Die juristische Presseschau vom 23. Oktober 2020: Ab­trei­bungs­verbot in Polen / Neue Anklage gegen Hanno Berger / Ethik­rat debat­tiert Sui­zid­hilfe

23.10.2020

Das polnische Verfassungsgericht sorgt für ein faktisches Abtreibungsverbot in Polen. Die Staatsanwaltschaft Köln erhebt eine weitere Anklage gegen Hanno Berger wegen Cum-Ex-Geschäften. Der Ethikrat diskutiert über eine Neuregelung der Suizidhilfe.

Thema des Tages

Polen – Abtreibung: Das polnische Verfassungsgericht hat eine Ausnahmeregelung vom Abtreibungsverbot für verfassungswidrig erklärt, die Schwangerschaftsabbrüche erlaubt, wenn das ungeborene Kind schwere Fehlbildungen aufweist. Dies kommt laut SZ (Florian Hassel), zeit.de und spiegel.de einem generellen Abtreibungsverbot in Polen gleich, da fast alle der 1100 legalen Schwangerschaftsabbrüche, die im Jahr 2019 in Polen ausgeführten wurden, aufgrund der nun für rechtswidrig erklärten Ausnahme stattfanden. Mehrere der an dem Urteil beteiligten Richter stehen dem Parteichef der PiS-Regierung Jaroslaw Kaczynski nahe und gelten als nicht unabhängig.

Florian Hassel (SZ) nennt das Urteil einen Skandal zum Schaden polnischer Frauen. Es sei von einem "Marionettengericht" gesprochen worden und stelle ein Ablenkungsmanöver vor dem Hintergrund des explosionsartigen Anstiegs der Covid-19-Infizierten dar.

Rechtspolitik

Suizidhilfe/Sterbehilfe: Die FAZ (Heike Schmoll) berichtet über eine Anhörung des Ethikrates zu einer möglichen Neuregelung der Suizidhilfe, nachdem das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung im Februar aufgehoben hat. So habe die Kölner Strafrechtsprofessorin Frauke Rostalski für eine beschränkte Freigabe der aktiven Sterbehilfe plädiert. Sie solle von einem neuen Straftatbestand der "unerlaubten Förderung oder Veranlassung" einer Selbsttötung oder einer Tötung auf Verlangen flankiert werden. 

Homeoffice: Die FAZ (Dietrich Creutzburg) berichtet über Kritik an dem vom Bundesarbeitsministerium vorgelegten Gesetzentwurf zum "Recht auf Homeoffice". Ihm werde vorgeworfen, durch die Hintertür eine verschärfte Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit zu etablieren und damit die Vertrauensarbeitszeit abzuschaffen.

Kindesmissbrauch: Über den vom Bundeskabinett am Mittwoch beschlossenen Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder berichtet nun auch LTO (Annelie Kaufmann). Der bisherige Straftatbestand des Sexuellen Missbrauchs von Kindern heiße künftig "Sexualisierte Gewalt gegen Kinder", sein Grundtatbestand gilt mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr als Verbrechen. Der Gesetzentwurf enthält auch Regelungen, die insbesondere eine bessere Qualifikation von Familienrichtern, Jugendrichtern und Verfahrensbeiständen sicherstellen sollen. Küsse zwischen etwa gleich alten Teenagern sollen straflos sein, auch wenn einer unter 14 Jahren ist.

Justiz

LG Bonn – Cum-Ex: Die Staatsanwaltschaft Köln hat eine Anklage gegen den Steueranwalt Hanno Berger wegen dessen Verwicklung in die Cum-Ex-Geschäfte zum Landgericht Bonn eingereicht. Berger soll als Berater der Hamburger Privatbank Warburg in den Jahren 2007 bis 2011 Aktiengeschäfte auf den Weg gebracht haben, durch die dem Staat Einnahmen in Höhe von etwa 280 Millionen Euro entgingen. Der Beschuldigte, der sich ab Januar 2021 in einem weiteren Prozess auch vor dem Landgericht Wiesbaden verantworten soll, lebt jedoch in der Schweiz und wird sich dem Prozess nach Einschätzung vieler Beobachter entziehen, berichten SZ (Klaus Ott/Jan Willmroth), FAZ (Marcus Jung), Hbl (René Bender/Volker Votsmeier) und tagesschau.de (Massimo Bognanni)

BVerwG zu DIHK: Das Hbl (Heike Angerer/Donata Riedel) berichtet über die Folgen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts, wonach ein Mitglied einer Industrie- und Handelskammer den Austritt aus dem Dachverband DIHK verlangen kann, wenn sich dieser allgemeinpolitisch und nicht nur zu wirtschaftlichen Fragen äußert. Nun stünden viele Kammern auch anderer Berufsgruppen vor der Frage, was sie noch sagen könnten. Der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, Ulrich Wessel, wird mit der Äußerung zitiert, die Situation der BRAK unterscheide sich vom DIHK, man sei sich aber bewusst, dass man kein allgemeines politisches Mandat habe. 

Donata Riedel (Hbl) kritisiert das Urteil des BVerwG scharf: Die Richter richteten mehr Schaden als Nutzen an, da sie mit ihren engen Vorgaben politische Äußerungen der Kammern de facto verbieten würden. Nun sei der Gesetzgeber gefragt, da ein derart weltfremdes Urteil keinen Bestand haben dürfe.

BVerfG zu Beherbergungsverbot: Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag gegen das Beherbergungsverbot in Schleswig-Holstein wegen unzureichender Begründung als unzulässig abgewiesen. Die Antragsteller hätten sich weder vertieft mit den Regelungen selbst noch mit den Argumenten, die für und gegen ein sachlich und zeitlich beschränktes Beherbergungsverbot sprechen, auseinandergesetzt, so LTO, tagesschau.de (Klaus Hempel) und spiegel.de

tagesschau.de (Christoph Kehlbach/Felix Schwind) erläutert vor diesem Hintergrund das Recht auf Freizügigkeit und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat sich das Gericht der ebenfalls angeklagten zweiten Tat zugewandt, einem Messerangriff auf einen irakischen Flüchtling im Januar 2016. Der heute 27 Jahre alte Mann erlitt längere Verletzungen und ist heute arbeitsunfähig. Im Haus des Beschuldigten Stephan E., der die Tat bestreitet, wurde zwar ein Messer mit geringen DNA-Rückständen gefunden, jedoch konnte ein Gutachter keinen wissenschaftlich genauen Prozentsatz angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie vom Tatopfer stammen. Es berichtet SZ (Annette Ramelsberger)

BSG zu erschwindelter Rente: Ein Versicherungsträger kann mehr als zehn Jahre nach Ablauf der Bewilligung einer falsch berechneten Rente kein Geld mehr zurückfordern, auch wenn sie erschwindelt worden ist. Diese Entscheidung des Bundessozialgerichts meldet beck-aktuell im Fall einer Witwe, deren Mann dem Rentenversicherer eine Verletztenrente verschwiegen hatte, die eigentlich auf seine Altersrente anzurechnen gewesen wäre. Zwar sei der Altersrentenbescheid damit im Hinblick auf die Zahlbetragsfestsetzung von Anfang an rechtswidrig gewesen, jedoch sei die in § 45 Abs. 3 SGB X festgelegte Frist, innerhalb derer ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden könne, im vorliegenden Fall abgelaufen. 

EGMR zu Leibesvisitation: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat einem Häftling aus Bayern wegen wiederholter Leibesvisitationen einen Schadensersatz von 12.000 Euro zugesprochen, meldet SZ. Das Gericht befand, dass die Prozeduren in der Justizvollzugsanstalt Straubing, bei denen sich der Gefangene ohne konkreten Anlass ausziehen musste und rektal durchsucht wurde, gegen das Verbot erniedrigender Behandlung verstießen.

VG Düsseldorf zu Polizei-Chat: Das Düsseldorfer Verwaltungsgericht hat einer Polizeibeamtin, der die Teilnahme an einer rechtsextremen Chat-Gruppe vorgeworfen war, im Eilverfahren Recht geben und ihre Suspendierung ausgesetzt, melden SZ (Christian Wernicke) und LTO. Das zuständige Landesamt habe offenbar nicht erkannt, dass es sich bei der beanstandeten Bild-Datei tatsächlich um eine Parodie handelte, mit der Hitler verspottet werde. Überdies könne aus der bloßen Mitgliedschaft der Polizistin in der WhatsApp-Gruppe nicht ohne Weiteres darauf geschlossen werden, dass sie das Bild auch zur Kenntnis genommen habe, da das Amt nicht die Häufigkeit und die Frequenz des Nachrichtenaustauschs oder etwaige Reaktionen der Antragstellerin hierauf offengelegt habe. 

LG München I zu Corona und Versicherung: Das Landgericht München I hat einer Münchener Gaststätte eine Entschädigung von 427.000 Euro für die coronabedingte Betriebsschließung gegen ihre Versicherung zugesprochen. Die Klausel, mit der die Versicherung ihren Leistungsumfang einschränken wollte, sei intransparent und daher unwirksam, so LTO. Der Anspruch des Wirts sei auch nicht wegen staatlicher Hilfen oder Kurzarbeitergeld zu mindern, da es sich bei diesen nicht um Schadensersatzzahlungen für die Betriebsschließung handele. 

VerfGH Berlin – Mietendeckel: Der Verfassungsgerichtshof Berlin hat das Normenkontrollverfahren zum Mietendeckel ausgesetzt, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes abzuwarten. Dies melden taz (Bert Schulz) und LTO. Fraglich ist insbesondere, ob das Land Berlin die erforderliche Gesetzgebungskompetenz hat und ob der Eingriff in das Eigentumsgrundrecht der Vermieter verhältnismäßig ist. Eine Entscheidung aus Karlsruhe wird im ersten Halbjahr 2021 erwartet.

BAW – Dresdner Messerangriff: Die Messerattacke eines zwanzigjährigen Syrers in Dresdnen lässt Reinhard Müller (FAZ) die Frage nach der staatlichen Mitverantwortung stellen, da der Tatverdächtige als Gefährder galt und sogar am Tag der Tat observiert worden sei. Die Bundesanwaltschaft gehe mit guten Gründen von einem radikalen islamistischen Hintergrund aus. 

StA Bayreuth – Peggy: 19 Jahre nach dem Verschwinden der damals neunjährigen Peggy aus Oberfranken hat die Staatsanwaltschaft Bayreuth das Ermittlungsverfahren eingestellt. Wie FAZ (Karin Truscheit), SZ (Clara Lipkowski) und LTO berichten, hatte vor zwei Jahren ein Mann angegeben, er habe das leblose Kind von einem Mann übernommen und in den Wald gebracht, jedoch bestritten, Peggy getötet zu haben. Die Informationen reichen laut Staatsanwaltschaft nicht für eine Mord-Anklage aus, da etwa die Todesursache anhand der sterblichen Überreste nicht mehr ermittelt werden könne. Andere Anklagepunkte wie Strafvereitelung seien verjährt und könnten nicht mehr zur Anklage gebracht werden.

LG Oldenburg – Kindesmisshandlung: In einem Verfahren wegen Kindesmisshandlung vor dem Landgericht Oldenburg soll ein Staatsanwalt nach Meldung von LTO als Strafmilderungsgrund das Bibelzitat "Wer sein Kind liebt, der züchtigt es" angeführt haben. Auch habe er auf die Ansicht von Papst Franziskus verwiesen, nach der es in Ordnung sei, wenn man seine Kinder würdevoll schlage. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft räumte die Aussage ein und distanzierte sich von ihr; sie sei Gegenstand einer internen Aufarbeitung.

VG Hannover zu Nationalität von Tatverdächtigen: Das Verwaltungsgericht Hannover hat entschieden, dass die dortige Polizeidirektion einem Journalisten die Staatsangehörigkeit eines Beschuldigten mitteilen muss, der an einem Unfall nach einem Autorennen beteiligt war. Laut Gericht diene die Auskunft der Erfüllung einer "öffentlichen Aufgabe" im Sinne des niedersächsischen Pressegesetzes. Die Entscheidung erging im Eilverfahren, berichtet LTO

Recht in der Welt

USA – Bader-Ginsburg-Nachfolge: Der Justizausschuss des US-Senats hat der Ernennung von Amy Coney Barrett zur Supreme-Court-Richterin zugestimmt. Alle zwölf republikanischen Mitglieder stimmten dafür, die zehn Demokraten blieben der Abstimmung aus Protest gegen die Nominierung Barretts so kurz vor der Präsidentenwahl am 3. November fern. Die endgültige Abstimmung des Senats über Barrett wird nun für kommenden Montag erwartet, so zeit.de

USA – Google und Kartellrecht: Über die Kartellklage des US-Justizministeriums gegen Google berichten nun auch Welt (Benedikt Fuest) und netzpolitik.org. In der Klage, der sich ein knappes Dutzend Bundesstaaten angeschlossen haben, heißt es, der Suchmaschinenanbieter habe seine Marktmacht missbraucht und damit Verbrauchern geschadet.

Großbritannien – Boris-Becker-Insolvenz: In London hat der Prozess gegen den ehemaligen Tennisprofi Boris Becker wegen Insolvenzverschleppung begonnen. Er soll u.a. Immobilien, Bankguthaben ebenso wie Pokale und Trophäen vor dem Insolvenzverwalter verborgen haben, beteuerte vor Gericht jedoch seine Unschuld, meldet u.a. spiegel.de.

IAGMR – Amtsperioden: Der inter-amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte wird in den nächsten Monaten ein Rechtsgutachten über die Frage verfassen, ob es ein Menschenrecht gibt, unbegrenzt häufig zur Wiederwahl zum Präsidentenamt anzutreten. Daniel Cerqueira erläutert die Hintergründe des Verfahrens auf dem Verfassungsblog in englischer Sprache und spricht sich gegen ein solches Recht aus. Zu Grunde liegen Entscheidungen der höchsten Gerichte von Honduras und Bolivien in den Jahren 2015 und 2017, die ein solches Recht angenommen hatten und entsprechende Verbote in den Landesverfassungen aufgehoben hatten. 

Türkei – Verfassungsgericht: Die Welt (Deniz Yücel) beleuchtet die zunehmenden Angriffe auf das türkische Verfassungsgericht. So habe eine Istanbuler Strafkammer sich geweigert, ein Urteil des Verfassungsgerichts umzusetzen, nach dem ein Strafprozess gegen einen Oppositionellen neu aufgerollt werden müsse. Es spreche vieles dafür, dass die Strafkammer dabei politischen Anweisungen folge und sich wegen der offensichtlichen Rechtsbeugung keine Sorgen machen müsse. 

Sonstiges

Kanzlei und Elternschaft: Im Interview mit LTO (Tanja Podolski) berichtet die Rechtsanwältin Cornelia Oster, wie sie die Arbeit als Rechtsanwältin mit dem Alltag als Mutter verbindet. Nötig seien eine hohe Flexibilität und Organisation, Backups sowie die Fähigkeit, zu delegieren. Ganz praktisch empfehle sie, frühzeitig die Steuerklasse zu ändern, die Kinderbetreuung zu organisieren und eventuell noch laufende Fachanwaltsfortbildungen abzuschließen, da für deren Abschluss nur das Zeitfenster eines Jahres bleibe.

Rechtsstaat Deutschland: Das Hbl (Klaus Stratmann) rezensiert ein Buch des Managers Utz Claassen und des Juristen Ralph Guise-Rübe, in dem diese die Überforderung des deutschen Rechtsstaats anprangern. Zwar gebe es hier tatsächlich Mängel, jedoch sei das Buch über Gebühr alarmistisch. Die Autoren erschienen ergriffen, "ein bisschen auch von sich selbst".

Transfergesellschaften: Im Handelsblatt-Rechtsboard erläutert Rechtsanwalt Markus Diepold das Instrument der Transfergesellschaft. Ihre Aufgabe sei es, von der Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Werde die Transfergesellschaft von der Agentur für Arbeit gefördert, setze sich die Vergütung des Arbeitnehmers aus einem Transferkurzarbeitergeld und in der Regel einem Aufstockungsbeitrag des früheren Arbeitgebers zusammen, was üblicherweise zu einer Vergütung von ca. 75-85 % des ehemaligen regelmäßigen Nettoentgelts führe.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mps

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 23. Oktober 2020: Abtreibungsverbot in Polen / Neue Anklage gegen Hanno Berger / Ethikrat debattiert Suizidhilfe . In: Legal Tribune Online, 23.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43191/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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