblog beleuchten die wissenschaftlichen Mitarbeiter Robert Brockhaus, Simon Gerdemann und Christian Thönnes die Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie in nationales Recht. Sie warnen vor einer 1:1-Umsetzung der Richtlinie, die den verbesserten Schutz von Whistleblowern auf EU-spezifische Sachverhalte beschränkt. Dies würde zu einer "verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen führen und damit den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzen".

Justiz

BVerfG zu Meinungsfreiheit: Laut LTO hat das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde eines in Sicherheitsverwahrung befindlichen Mannes stattgegeben, der eine Mitarbeiterin einer Justizvollzugsanstalt als "Trulla" bezeichnet hatte und daraufhin vom Amtsgericht Schwalmstadt wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Die Äußerung des Mannes sei nicht als Schmähkritik einzuordnen, daher sei eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit nicht entbehrlich gewesen, habe jedoch in der Entscheidung des Amtsgerichts nicht stattgefunden.

BAG zum beA: Der Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln Martin W. Huff erläutert auf LTO einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, wonach ein Rechtsanwalt, wenn er einen Berufungsschriftsatz über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) mittels einer einfachen Signatur aus seinem eigenen Postfach heraus an das Berufungsgericht versendet, am Ende des Schriftsatzes klarmachen muss, dass er derjenige ist, der die Verantwortung für diesen Schriftsatz übernimmt. Dafür sei im Zweifel eine qualifizierte Signatur notwendig. Seit Beginn der Corona-Pandemie benutzten immer mehr Rechtsanwälte das beA für die Korrespondenz mit Gerichten.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Im Prozess um den Mord an Walter Lübcke vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. hat Ahmad I. ausgesagt. Stephan Ernst ist unter anderem auch wegen versuchten Mordes an Ahmad I. angeklagt, den er im Januar 2016 mit einem Messer angegriffen haben soll. Aufgrund der wirren Tatumstände bleiben die Beschreibungen des Täters von Ahmad I. als Opfer und einzigem Tatzeugen vage. Allerdings wurde in Ernsts Wohnung ein Messer mit DNA-Spuren gefunden, die zu Ahmad I. passen. Außerdem lag der Tatort in der Nähe von Ernsts Wohnung und Arbeitsplatz, zum Tatzeitpunkt hatte er Urlaub. FAZ (Marlene Grunert), taz (Konrad Litschko) und spiegel.de (Julia Jüttner) berichten.

Corona-Beschränkungen: Wie LTO berichtet, hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Sperrstunde und das Außer-Haus-Verkaufsverbot für Alkohol vorläufig außer Kraft gesetzt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe hingegen einen Eilbeschluss abgelehnt, die Sperrstundenregelung in Bayern vorläufig außer Vollzug zu setzen.

LG Frankfurt/M. zu Seenotrettung und Urheberrecht: Laut spiegel.de hat das Landgericht Frankfurt/M. entschieden, dass der ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini das Bild eines Besatzungsmitglieds des Schiffs der deutschen Seenotrettungsorganisation Mission-Lifeline in Deutschland vorläufig nicht mehr verwenden darf und die Kosten des Verfahrens trägt. Salvini hatte sich in einem Tweet über die Aktivisten lustig gemacht und ein Foto eines Besatzungsmitglieds veröffentlicht, ohne die Rechte daran zu besitzen.

LG Berlin zu Informationspflicht der Berliner S-Bahn: Das Landgericht Berlin hat entschieden, dass die Berliner S-Bahn GmbH, die vollständig zum Staatskonzern Deutsche Bahn gehört, im Hinblick auf Informationspflichten und Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit genauso zu behandeln sei wie eine staatliche Behörde, berichtet der Tsp (Jost Müller-Neuhof) in eigener Sache. Der Tagesspiegel hatte geklagt, nachdem die S-Bahn Presseanfragen zu Gewalttätigkeiten und Betrug von Fahrkartenkontrolleuren abgetan hatte. Das Gericht befand, die Kontrolleure würden letztlich durch die Steuerzahler finanziert, weswegen ein aus dem Grundgesetz abgeleiteter Informationsanspruch gegen die S-Bahn bestehe. Insbesondere dürfe keine "Flucht ins Privatrecht" möglich sein.

BAW – Marsalek als V-Mann: Laut SZ (Christoph Giesen u.a.) liegen der Bundesanwaltschaft Anhaltspunkte dafür vor, dass der flüchtige ehemalige Wirecard-Vorstand Jan Marsalek "von einem Mitarbeiter des österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) als Vertrauensperson geführt wurde". Der Verdacht, dass Marsalek auch Verbindungen zu anderen Geheimdiensten pflegte, hat sich bis jetzt jedoch noch nicht erhärtet.

Strafurteile: Erstmals, seit 2007 in allen Bundesländern die gerichtliche Strafverfolgungsstatistik eingeführt wurde, sind mehr Personen rechtskräftig verurteilt worden als im Vorjahr, wie die FAZ (Karin Truscheit) meldet. 2019 wurden mit rund 728.900 Verurteilten rund 2,3 Prozent mehr Personen verurteilt als noch 2018. Mehr als 40 Prozent aller Verurteilungen erfolgten wegen Eigentums- und Vermögensdelikten.

Recht in der Welt

USA – Stimmzettel: Der Supreme Court der USA hat entschieden, dass in zwei wichtigen Bundesstaaten per Post abgeschickte Stimmzettel, die erst nach dem Wahltag eintreffen, als gültig gezählt werden, wie FAZ (Majid Sattar) und LTO berichten. Aufgrund der bundesweiten Einsparungen bei der US-Post wird mit Verzögerungen im Ablauf der Briefwahl gerechnet. Wegen der Corona-Pandemie wählen mehr US-Amerikaner per Brief als sonst. Außerdem wählen laut Umfragen mehr Demokraten per Briefwahl als Republikaner.

Hongkong – Sicherheitsgesetz: Wie spiegel.de schreibt, wurde erstmals in Hongkong auf Grundlage des umstrittenen von China erlassenen Sicherheitsgesetzes eine Anklage erhoben. Dem angeklagten Aktivist Tony Chung wurde unter anderem Abspaltung vorgeworfen. Verstöße gegen das Sicherheitsgesetz können mit lebenslanger Haft bestraft werden. Das Gesetz stelle den seit Hongkongs Übergabe an China 1997 schwersten Eingriff in dessen Autonomiestatus dar.

Sonstiges

Ausstattung der Finanzbehörden: Laut SZ (Corinna Budras) hat der Bundesrechnungshof einen Sonderbericht zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs vorgestellt. Aufgrund von zu wenig Personal, veralteten Computern und mangelnder IT-Infrastruktur renne der Staat den Kriminellen hinterher. "Das Finanzministerium müsse die Finanzbehörden insbesondere digital aufrüsten", damit die deutschen Strafverfolger nicht den Anschluss verlören und Steuereinnahmen gesichert werden könnten.

BND und Attacke in Dresden: Wie die SZ (Florian Flade/Georg Mascolo/Ronen Steinke) schreibt, hatte der Bundesnachrichtendienst von einem ausländischen Nachrichtendienst schon vor einiger Zeit eine Warnung erhalten, dass Abdullah al-H. eine Gewalttat planen könnte. Al-H. soll am Abend des 4. Oktober in Dresden zwei Personen angegriffen und eine von ihnen getötet haben. Im BND und auch in der Bundesregierung wird es als Fehler der Behörde gewertet, dass die Warnung nicht weitergegeben wurde. In einem gesonderten Kommentar regt Ronen Steinke (SZ) an, dass der BND, um solche Fehler in Zukunft zu vermeiden, lieber in mehr oder bessere Mitarbeiter investieren solle, als lediglich in technische Aufrüstung.

Kartellverfahren gegen Amazon und Apple: Laut LTO hat das Bundeskartellamt ein Wettbewerbsverfahren gegen Amazon und Apple eingeleitet, um zu klären, "ob und inwieweit Amazon mit Markenherstellern zu Lasten von Dritthändlern kooperiert".

"Recht gegen rechts": Auf LTO (Markus Sehl) ist ein Interview mit der Anwältin und Mitherausgeberin des Reports "Recht gegen rechts" Kati Lang zu lesen. Das Buch vereint Beiträge, die auf Fehlstellungen im Recht aufmerksam machen und zeigen sollen, "wo Recht von rechts instrumentalisiert werde". Zudem soll die Zivilgesellschaft bestärkt werden, das Recht zu nutzen, um für Demokratie und Menschenrechte einzutreten. Der von nun an jährlich erscheinende Report versteht sich als "Gegenkommentar" zur Rechtsprechung.


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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ls

(Hinweis für Journalisten) 

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*Nachtrag am Tag der Veröffentlichung, 8:29 Uhr (pl)

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. Oktober 2020: Berliner Mietensenkung tritt zunächst in Kraft / Mehr Verurteilungen in Strafverfahren / Neue Corona-Maßnahmen . In: Legal Tribune Online, 30.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43265/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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